ZEITFÜRGESCHICHTE
Vor 75 Jahren befreit: Doch es war nicht nur Auschwitz …
„Ich bin allzeit, das beweisen die Kämpfe seit meiner Kindheit und Jugend, das beweist jeder Tag meines Lebens, eine Kämpferin für das Recht und die Ehre des Judentums gewesen. Ich habe auch nicht […] mein Judentum wie [Heinrich] Heine als ein Unglück empfunden. Oh nein! […] Ich war nicht nur Jüdin, ich war zuerst und vor allen Dingen Deutsche. Das konnte gar nicht anders sein. Meine Vorfahren saßen jahrhundertlang auf deutschem Boden und waren von deutscher Kultur und deutschen Urkräften durchdrungen. Ich selbst war bewusst deutsch, bevor ich noch etwas vom Judentum wusste“.
„Die Gemeinde hatte sich in zwei Gruppen geteilt, die einen waren in ihren Häusern geblieben, die anderen zum Bischof geflüchtet. Da erhoben sich die ,Steppenwölfe‘ [die Kreuzfahrer] wider die Daheimgebliebenen und plünderten sie aus, Männer, Frauen und Kinder, jung und alt. Sie brachten die Wohntürme zum Einsturz und zerstörten die Häuser. Sie nahmen die Torarolle und traten sie in den Schmutz, zerrissen und verbrannten sie […]. An die achthundert betrug die Anzahl der Getöteten […] und alle wurden nackt zu Grabe gebracht“.
„Als Jude war man geboren, und als Deutscher wurde man erzogen. Heute – nach der von Deutschland aus betriebenen größten Judenverfolgung aller Zeiten – fragt man sich, war es ein Gegensatz oder war es keiner? […] Unter dem Kaiser […] glaubte die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden nicht an einen Gegensatz. Es galt, wie man sich das vorstellte, die Reste des Mittelalters abzuwerfen. Die Liebe zur Heimat war völlig echt, die Idee der Nation religiös neutral. […] Warum z. B. in einem Schwarzwaldkurort norddeutsche Kinder, mit denen man heute gespielt und einen Ausflug unternommen hatte, am nächsten Morgen davon nichts mehr zu wissen schienen und nach kurzem Gruß in die Luft guckten, blieb als Frage offen“.
„Wir wollen zwar nicht leugnen, dass manchem unter uns die Vorwürfe von Betrug beim Handeln und Faulheit beim Arbeiten recht vorzüglich treffen! Wir glauben aber, dass die Menschen im ganzen betrachtet mit gleichen Neigungen, Anlagen und Fähigkeiten geboren werden […]. Aber solange wir von Ackerbau und Handwerk und von allen andern rechtmäßigen Erwerbsarten ausgeschlossen und auf den Handel eingeschränkt sind, müssen unsere Neigungen und Fähigkeiten auch eine einseitige Richtung nehmen und können nie so veredelt und ausgebildet werden wie bei den Christen, denen jeder Weg zum Erwerb offen steht“.
„Die Gruben waren 24 m lang und ungefähr 3 m breit, [die Juden] mussten sich hinlegen wie die Sardinen in einer Büchse, Köpfe nach der Mitte. Oben sechs Maschinenpistolenschützen, die dann den Genickschuss beibrachten. Wie ich kam, war sie schon voll, da mussten die Lebenden also dann sich drauflegen, und dann kriegten sie den Schuss; damit nicht so viel Platz verloren ging, mussten sie sich schön schichten. Vorher wurden sie aber ausgeplündert an der einen Station – hier war der Waldrand, hier waren die drei Gruben an dem Sonntag, und hier war noch eine 1½ km lange Schlange, und die rückte schrittchenweise – es war ein Anstehen auf den Tod. Wenn sie hier nun näher kamen, dann sahen sie, was drin vor sich ging. Ungefähr hier unten mussten sie ihre Schmucksachen und ihre Koffer abgeben. […] Das war zur Bekleidung von unserem notleidenden Volk – und dann, ein Stückchen weiter, mussten sie sich ausziehen und 500 m vor dem Wald vollkommen ausziehen, durften nur Hemd und Schlüpfer anbehalten. Das waren alles nur Frauen und kleine Kinder, so 2jährige. Dann diese zynischen Bemerkungen! Wenn ich noch gesehen hätte, dass diese Maschinenpistolenschützen, die wegen Überanstrengung alle Stunden abgelöst wurden, es widerwillig gemacht hätten! Nein, dreckige Bemerkungen: ,Da kommt ja so eine jüdische Schönheit.‘ Das sehe ich noch vor meinem geistigen Auge. Ein hübsches Frauenzimmer in so einem feuerroten Hemd. Und von wegen Rassenreinheit: In Riga haben sie zuerst rumgevögelt und dann totgeschossen, dass sie nicht mehr reden konnten“.
„Die Zahl der Juden in Westeuropa ist so gering, dass sie einen fühlbaren Einfluß auf die nationale Gesinnung [in Deutschland] nicht ausüben können, über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer, hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können. […] Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens […]. Am Gefährlichsten aber wirkt das unbillige Uebergewicht des Judenthums in der Tagespresse – eine verhängnißvolle Folge unserer engherzigen alten Gesetze, die den Israeliten den Zugang zu den meisten gelehrten Berufen versagten. Ueberblickt man alle diese Verhältnisse […] so erscheint die laute Agitation des Augenblicks doch nur als eine brutale und gehässige, aber natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen hat“.
„Das ganze Gerede von der angeblichen Mehrheit ist wirkungslos, wenn man feststellt, dass der Schreihals im Anne-Frank-T-Shirt auf dem Marktplatz auftaucht, und die einzigen, die sich ihm entgegenstellen, sind die antifaschistischen Leute, die ich seit Jahren persönlich kenne. Der Großteil der Gesellschaft geht daran vorbei und stört sich nicht an missbrauchten Judensternen. Am Ende muss die Minderheit auch für sich selbst einstehen können“.
„,Dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. […] Dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. […] Dass man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten […]. Will das nicht helfen, müssen wir sie wie die tollen Hunde ausjagen […]. Pfui euch hie, pfui euch dort, und wo ihr seid, ihr verdammten Juden, dass ihr die ernsten, herrlichen, tröstlichen Worte Gottes so schändlich auf euern sterblichen, madigen Geizwanst [zu] ziehen düret [= wagt] und schämet euch nicht, euern Geiz so gröblich an den Tag zu geben! Seid ihr doch nicht wert, dass ihr die Biblia von außen sollet ansehen, [ge]schweige dass ihr drinnen lesen sollet! Ihr solltet allein die Biblia lesen, die der Sau unter dem Schwanz stehet, und die Buchstaben, die daselbst herausfallen, fressen und saufen‘“.
„Hier oben sieht man so viele Strafgefangenenlager, die Bauarbeiten und noch so verschiedenes machen. Juden kommen hier, das heißt in Auschwitz, wöchentlich 7-8000 an, die nach kurzem den ,Heldentod‘ sterben. Es ist doch gut, wenn man einmal in der Welt umher kommt…“
„Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf“.
Gewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten. Eine Ungerechtigkeit ist wie ein Sandkorn in der Hand, man spürt ihr Gewicht nicht. Doch Ungerechtigkeiten neigen dazu, sich zu vermehren, es werden mehr und mehr, und bald werden sie so schwer, dass du sie nicht länger tragen kannst. Und nach einiger Zeit wird trotzdem die nächste Ungerechtigkeit kommen“.
Auschwitz als Synonym für den Holocaust | Mit diesen Worten fasste Hédi Fried in ihrem 2019 erschienenen Buch „Fragen, die mir [von Schülerinnen und Schülern] zum Holocaust gestellt werden“, „eine der Lehren aus dem Holocaust“ zusammen. Als 19-Jährige war Hédi Fried, die heute in Schweden lebt, zusammen mit ihrer Familie am 15. Mai 1944 aus dem zwei Monate zuvor von deutschen Truppen besetzten Ungarn in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden. „Die wenigen, die nach Ankunft als arbeitsfähig taxiert und nicht gleich ins Gas geschickt und sodann verbrannt wurden, hatten Sklavenarbeit zu verrichten. Sie erlagen“, so fasste die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am 25. Januar 2020 das ungeheuerliche Geschehen zusammen, „mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankheit, Unterernährung, Erschöpfung, Misshandlung oder medizinischen Experimenten. Der Phantasie des Tötens waren in Auschwitz keine Grenzen gesetzt“. „Auschwitz begreifen zu wollen“, überschrieb die NZZ ihren Artikel, „gleicht dem Versuch, offenen Auges in die Sonne zu starren“. Angesichts der alle rationale und emotionale menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Monstrosität des in Auschwitz verübten „,industriellen Massenmords‘“ (Frank Bajohr, 2015) mag der von der Holocaust-Überlebenden Hédi Fried vergleichsweise milde formulierte und an Schülerinnen und Schüler gerichtete Appell „Gewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten“ überraschen. Die „Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen“ (Micha Brumlik, 2015, und bereits Jürgen Habermas im Jahr 1986), und der damit verbundene ungeheuerliche Zivilisationsbruch in Form des Holocaust ist die deutsche „Jahrhundertschuld“ (Thomas Schmid, 2020). Auschwitz ist, so der Historiker Götz Aly (2020) der „Tiefpunkt der deutschen Geschichte“, „das Synonym“, wie es auf der Internetseite der Landeszentrale für politische Bildung Baden- Württemberg heißt,
„für den Massenmord der Nazis an Juden, Sinti und Roma und anderen Verfolgten. Auschwitz ist Ausdruck des Rassenwahns und das Kainsmal der deutschen Geschichte. Der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz, ist daher kein Feiertag im üblichen Sinn. Er ist ein ,DenkTag‘: Gedenken und Nachdenken über die Vergangenheit schaffen Orientierung für die Zukunft. Die beste Versicherung gegen Völkerhass, Totalitarismus, Faschismus und Nationalsozialismus ist und bleibt die Erinnerung an und die aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte. 2020 jährt[e] sich die Befreiung des KZ Auschwitz zum 75. Mal. 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz beobachten wir ein Wiedererstarken des Antisemitismus in Deutschland und eine Zunahme antisemitischer Gewalttaten. Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit den bedrückendsten Wahrheiten unserer Geschichte besonders gefordert“.
Ungerechtigkeiten im Keim ersticken | Was könnte Hédi Fried mit ihrem an Schülerinnen und Schüler gerichteten Appell „Gewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten“ bezwecken? Die meisten der oben abgedruckten Texte (1–10) sind in ein äußerst weit gestrecktes Spektrum einzuordnen. Es reicht von vermeintlich nicht schwer wiegenden „Ungerechtigkeiten“ bis hin zu schlimmsten Grausamkeiten bzw. Mordtaten: Jüdische und „deutsche“ Kinder dürfen von einem auf den anderen Tag nicht mehr miteinander spielen, Menschen jüdischen Glaubens werden dazu aufgefordert, „sich schlicht und recht als Deutsche“ zu fühlen, Juden werden massiv beschimpft, die Torarolle wird ihnen weggenommen und anschließend verbrannt, Frauen werden vergewaltigt, Juden werden zum „Anstehen auf den Tod“ gezwungen und ermordet.
Was Hédi Fried als „Ungerechtigkeit“ in der Größe und im Gewicht eines Sandkorns bezeichnet, fängt im Kleinsten an. In der 2019 erschienenen Studie „Verlorene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19“ stellten Beate Küpper und Andreas Zick fest:
„Antisemitismus beginnt im ,Andersmachen’ und ,Andersgemacht- Werden’, einem in der Forschung benannten ,Othering’, wenn beispielsweise von ,Deutschen’ und ,Juden’ gesprochen wird, als wenn Jüdinnen und Juden keine Deutschen wären bzw. sein sollten. Antisemitismus äußert sich in beiläufigen Bemerkungen, Distanzierung, Diskriminierung, (durchaus auch ungewollt, aber eben auch ohne nachzudenken […]). Im äußersten Fall mündet der Antisemitismus in Verfolgung, Vernichtung, Genozid“.
Die von Hédi Fried bewusst vorgenommene Reduktion auf ein „Sandkorn“, das dazu neigt sich zu vermehren, beschreibt das, was einem Menschen in keiner Epoche jemals zustoßen darf und was in unserer heutigen freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverrückbarer Wert an erster Stelle steht: Niemals dürfen auch nur ansatzweise die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte verletzt oder sogar außer Kraft gesetzt werden.
Doch wo beginnt eine vermeintlich harmlose, kaum wahrnehmbare „Ungerechtigkeit“ und ab welchem Punkt schlägt sie in mörderische Monstrosität um? Die oben versammelten Zitate, die vom Mittelalter bis in unsere Gegenwart reichen, können hierüber in vielfacher Weise Auskunft geben. Was ihre historische Chronologie betrifft, sind die Texte absichtlich wie in einem Kaleidoskop durcheinandergewürfelt, denn es gibt, so die in Frankfurt am Main beheimatete Kommission des Leo Baeck Instituts zur Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte (2011), „keine kontinuierliche Verfolgung der Juden von den Kreuzzügen [1095 Aufruf zum ersten Kreuzzug in Clermont-Ferrand] bis zum Nationalsozialismus [1933–1945]“: „Die Juden waren im Verlauf der Geschichte nicht nur Objekte, Verfolgte und Opfer, sondern auch Subjekte, d. h. aktive Bürger und kreative Gestalter von Kultur, Wirtschaft und Geschichte in Europa“.
Eine emanzipierte Frau | Im ersten Text spricht mit Henriette Fürth (1861–1938) eine selbstbewusste Frau, die zusammen mit der Jüdin Bertha Pappenheim (1859–1936) in Frankfurt am Main im Jahr 1902 den Verein Weibliche Fürsorge gründete, für das Frauenwahlrecht kämpfte und ebenfalls in Frankfurt die Rechtsschutzstelle für Frauen leitete. Ähnlich wie katholische und protestantische Glaubensangehörige fühlte sich Henriette Fürth „deutsch“, hatte also mit ihrer nahtlosen Identifikation von „Deutsch- und Judentum“ all jene negativen kollektiven Erfahrungen hinter sich gelassen, die sehr viele Juden im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wegen eines christlich motivierten Antijudaismus (Texte 2 und 8) durchlitten hatten. Dass zwei ihrer Töchter 1944 in Auschwitz ermordet wurden, musste Henriette Fürth nicht mehr erleben, ihren anderen sechs Kindern glückte es, rechtzeitig nach England und Palästina auszuwandern.
Antijudaismus und Antisemitismus | Der Frankfurter Rechtsanwalt Selmar Spier (1893–1962) war sich im Unterschied zu Henriette Fürth nicht sicher, ob es nicht doch einen Gegensatz zwischen „Deutschen“ und Juden gäbe (Text 3). In seinem Buch „Vor 1914. Erinnerungen an Frankfurt geschrieben in Israel“ formulierte er die – für ihn als Jugendlichen unbeantwortete – Frage, warum „deutsche“ Kinder plötzlich nicht mehr mit jüdischen Altersgenossen spielten. Dies war jedoch, um mit Hédi Fried zu sprechen, eine Ungerechtigkeit. Nachdem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) seine Schwiegermutter 1933 verhaftet hatte, entschied sich Selmar Spier zur Emigration und wanderte zwei Jahre später nach Palästina aus. Seine Familie folgte ihm kurz darauf.
In der oben zitierten Passage seiner Erinnerungen thematisierte Selmar Spier die antisemitischen Ressentiments „deutscher“ Eltern, die sie offenkundig auf ihre Kinder übertrugen. Diese Vorurteile resultierten – nach dem langen und beschwerlichen Weg der wirtschaftlichen und politisch-rechtlichen Emanzipation der Juden im 18. und 19. Jahrhundert (Text 4, Eingabe der jüdischen Gemeinde in Fürth an die Kreisversammlung am 14. Februar 1792) – aus verschiedenen Faktoren: So war auf protestantischer Seite die rein theologisch begründete, aber sehr massive Judenfeindlichkeit des Reformators Martin Luther (1483–1546) nach wie vor virulent („Von den Juden und ihren Lügen“, Text 8). Etwa seit 1850 wurde in Deutschland „die Judenfrage“ zu einem festen Begriff. Nach der Reichsgründung kamen im nun vom protestantischen Preußen dominierten Kaiserreich (1871–1918) die „ersten breitenwirksamen antisemitischen Äußerungen […] von katholischer Seite“ (Hermann Greive, 1983) hinzu. Sie waren unter anderem Ausdruck von Ängsten, die unter Katholiken wegen des vom preußischen Staat gegen die katholische Kirche geführten Kulturkampfs aufstiegen und ein geeignetes Ventil suchten.
Inmitten einer im Kaiserreich schwierigen wirtschaftlichen Phase – etliche Historiker sprechen von einer von 1873 bis 1895 dauernden „Großen Depression“ (Richard H. Tilly, 1990) – mischte sich unter den latenten christlichen Antijudaismus beider Konfessionen ein rassistisch, ökonomisch und national motivierter Antisemitismus. Mit der 1879 veröffentlichten Hetzschrift Wilhelm Maars (1819–1904) „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht-confessionellen Standpunkt aus betrachtet“, die im Erscheinungsjahr zwölf (!) Auflagen erfuhr, und mittels der von ihm ins Leben gerufenen Antisemitenliga hielt der Begriff „Antisemitismus“ Einzug in das „politische Vokabular“ (Claudia Prinz, 2014). In dieser Hinsicht agitierte in Berlin vor allem der evangelische Hof- und Domprediger Adolf Stoecker (1835–1909); als einer der wichtigsten antisemitischen Agitatoren gesellte sich im November 1879 der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) hinzu, indem er den Aufsatz „Unsere Aussichten“ in den von ihm selbst herausgegebenen Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte (Text 6). Darin stand die in ihrer Wirkungs- geschichte so verhängnisvolle Äußerung: „Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf […] ertönt es heute aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!“ Seit 1927 war der Satz „Die Juden sind unser Unglück“ in jeder Ausgabe der volksverhetzenden national-sozialistischen Zeitung Der Stürmer zu lesen.
„Die Judenfrage“ als Symptom für multifaktorielles „Unbehagen“ | Zusehends wurde die angebliche „Judenfrage“ damit zu einer „Chiffre“, die ein „politisches, kulturelles, ökonomisches Unbehagen zusammenfaßte, Existenz- und Überfremdungsängste artikulierte und durch die neue Lehre des Rassenantisemitismus“ (Wolfgang Benz, 2002) auf der Grundlage des biologistischen Sozialdarwinismus eine neue, letztlich mörderische Richtung nahm. So war ein Teil der deutschen Bevölkerung in der Zeit, als Stoecker und Treitschke ihre antisemitische Agitation starteten, „aus der Traditionsgesellschaft in die Moderne gestolpert“ und sah sich durch „Industrialisierung und Urbanisierung, Verelendung und Entwurzelung“ (Josef Joffe, 1996) in seiner Identität bedroht. „,Jüdischen Geist’“ identifizierten die Antisemiten mit „Modernisierung, vor allem mit Kapitalismus und Ausbeutung, aber auch mit Sozialismus und Ausbeutung“ (Burkhard Asmuss, 2015). Daher bezeichnete der linksliberale Historiker und spätere Literatur-Nobelpreisträger Theodor Mommsen (1817–1903) den von Treitschke vom Zaun gebrochenen „Antisemitismus-Streit“ und das entsprechende Feindbild nicht nur als einen „Feldzug der Antisemiten“, sondern auch als eine „Mißgeburt des nationalen Gefühls“.
„,Radau-Antisemitismus‘“ und erste Wahlerfolge im Kaiserreich | Obwohl überwiegend Linksliberale und Sozialdemokraten energisch ihre Stimme gegen den wachsenden Antisemitismus erhoben, gründeten sich davon unbeeindruckt antisemitische Vereine und Parteien. Sie wurden unter anderem von dem in Frankfurt am Main geborenen Otto Boeckel (1859–1923), dem ersten bekennenden antisemitischen Reichstagsabgeordneten, geführt, ebenso von dem brandenburgischen Reichstagsabgeordneten Hermann Ahlwardt (1846–1914). Wegen seiner Popularität in der Landbevölkerung wurde Boeckel als „hessischer Bauernkönig“ und seine Bewegung wegen ihres „tumultartigen Auftretens“ als „,Radau-Antisemitismus‘“ bezeichnet: Boeckel „bediente sich der agitatorischen und publizistischen Mittel rücksichtslos und geschickt, seine Zeitung ,Reichsherold‘ benutz[t]e eine Sprache, die in vielerlei Hinsicht die antisemitische Terminologie des Nationalsozialismus“ (Gottfried Mehnert, 2003) vorwegnahm.
In Dresden fand 1882 ein „internationaler“ Kongress statt, um die Kontakte verschiedener antisemitischer Gruppierungen effektiver miteinander zu verzahnen (300 Teilnehmer aus Deutschland und Österreich-Ungarn). Stoecker behauptete in seinem Vortrag unter anderem, der Einfluss der Juden beruhe auf dem gewissenlosen Erwerb und Gebrauch des Kapitals. Im Refrain eines Lieds, das die Teilnehmer sangen, hieß es: „,Bald, Germanen, sei es wieder deutsch im deutschen Vaterland‘“. 1893 erzielten die Antisemiten ihr bestes Wahlergebnis vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914): Mit 16 von insgesamt 392 Mandaten (= vier Prozent der Sitze) zogen sie 1893, darunter Boeckel (zum zweiten Mal) und Ahlwardt, in den Reichstag ein. Schließlich erklärte die antisemitische Deutsch-Soziale Reformpartei 1899 in ihrem „Hamburger Programm“, dass sich „,die Judenfrage im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Weltfrage’“ entwickeln werde, weshalb diese „,endgültig durch völlige Absonderung und […] schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden“ müsse (zit. nach Hans-Ulrich Wehler, 1988).
Im Zuge der 1896 einsetzenden wirtschaftlichen Erholung verloren die antisemitischen Parteien unter den Wählern zwar erheblich an Zustimmung und versanken in die politische Bedeutungslosigkeit, doch neben Teilen der Landbevölkerung machten sich auch Angehörige des Bildungsbürgertums die antisemitische „Ideologie der Ungleichheit“ (Henry Friedländer, 1997) im ausgehenden Kaiserreich und während der Weimarer Republik (1918–1933) immer mehr zu eigen. So findet sich in einem Brief Theodor Fontanes (1819–1898), eines der bedeutendsten deutschen Romanautoren, an seine Frau Emilie (1824–1902) der Satz wieder, der oben als Text 10 abgedruckt ist und den er am 17. August 1882 während seines Aufenthalts in Norderney geschrieben hatte. In dem 1897 im Buchhandel und heute noch als Nachdruck erhältlichen Reiseführer „Die Nordseeinsel Borkum einst und jetzt“ hieß es sogar:
„Ein besonderer Vorzug, welchen Borkum vor vielen Badeörtern voraus hat, besteht darin, daß es judenrein ist. So oft auch die Kinder Israels versuchten, so wurden sie doch stets weggeärgert, zwar nicht von der Borkumer Bevölkerung, sondern von den Kurgästen, welche die ,Auserwählten’ nicht unter sich dulden wollten“.
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler gelangt im dritten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ (1995) zu dem ernüchternden Befund:
„Trotz des [parlamentarischen] Scheiterns der Antisemitenparteien wäre es aber völlig verfehlt, ihre Niederlage mit einem Rückgang des modernen Antisemitismus überhaupt gleichzusetzen. Vielmehr hatte er sich inzwischen in manchen Sozialmilieus und Klassen der reichsdeutschen Gesellschaft verhängnisvoll tief eingenistet“.
Von der Weimarer Demokratie in den nationalsozialistischen Totalitarismus | Vor dem Hintergrund des 1918 verlorenen Ersten Weltkriegs, der Mär („Fake News“), dass die „Heimatfront“ die Niederlage in heimtückischer Art und Weise bewerkstelligt habe („Dolchstoß- legende“), und der schwierigen Bedingungen des Versailler Friedensvertrags begann eine „Jagd nach Sündenböcken“. Der Ausdruck „Schmach von Versailles“ war ein weitläufig, nicht nur unter Nationalsozialisten, verbreitetes Schlagwort. Im Unterschied zu den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik dachten viele seit 1918 – trotz innen- und außenpolitischer Erfolge in der Weimarer Republik – nicht an ein „heilsames Vergessen“. Das Leiden an der Niederlage und die Verletzung des „kollektiven Selbstwertgefühls“ wurden zur „Grundlage einer Massenbewegung und Mobilisierung“ (Aleida Assmann, 2020). Die von den Nationalsozialisten methodisch betriebene und instrumentalisierte „Jagd nach Sündenböcken“, die Treitschke und andere bereits im 19. Jahrhundert eröffnet hatten, erschloss den Nationalsozialisten zusammen mit etlichen anderen Ursachen (vor allem der seit 1929 virulenten Weltwirtschaftskrise) „bis 1932 ein bisher unvorstellbares Wählerpotenzial“ (Hans-Ulrich Wehler, 1995).
Vor allem junge Menschen schlossen sich dem Nationalsozialismus an, um sich in einer seit 1930 wirtschaftlich düsteren und scheinbar perspektivlosen Zeit die berufliche Existenz bzw. Zukunft zu sichern. So urteilte Magnus Brechtken (2017) über den späteren Lieblingsarchitekten Hitlers und Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer (1905–1981), „seit 1942 de facto ,zweiter Mann‘ im NS-Regime“ (Krebs/Tschacher, 2007): „Seine frühe Mitgliedschaft [in der NSDAP 1931] ist ernst zu nehmen als Entscheidung eines Mannes aus dem bürgerlichen Milieu, aus dem sich weitere hunderttausend Gestalter des Regimes rekrutierten“. – Später verstand es Speer, 1946 als Hauptkriegsverbrecher zu 20 Jahren Haft verurteilt, sich nach seiner Entlassung „meisterhaft“ mit Zutun von Historikern und Journalisten als „guter Nazi“ zu präsentieren. Seine „Selbststilisierung als unpolitischer Technokrat“ (Heinrich Schwendemann, 2016), der von Auschwitz und der Ermordung der Juden nichts gewusst habe, wurde in der deutschen Gesellschaft mit großer Zustimmung, ja Erleichterung aufgenommen, wobei Speers Neuorganisation der Rüstungsindustrie seit Anfang 1942 im Wesentlichen auf der engen Kooperation mit der Schutzstaffel (SS) und Heinrich Himmler (1900–1945), dem Chef der deutschen Polizei sowie Reichsführer SS, beruhte.
Übelste antisemitische Hetzschriften kamen seit 1918 vermehrt in Umlauf, wobei Hitlers „Mein Kampf“ nur die „Spitze des Eisbergs“ bildete. Darüber hinaus verbreiteten sich während der Weimarer Republik im Rahmen eines auch wegen der Kriegsfolgen unter Druck stehenden Sozialsystems vermehrt „rassehygienische und sozialbiologische Ideen in der Berufswelt der Medizin, der Strafverfolgung, der Strafrechtspflege und der Sozialarbeit“ (Richard J. Evans, 2004). Letzteres ist mit Blick auf das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von Bedeutung, da dort der „Arzt“ Dr. Josef Mengele (1901–1979) entsetzliche medizinische „Versuche“ („Zwillingsexperimente“) durchführte, die meistens zum qualvollen Tod seiner Opfer führten. Mengele, der 1930 sein Medizinstudium begonnen und fünf Jahre später über die „Rassenmorphologische Untersuchung des vorderen Unterkieferabschnitts bei vier rassischen Gruppen“ promoviert hatte, selektierte ebenso wie andere „Ärzte“ der SS in Auschwitz „sowohl Neuankömmlinge an der Rampe als auch Häftlinge im Lager“. In Mengeles Ermessen lag es, „Kinder, Kranke und Greise als nicht arbeitsfähig auszumustern und für den Tod in der Gaskammer zu bestimmen“ (Sven Keller, 2014).
Gepaart mit dem im Kaiserreich vergleichsweise „niedrigschwelligen, osmotischen“ Antisemitismus (Götz Aly, 2020) waren es in Deutschland seit 1918 die vor allem durch die Weltkriegsniederlage manifest gewordenen Faktoren, die in den deutschen „Sonderweg“ des eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus mündeten. Denn der Antisemitismus in Russland, Polen und Frankreich (Dreyfus-Affäre) war vor dem Ersten Weltkrieg, so der amerikanische Historiker Eugen Joseph Weber salopp, aber zutreffend „selbstverständlich […] wie Apfelkuchen“ (Gordon A. Craig, 1996). In einer Besprechung des 2017 erschienenen Buchs des Schweizer Historikers Christian Gerlach „Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen“ machte Franz Horváth (2017) auf dessen Verdienst aufmerksam, gezeigt zu haben, wie in nahezu allen europäischen Ländern antisemitische Pläne und Vorhaben existierten sowie Verbände und Bewegungen bereits in der Zwischenkriegszeit (1919–1939) und erst recht im Verlauf des Zweiten Weltkriegs antisemitische Forderungen erhoben:
„Journalisten- und Ärzteverbände, Anwaltskammern, Studentenvereinigungen, Wirtschaftsorganisationen: unendlich ist die Liste der Einrichtungen, die in Frankreich, Polen, Ungarn, Rumänien und so weiter die Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben, ihren Ausschluss oder die Einführung einer Numerus-Clausus-Regelung aufgrund besonderer nationaler Umstände forderten. Traf ein solcher gesellschaftlicher Druck auf Widerhall in Regierungskreisen, entstanden nicht nur so genannte ,Judengesetze’, sondern sie bildeten im Falle regierungsamtlicher Pläne zu ethnischer Homogenisierung etwa im Zuge von Bevölkerungsumsiedlungen und -austauschen ein weiteres Motiv und einen nächsten Grund für den Mord an den Juden. Diese nationalen Motive und Gründe führten dann zu einer aktiven und bereitwilligen Mitarbeit an der [nationalsozialistischen] Judenvernichtung“.
Radikalisierung „der Judenfrage“ im „Dritten Reich“ | Nach ihrer „Machtergreifung“ im Jahr 1933 setzten die Nationalsozialisten die ihnen auf allen staatlichen und soziokulturellen Ebenen zur Verfügung stehenden Mittel ein, um „die Juden in irgendeiner Form aus der deutschen Gesellschaft auszuschalten“ (Peter Longerich, 2002). Insbesondere schufen die Nationalsozialisten schrittweise mit Hilfe des Verwaltungs-, Polizei- und Justizapparats – „gerade auf kommunaler Ebene“ (Wolf Gruner, 2000) – grundlegende rechtliche Konstruktionen, die später den Holocaust ermöglichten, und zwar in der Form, dass diese „Grundlagen keine rechtlichen Schranken enthielten, die es erlaubt hätten, den Genozid oder die dem Genozid vorgelagerten Schritte als Unrecht auszugrenzen“ (Axel Azzola, 1989). So hoffte der spätere Generaloberst der Wehrmacht, Gotthard Heinrici (1886–1971), im Februar/März 1933 stellvertretend für viele andere Zeitgenossen, „dass wir aus der marxistisch jüdischen Schweinerei nun endlich herauskommen‘“ (Johannes Hürter, 2001), und befürwortete die ersten Entlassungen jüdischer Beamter, Angestellter und Ärzte:
„,Ich habe nie die Juden in Bausch und Bogen verdammt, aber es ist sicher gut, wenn sie und das Centrum [i. e. die katholische Zentrumspartei] auf ihre wirkliche Bedeutung zurückgeführt werden. In den Schulen scheint auch schon gelüftet zu werden‘“.
Die antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten (zum Beispiel der Boykott jüdischer Geschäfte 1933, die Verabschiedung der Nürnberger „Rassengesetze“ und die Reichspogromnacht 1938) sind in der heutigen Öffentlichkeit allgemein bekannt bzw. sollten es sein. Weniger bekannt sind Maßnahmen, die seitens der Nationalsozialisten die – in der Wahrnehmung der meisten Deutschen – vermeintlich „kleineren“, „erträglichen“ Ausgrenzungen („Ungerechtigkeiten“) der Juden zum Ziel hatten. In dem angesichts der schleppenden bundesrepublikanischen „Vergangenheitsbewältigung“ zu einem relativ frühen Zeitpunkt veröffentlichten Jugendroman „Damals war es Friedrich“ (1961) des Schriftstellers Hans Peter Richter (1925–1993) ist im Anhang eine Zeittafel beigefügt. Darin ist – wohl im Sinne Hédi Frieds – auch alltagsbezogenes und sich in der Konsequenz summierendes Unrecht aufgezählt, zum Beispiel:
21. April 1933: Das rituelle Schächten wird verboten.
6. Sept. 1935: Der Verkauf jüdischer Zeitungen im Straßenhandel wird verboten.
30. Sept. 1935: Alle jüdischen Beamten werden beurlaubt.
26. April 1938: Juden müssen ihr Vermögen angeben.
6. Juli 1938: Juden werden bestimmte Gewerbe untersagt (zum Beispiel Makler, Heiratsvermittler, Fremdenführer).
27. Juli 1938: Alle „jüdischen“ Straßennamen werden entfernt.
30. April 1939: Der Mieterschutz für Juden wird eingeschränkt.
Ausdrücklich zu betonen ist, dass es sich hierbei nur um einen winzigen Ausschnitt der gegen Juden verhängten Maßnahmen handelt, insgesamt gab es von 1933 bis 1945 mehr als tausend ent- sprechende Verordnungen und Gesetze. Darüber hinaus wurde das von Julius Streicher (1885–1946) herausgegebene Wochenblatt Der Stürmer (häufig mit vulgär-pornographischen Inhalten) nunmehr offiziell verbreitet, die nationalsozialistische Propaganda in Film, Rundfunk und bei öffentlichen Veranstaltungen artikulierte sich immer rücksichtsloser.
Eine Tagebucheintragung des vom Judentum zum Protestantismus konvertierten, mit einer Nichtjüdin verheirateten und 1935 in den vorzeitigen Ruhestand versetzten Romanistik-Professors der Technischen Universität Dresden, Victor Klemperer (1881–1960), verdeutlicht die Dimension dieses – auch alltagsbezogenen – Antisemitismus. Am 17. August 1937 notierte er in sein Tagebuch eine Begebenheit, die ihm – ähnlich wie Selmar Spier – erst jetzt die Augen in Bezug auf den virulenten Antisemitismus in seiner Jugend im Kaiserreich öffnete:
„Im ,Stürmer‘ (der an jeder Ecke aushängt) sah ich neulich ein Bild: zwei Mädchen im Seebad, Badekostüm. Darüber: ,Für Juden verboten‘, darunter: ,Wie schön, daß wir jetzt wieder unter uns sind!‘ Da fiel mir eine längst vergessene Kleinigkeit ein. September 1900 oder 1901 in Landsberg. Wir waren in der Unterprima 4 Juden und 16, in der Oberprima 3 unter 8 Klassenschülern. Von Antisemitismus war weder unter den Lehrern noch unter den Schülern Sonderliches zu spüren. Genauer rein gar nichts. Die Ahlwardtzeit und Stoeckerei kenne ich nur als historisches Faktum. […] Am Versöhnungstag [i. e. Jom Kippur, höchster jüdischer Feiertag] nahmen also die Juden nicht am Unterricht teil. Den nächsten Tag erzählten die Kameraden ohne alle Bösartigkeit lachend (so wie das Wort bestimmt auch von dem durchaus humanen Lehrer nur scherzend gesprochen wurde), Kuhfahl, der Mathematiker, habe zu der verkleinerten Klasse gesagt: ,Heut sind wir u n t er u n s.‘ Das Wort nahm in der Erinnerung eine geradezu grausige Bedeutung für mich an: Es bestätigt mir den Anspruch der NSDAP, die wahre Meinung des deutschen Volkes auszudrücken. Und immer mehr glaube ich, daß Hitler wirklich die deutsche Volksseele verkörpert“.(Hervorhebung im Original.)
Reichspogromnacht | 1924 in Frankfurt am Main geboren, erinnerte sich Paul Moser in dem 2005 erschienenen Sammelband „Unvergessene Schulzeit 1921–1945“ wie folgt an das Jahr 1938, „als die Synagogen brannten“ und in Hessen die Reaktionen von „tiefer Abscheu über gedrücktes Schweigen bis hin zur Identifikation mit den Exzessen oder gar der aktiven Teilnahme“ (Walter Mühlhausen, 2013) reichten:
„An den jüdischen Geschäften sah man immer wieder Schmierereien wie: ,Kauft nicht bei Juden!’ Reiche Juden wanderten nach Amerika aus, überall waren Überseekisten mit der Aufschrift ,New York’ zu sehen. Auch der jüdische Hausarzt unserer Familie verließ das Land. Ich war immer gern zu ihm gegangen. Vater nahm es ohne Bedauern zur Kenntnis. ,Wer weiß, was da noch kommt?’, fragte sich die Mutter. […] 9. November 1938. […] Ich ging in die Frankfurter Innenstadt. Das Kaufhaus Wronker war verwüstet. In den großen Schaufenstern waren in der Vorweihnachtszeit immer so schöne Märchen dargestellt worden. Auch ,Woolworth’, wo ich in der Notzeit ab und zu für 10 Pfennig Erbsen- eintopf gegessen hatte, war zerstört. Überhaupt, die ganze Kaiserstraße bot ein Bild der Verwüstung. Qualm zog über die Dächer. Ich bog in die Taunusanlage ein und sah die brennende Synagoge. In diesem Moment stand überraschend Lehrer Faber neben wir. ,Junge, Junge, wohin wird das bloß noch führen?’, sagte er nachdenklich. An diesen Satz mußte ich später immer wieder denken“.
„Judenumsiedlung“, Massenerschießungen und „industrieller Massenmord“ | Spätestens mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) nahm der Antisemitismus die grauenhafte eliminatorische Gestalt des Holocaust an. Dabei war die „Radikalisierung der Judenpolitik von der Vertreibung zur Vernichtung“ (Wolfgang Benz, 2018) bereits vorher eingeleitet worden: Entsprechende Wegmarken waren vor allem der deutsche Angriff auf Polen (1. September 1939) und die von Hitler öffentlich im Reichstag am 6. Oktober 1939 angekündigte „völkisch-rassistische Neuordnungspolitik in Europa“, mit der er den Rahmen der bisherigen, vornehmlich „nationalstaatlich orientierten Macht- und Revisionspolitik“ (Michael Wildt, 2006) verließ: die Ansiedlung „zahlreicher auslandsdeutscher Volksgruppen“ (Götz Aly, 2017) in Polen (insgesamt mehr als 500.000 Personen), in deren Konsequenz Juden vertrieben und ermordet wurden (bis Ende 1939 7.000 polnische Opfer), um Platz zu machen für „Volksdeutsche“ aus dem Baltikum, Wolhynien, Galizien usw. Unter anderem mittels der „Eindeutschung des Generalgouvernements“ sollte die „,Volkstumsgrenze‘“ (Norbert Frei, 1989) deutlich nach Osten verschoben werden.
Mit Samuel Salzborn (2020) ist an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinzuweisen, was im heutigen öffentlichen Bewusstsein in der Breite noch immer nicht hinreichend verankert ist: „Der Zusammenhang von antisemitischer Vernichtungs- und völkischer Bevölkerungspolitik, einfacher gesagt, die beiden Elemente der antisemitischen Volksgemeinschaftsphantasie – antisemitisches und völkisches Denken“.
Zu der „antisemitischen Volksgemeinschaftsphantasie“ gehörte auch der seit dem Frühjahr 1940 entwickelte „Madagaskar-Plan“, in dessen Rahmen die Juden auf die zu Frankreich gehörende Insel im indischen Ozean deportiert werden sollten (Frankreich hatte am 25. Juni 1940 vor der Wehrmacht kapituliert). Allerdings erwies sich der Plan aufgrund der „Überlegenheit der britischen Mittelmeerflotte“ (Götz Aly, 1998) spätestens im September 1940 als Illusion, während auch in Polen aus vielerlei Gründen (unter anderem finanzielle, bürokratische, logistische Schwierigkeiten sowie Differenzen zwischen den – auch lokalen – nationalsozialistischen Akteuren) die „angekündigte ethnische Neuordnung […] ins Chaos führte“ (Götz Aly, 2017) bzw. als „gewaltiges Umsiedlungsprogramm“ (Peter Longerich, 2010) gescheitert war.
Vor diesem Hintergrund plante der Chef des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), Reinhard Heydrich (1902–1940), spätestens seit März 1941 die Massendeportation der Juden in die noch zu erobernden Gebiete der Sowjetunion, wobei die Kriegsvorbereitungen mindestens seit Dezember 1940 liefen. Angesichts der „chaotischen völkischen Neuordnung“ richtete der SS-Sturmbannführer und Leiter der Umwandererzentrale Posen, Rolf-Heinz Höppner (1910–1998) folgenden Vorschlag an Adolf Eichmann (1906–1962), den Leiter des Referats „Auswanderung und Räumung“ im RSHA:
„,Es besteht in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen‘“.
In diesem Zusammenhang stellte der Historiker Christoph Dieckmann (1998) fest: „Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die deutsche antijüdische Politik schon vor dem Krieg gegen die Sowjetunion so weit eskaliert war, daß die Ermordung der Juden in den Bereich des Möglichen gerückt war“. Ob Hitler vor diesem Hintergrund im Sommer 1941 – in den Archiven ist im Unterschied zu dem mörderischen nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm („Aktion T 4“) hierfür kein schriftlicher Befehl auffindbar – die „Grundsatzentscheidung zur Ermordung aller europäischen Juden“ traf, ist in der Geschichtswissenschaft umstritten. So nimmt dies Wolfgang Curilla (2011) aufgrund einer Reihe von Indizien für den Juli 1941 an, Karin Orth (1997) plädiert für den Juni 1942, während Peter Longerich (2017) ähnlich wie Christian Gerlach (2017) auf Folgendes hinweist:
„Der Holocaust [ist] nicht aufgrund einer einzelnen zentralen Entscheidung in Gang gesetzt worden, sondern er ist – im Rahmen einer langfristig orientierten, aber immer wieder Veränderungen unterworfenen antijüdischen Politik der Nationalsozialisten – das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, in dem Hitler, die zentrale Führungsinstanz des ,Dritten Reichs‘, im engen Zusammenspiel mit anderen Teilen des Machtapparates, schrittweise aus einer noch vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte und in Gang brachte“.
Vieles spreche dafür, so Franz Bajohr im Jahr 2017, den „Weg in den Völkermord nicht durch eindeutige Befehle, sondern als Kommunikationsfeld zu definieren, in dem die Zentrale der Macht und die Peripherie intensiv miteinander verbunden waren“. „Die Umsetzung dieses Ziels“, so Peter Longerich (2010), „vollzog sich in einem für das Regime charakteristischen Zusammenspiel aus Vorgaben von oben und Initiativen von unten“. Speer hatte bereits in den 1970er Jahren erklärt: „,Es ist […] der Arbeitsweise Hitlers entsprechend und darf nicht als Lücke angesehen werden, daß kein schriftlicher Befehl zur Vernichtung vorliegt‘“ (Isabell Trommer, 2016). Laut Franz Bajohr (2017) seien sich die meisten Historiker heute einig,
„dass es eines längeren Zeitraums bedurfte, ehe sich die Mordaktionen an sowjetischen Juden schubweise zu einem Völkermord entwickelten, der allen Juden Europas galt. Dieser Prozess begann in den letzten drei Monaten des Jahres 1941 und erstreckte sich bis zur Jahresmitte 1942. Auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 wurde deshalb mitnichten die ,Endlösung der Judenfrage’ beschlossen, wie es noch bisweilen zu lesen ist“.
An zahlreichen Orten in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten der Sowjetunion kam es seit dem Sommer 1941 zu Massenerschießungen von Juden, wobei bereits zwei Tage nach Kriegsbeginn in Gargždai (Litauen) deutsche Schutzpolizisten aus Vergeltung 200 Juden erschossen, da auf deutsche Wehrmachtseinheiten gefeuert worden war. Brigaden der Waffen-SS ermordeten seit Ende Juli ebenso wie die Einsatzgruppen nunmehr auch jüdische Frauen und Kinder: „Damit war das Tor zum Völkermord aufgestoßen“ (Frank Werner, 2017). Dabei geschah die „schrittweise Einbeziehung immer neuer Opfergruppen […] nicht auf einen einzigen vollkommen eindeutigen Befehl Himmlers hin“,
„sondern es handelte sich um einen längeren Prozess, in dem die Einheitsführer allmählich an ihre grausame Tätigkeit herangeführt, ja geradezu zu Massenmördern erzogen wurden“. (Peter Longerich, 2010.)
Allein in der Schlucht von Babi Yar tötete die Einsatzgruppe C, so die Angabe in deren offiziellen Bericht, am 29. und 30. September 1941 „in Kiew 33771 Juden“. Bis Ende 1941 kamen in den deutsch besetzten Teilen der Sowjetunion „mehr als eine halbe Million“ (Peter Longerich, 2002) jüdische Frauen, Kinder und Männer ums Leben. Einige Mitglieder der Einsatzgruppe C – vornehmlich gab es die Gruppen A, B, C und D, wobei sich deren Angehörige aus der SS, dem Sicherheitsdienst (SD) und der Sicherheitspolizei (Sipo) rekrutierten –, mussten sich nach 1945 vor Gericht verantworten. Dabei handelte es sich vor dem Nürnberger Einsatzgruppenprozess 1947/48 um drei deutsche Offiziere sowie 1968 vor dem Schwurgericht Darmstadt um zehn Angehörige des Sonderkommandos 4a. Der Darmstädter Einsatzgruppen-Prozess gewährte, so ein Beitrag auf der Internetseite des Fritz Bauer Archivs, einen „tief deprimierenden Einblick in wütenden Judenhass, Zeugnis für Mitleidlosigkeit, Korruption, aber auch bedingungslosen Gehorsam ohne Reue und ohne jede Reflexion“.
„Entschluß zum Völkermord“ | Vor dem Hintergrund der „gut vorbereitet[en]“ Massenerschießungen ist dem Historiker Wolfgang Benz (2018) zuzustimmen, wonach im Juli 1941 der „Entschluß zum Völkermord bereits gefallen war“. So beauftragte Hermann Göring (1893–1946) in einer Vielzahl von Funktionen (und von Hitler 1939 offiziell als sein Nachfolger designiert) am 31. Juli 1941 Heydrich schriftlich,
„alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa. […] Ich beauftrage Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen“.
Das im RSHA entworfene Schreiben gehört zu den „Schlüsseldokumenten des 20. Jahrhunderts“ (Sven Felix Kellerhof, 2016). Wollte oder konnte sich Göring während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher nicht an alle einzelnen gegen die Juden gerichteten Gesetze und Erlasse erinnern, so erklärte er am 20. März 1946 gegenüber dem amerikanischen Hauptanklagevertreter Robert H. Jackson (1892–1954): „Diesen Erlaß kenne ich genau“, wobei dessen Inhalt bei dieser Gelegenheit nicht näher erörtert wurde.
Bis auf den heutigen Tag ist die genaue Bedeutung des Erlasses in der Geschichtswissenschaft umstritten. Parallel zu den Massenerschießungen seit Juni 1941, die oft unter anderem wegen des damit verbundenen „organisatorischen Chaos“, ihrer mangelnden Geheimhaltung und der sogar in den Augen mancher Täter „,unbeschreiblichen Brutalität‘“ (Christopher R. Browning, 1996) bald „problematisch“ wurden, ist der Erlass Görings wohl als Auftrag zu verstehen, die „Möglichkeiten zum Massenmord auszuloten“, war also noch nicht das unmittelbare „Signal, Todeslager in Polen zu errichten“ (Ian Kershaw, 2002). Allerdings wurde hieraus und aus anderen Entscheidungen in den nächsten Monaten bis Ende 1941 im „Zuge der [weiteren] schrittweisen Radikalisierung der antisemitischen Politik tatsächlich ein Mordbefehl“ (Sven Felix Kellerhof, 2016), dessen Genese unter anderem mit dem in der Sowjetunion bereits im August stockenden und spätestens im Oktober/November 1941 fehlgeschlagenen deutschen „Blitzkrieg“ in Zusammenhang steht.
Auschwitz: Synonym für den „industriellen Massenmord“ | Im Rahmen seiner Besprechungen mit Hitler und anderen Akteuren entfaltete Himmler vor dem Hintergrund der „gigantischen völkischen Neuordnungsvorstellungen des Regimes“ (Peter Longerich, 2010) eine beträchtliche Eigeninitiative. Als direkter Vorgesetzter Heydrichs bestellte Himmler „im Sommer 1941“ den Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß (1900–1947), „zum persönlichen Befehlsempfang“ nach Berlin, so dessen Aussage am 15. April 1946 beim Nürnberger Prozess, wobei die Zeitangaben differieren: Juni, Sommer, Spätsommer und Herbst 1941 kommen für dieses „für alle Juden der europäischen Deportationsländer schicksalhaft[e]“ Gespräch (Raul Hilberg, 1994) in Frage. „Im Sommer 1941“, so Höß in seinen erstmals im Jahr 1963 von dem Historiker Martin Broszat herausgegebenen „autobiographischen Aufzeichnungen“,
„wurde ich plötzlich zum Reichsführer SS [Himmler] nach Berlin befohlen, und zwar direkt durch seine Adjutantur. Entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit eröffnete er mir, ohne Beisein eines Adjutanten, dem Sinne nach folgendes: Der Führer hat die Endlösung der Judenfrage befohlen, wir – wir, die SS – haben diesen Befehl durchzuführen. Die bestehenden Vernichtungsstellen im Osten sind nicht in der Lage, die beabsichtigten großen Aktionen durchzuführen. Ich habe daher Auschwitz dafür bestimmt, einmal wegen der günstigen verkehrstechnischen Lage und zweitens läßt sich das dafür dort zu bestimmende Gebiet leicht absperren und tarnen. […] Nähere Einzelheiten erfahren Sie durch Sturmbannführer Eichmann vom RSHA, der in nächster Zeit zu Ihnen [im August nach Auschwitz, so Till Bastian (1994)] kommt“.
„Es käme“, so Höß,
„nur Gas in Frage, denn durch Erschießen die zu erwartenden Massen zu beseitigen, wäre schlechterdings unmöglich und auch eine zu große Belastung für die SS-Männer, die dies durchführen müßten im Hinblick auf die Frauen und Kinder“.
Ab August/September 1941 begann die SS in Auschwitz mit den entsprechenden Planungen, wobei hier in diesem Beitrag mit dem Begriff Auschwitz der gesamte Lagerkomplex gemeint und nicht die administrative Teilung in Stammlager (Auschwitz I), Vernichtungslager (Auschwitz II, Birkenau) und Zwangsarbeiterlager (Auschwitz III, Buna-Monowitz) berücksichtigt ist. Zu entsprechenden Planungen und „Experimenten“ kam es auch in Minsk und Mogilew (Auspuffgase von Gaswagen, Sprengstoff), nachdem sich Himmler am 14./15. August 1941 eine Massenerschießung in der Nähe von Minsk angeschaut und befohlen hatte, eine andere Art des Tötens zu suchen, um, so Mathias Beer (2017), die „psychische Belastung für die Erschießungskommandos [!] zu mindern“. (In Auschwitz ließ sich Himmler am 17. und 18. Juli 1942 die Ermordung von niederländischen Juden in einer Gaskammer vorführen.) Anfang November begannen die Arbeiten am Bau des „ersten Vernichtungslagers“ Belzec (Peter Longerich, 2010). Seit Dezember 1941 wurden Gaswagen – in ähnlicher Form bereits im Rahmen des „Euthanasie“-Programms eingesetzt –, zur Ermordung von Menschen im Vernichtungslager Chelmno verwendet. Hierbei kamen mindestens 160.000 Juden, Sinti und Roma sowie sowjetische Kriegsgefangene ums Leben.
Nachdem in Auschwitz der Lager-„Arzt“ Dr. Siegfried Schwela (1905–1942) „Tötungsexperimente“ (Wolfgang Curilla, 2011) mit dem ursprünglich als Schädlingsbekämpfungsmittel entwickelten Zyklon B durchgeführt hatte – Opfer in einer Gaskammer waren unter anderem etwa 250 als unheilbar eingestufte Kranke sowie 600 sowjetische Kriegsgefangene –, wurde im Januar 1942 die „erste ,reguläre‘ Gaskammer in Auschwitz in Betrieb genommen“ (Jean-Claude Pressac, 1995). Am 15. Februar 1942 kam der „erste zur Vernichtung bestimmte Transport mit Juden“ in Auschwitz an, wobei eine „nicht genau bekannte Zahl von Menschen in den Gaskammern des Krematoriums I im Stammlager Auschwitz mit Zyklon B ermordet“ (Till Bastian, 1994) wurde. In einer Besprechung mit dem Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts, Oswald Pohl (1892–1951), stimmte Speer am 15. September 1942 dem weiteren Ausbau von Auschwitz zu. Nachdem zwei seiner Mitarbeiter Auschwitz und andere Lager besucht hatten und er für die Erweiterungsarbeiten am 30. Mai 1943 Baueisen zur Verfügung gestellt hatte, ergänzte Speer handschriftlich (!) auf einem Schreiben an Himmler: „,Es freut mich, dass die Besichtigung der anderen K.Z. Lager ein durchaus positives Bild ergab‘“ (Uhl/Pruschwitz/Holler/Leleu/Pohl, 2020). „,Es bleibt damit festzuhalten‘“, so der Historiker Rainer Fröbe (2000), „,daß erst durch Speers Entscheidung die [weitere] Errichtung der Krematorien und Gaskammern in [Auswitz-]Birkenau überhaupt möglich geworden war‘“.
Etwa zeitgleich zu den Massenerschießungen sowie den in Auschwitz und an anderen Orten anlaufenden Planungen („Experimenten“) befahl Hitler am 17. September 1941 die „Evakuierung“ der Juden aus dem Deutschen Reich – auch die der Berliner Juden (unter der tatkräftigen Mitwirkung Speers) „am besten nach Riga und Minsk“ –, woraufhin am 18. Oktober 1941 die entsprechenden Deportationen aus dem Reichsgebiet begannen. An die Stelle bislang häufig improvisierter Maßnahmen und an die Stelle der Idee des Deporta- tionsraums Madagaskar traten die jüdischen Ghettos und die organisierten nationalsozialistischen Vernichtungslager vor allem im Osten Europas. Juden mussten fortan den sogenannten Judenstern tragen, die eigenständige Auswanderung war ihnen nunmehr verboten. Wenn auch, so Peter Longerich (2007), die Motive Hitlers hierfür mit Blick auf andere politische Ereignisse vielschichtig waren, ging es dem Diktator insbesondere darum, den „ursprünglichen, seit Anfang des Jahres [1941] verfolgten Plan zur Deportation der Juden in die zu besetzenden Ostgebiete zu realisieren“. Im August 1941 hatte Hitler gegenüber Goebbels erklärt, dass die Berliner Juden im Osten dann „unter einem härteren Klima in die Mache genommen“ würden: „Im Osten müssen die Juden die Zeche bezahlen; in Deutschland haben sie sie zum Teil schon bezahlt und werden sie in Zukunft noch mehr bezahlen müssen“.
Einen Teil des sich juristisch formal auf die Nürnberger „Rasse- gesetze“ gründenden Deportationsverfahrens beschreibt der Historiker Wolfgang Benz (2018) in all seinen – in den Augen etlicher Unbeteiligter – scheinbar ertragbaren „Ungerechtigkeiten“, um den Begriff Hédi Frieds wiederaufzunehmen, wie folgt:
„Überall erhielten Juden jetzt vervielfältigte Aufforderungen, sich zur ,Evakuierung‘ an Sammelplätzen einzufinden, sie hatten Verhaltensmaßregeln empfangen, was sie ,zur Ansiedlung im Osten‘ mitbringen sollten, in welchem Zustand sie ihre Wohnungen zurücklassen mußten (Licht-, Gas-, Wasserrechnungen waren vor der Abreise zu bezahlen), es war ihnen eröffnet worden – unter gleichzeitiger Erteilung einer ,Evakuierungsnummer‘ –, daß ihr gesamtes Vermögen rückwirkend zum 15. Oktober 1941 staatspolizeilich beschlagnahmt war und daß ,die seit dieser Zeit getroffenen Verfügungen über Vermögensteile (Schenkungen oder Verkäufe) wirkungslos‘ seien. Außerdem wurde die Anfertigung einer Vermögenserklärung befohlen, […] beizufügen waren sämtliche relevanten Urkunden wie Schuldscheine, Wertpapiere, Versicherungspolicen, Kaufverträge usw.“.
Vor allem der Historiker Götz Aly hat in seinen Veröffentlichungen immer wieder betont (dabei aber auch Widerspruch erfahren), wie sehr Teile der „deutschen“ Bevölkerung ökonomisch-finanziell von den Wohnungsauflösungen jüdischer Menschen und der Veräußerung des Hab und Guts der Deportierten profitierte. Peter Longerich (2010) wies auf das hinterhältige Motiv der Nationalsozialisten hin:
„Die Juden sollten durch die für jedermann wahrnehmbaren und von der Propaganda entsprechend bewerteten Deportationen als ,Drahtzieher‘ des [alliierten] Bombenkrieges angeprangert und bestraft werden, während nichtjüdische Bombenopfer und sonstige Bedürftige mit dem Hausrat der Deportierten und der Zuweisung von ,Judenwohnungen‘ versorgt wurden. Die vielen Nutznießer der Deportationen, so das dahinter stehende Kalkül, machten sich damit zum Komplizen der Judenpolitik“.
Auch den jeweiligen ausführenden Kommunen ging es um „Profit, Arbeitskräfte, Wohnraum, gesellschaftliches Ansehen, Beziehungen oder sozialen Aufstieg“ (Wolf Gruner, 2000). In einem am 25. Januar 2020 aus Anlass der Befreiung von Auschwitz veröffentlichten Interview nannte Götz Aly dies die seitens der Nationalsozialisten bewusst initiierte „Integration in das Böse“, Wolf Gruner sprach von einer hiermit verbundenen offenkundigen Stabilisierung des nationalsozialistischen Regimes. Die Bevölkerung sollte – ähnlich wie bei der hochgradigen Arbeitsteilung der Bürokratie bei der Organisation und Durchführung des Holocaust (von der lokalen Bürokratie über die Reichsbahn bis hin zur SS) – zu Komplizen in Sachen „Antisemitismus“ bzw. „Endlösung“ gemacht werden.
Seit dem 25. November 1941 erschoss die Einsatzgruppe A in Kaunas (Litauen) und in Riga (Lettland) deutsche Juden, die in Deportationszügen unter anderem aus Berlin, Breslau, Dortmund, Frankfurt am Main, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, München, Nürnberg und Stuttgart ins Baltikum gebracht wurden. Dabei ermordete die Einsatzgruppe A die lettischen Juden, um im Rigaer Ghetto Platz für die noch zu ermordenden deutschen Juden zu schaffen. Ohne zu wissen, dass er vom britischen Combined Services Detailed Interrogation Center (CSDI) abgehört wurde, schilderte der wenige Wochen vor Kriegsende in Gefangenschaft geratene Generalmajor Walter Bruns (1891–1957), einer der aktiv am Attentat auf Hitler Beteiligten, im April 1945 gegenüber anderen mitinhaftierten deutschen Offizieren die Erschießung von etwa 30.000 Juden im Wald von Rumbula in der Nähe von Riga (Text 5). In dem Waldstück waren am 30. November 1941 1.035 Juden aus Berlin sowie am 1., 8. und 9. Dezember 1941 die gesamte lettische Bevölkerung des Rigaer Ghettos ermordet worden; andeutungsweise ist den Worten dieses Augenzeugen die Empörung über das dort Gesehene zu entnehmen. Ungefähr vier Wochen später vermerkte Victor Klemperer am 13. Januar 1942 in seinem Tagebuch:
„Paul Kreidl [die Familie Kreidl lebte zusammen mit den Klemperers in einem Dresdener ,Judenhaus‘] erzählt – Gerücht, aber von verschiedenen Seiten sehr glaubhaft mitgeteilt –, es seien evakuierte Juden bei Riga reihenweis[e], wie sie den Zug verließen e r s c h o s s e n worden“.(Hervorhebung im Original.)
Auch Paul Kreidl (1906–1942) kam in Riga ums Leben, nur wenige Wochen nach seiner Deportation aus Dresden am 21. Januar 1942. An diesem Tag schrieb Victor Klemperer in sein Tagebuch:
„Vor dem Weggehen des Deportierten versiegelt Gestapo seine ganze Hinterlassenschaft. […] Paul Kreidl brachte mir gestern abend ein Paar Schuhe, die mir genau passen und bei dem furchtbaren Zustand der meinigen höchst willkommen sind. […] Heute vormittag Art Kondolenzbesuch bei der Mutter. – Der Transport umfaßt jetzt 240 Personen, es sollen so Alte, Schwache und Kranke darunter sein, daß kaum alle lebend ankommen“.
„Bei einem Glase Bier“ | „Als furchtbarstes KZ“, hielt Victor Klemperer knapp acht Wochen später am 16. März 1942 in seinem Tagebuch fest, „hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen. Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen“. Der Agitator und Demagoge Joseph Goebbels (1897–1945), seit 1933 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, notierte seinerseits am 27. März 1942 in sein Tagebuch:
„Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Es wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. Im großen kann man wohl feststellen, daß 60% davon liquidiert werden müssen, während nur noch 40% in die Arbeit eingesetzt werden können. Der ehemalige Gauleiter von Wien [Odilo Globocnik (1904–1945)], der diese Aktion durchführt, tut das mit ziemlicher Umsicht und auch mit einem Verfahren, das nicht allzu auffällig wirkt. An den Juden wird ein Strafgericht vollzogen, das zwar barbarisch ist, das sie aber vollauf verdient haben. Die Prophezeiung, die der Führer ihnen für die Herbeiführung eines neuen Weltkriegs mit auf den Weg gegeben hat, beginnt sich in der furchtbarsten Weise zu verwirklichen. Man darf in diesen Dingen keine Sentimentalität obwalten lassen. Die Juden würden, wenn wir uns ihrer nicht erwehren würden, uns vernichten. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod zwischen der arischen Rasse und dem jüdischen Bazillus. Keine andere Regierung und kein anderes Regime könnte die Kraft aufbringen, diese Frage generell zu lösen. Auch hier ist der Führer der unentwegte Vorkämpfer und Wortführer einer radikalen Lösung, die nach Lage der Dinge geboten ist und deshalb unausweichlich erscheint. Gott sei Dank haben wir jetzt während des Krieges eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die uns im Frieden verwehrt wären. Die müssen wir ausnutzen. Die in den Städten des Generalgouvernements freiwerdenden Ghettos werden jetzt mit den aus dem Reich abgeschobenen Juden gefüllt, und hier soll sich dann nach einer gewissen Zeit der Prozeß erneuern“.
Von einem Wehrmachtsangehörigen erfuhr die Frau Victor Klemperers, Eva (1882–1951), im April 1942 „bei einem Glase Bier“ Einzelheiten über die Massenerschießungen in Babi Yar:
„Er ist als Fahrer bei der Polizeitruppe mehrere Wintermonate (bis Weihnachten) in Rußland gewesen. Grauenhafte Massenmorde an Juden in Kiew. Kleine Kinder mit dem Kopf an die Wand gehauen, Männer, Frauen, Halbwüchsige zu Tausenden auf einem Haufen zusammengeschossen, ein Hügel gesprengt und die Leichenmasse unter der explodierenden Erde begraben“.
(Tagebucheintragung Victor Klemperers vom 19. April 1942.)
In einer für die „deutschen Hörer“ am 27. September 1942 ausgestrahlten Rundfunksendung der British Broadcasting Corporation (BBC) fragte der Träger des Nobelpreises für Literatur Thomas Mann (1875–1955):
„,Nach den Informationen der polnischen Exil-Regierung sind alles in allem bereits 700.000 Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden. […] Wisst Ihr Deutschen das? Und wie findet ihr es?“
Zynisch schrieb dagegen am 7. Dezember 1942 ein Wehrmachtssoldat nach Hause, dass in Auschwitz wöchentlich 7.000 bis 8.000 Juden ankämen, „die nach kurzem den ,Heldentod‘ sterben. Es ist doch gut, wenn man einmal in der Welt umher kommt…“ (Text 9).
In seiner Studie „,Davon haben wir nichts gewusst!‘ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945“ untersucht der Historiker Peter Longerich (2007) den Wissenstand der Bevölkerung im Deutschen Reich über den Holocaust und gelangt für das Jahr 1942 zu dem Befund, dass sich in Deutschland zunehmend Gerüchte über die Ermordung der Juden verbreiteten, häufig über Erschießungen spekuliert wurde und es auch Mutmaßungen über den Massenmord mit Giftgas gab, wobei konkrete Informationen über die Vernichtungslager kaum im Umlauf waren, aber: „Vielen war klar, dass die Deportierten dem Tod entgegensahen“. Darüber hinaus verweist Longerich auf eine von Hermann Göring am 5. Oktober in Berlin gehaltene Rede, die im Radio ausgestrahlt und später in den Zeitungen verbreitet wurde. Ähnlich wie Goebbels in seinem Tagebuch von einem „Kampf auf Leben und Tod zwischen der arischen Rasse und dem jüdischen Bazillus“ gesprochen hatte, fragte Göring seine Zuhörer in aller Öffentlichkeit und Offenheit:
„,Was würde denn das Los des deutschen Volkes sein, wenn wir diesen Krieg nicht gewinnen würden? […] Unsere Frauen würden dann eine Beute der wollüstigen hasserfüllten Juden werden. Deutsches Volk, du musst wissen: Wird der Krieg verloren, dann bist du vernichtet. Der Jude steht mit seinem nie versiegenden Hass hinter diesem Vernichtungsgedanken […]. Dieser Krieg ist nicht der zweite Weltkrieg, dieser Krieg ist der große Rassenkrieg. Ob hier der Germane und Arier steht oder ob der Jude die Welt beherrscht, darum geht es letzten Endes und darum kämpfen wir draußen‘“.
Tatsächlich standen der Nationalsozialismus und seine Helfer mit „nie versiegendem Hass“ hinter dem antisemitischen Vernichtungsgedanken. In einer Rede vor Wehrmachtsgenerälen in Sonthofen (24. Mai 1944) sowie zuvor in zwei seiner insgesamt drei Posener Reden sprach Himmler vor jeweils unterschiedlichem Publikum offen über den Holocaust: Am 4. Oktober 1943 vor hochrangigen SS-Führern, zwei Tage später vor den Reichs- und Gauleitern der NSDAP sowie Führungspersönlichkeiten aus Militär und Wirtschaft, darunter Speer, der bis zu seinem Tod 1981 als gefragter Interviewpartner seine Lebenslüge verbreitete, die „Judenverfolgung sei im Geheimen vollzogen worden, kaum jemand habe in den NS-Führungskreisen davon gewusst“ (Isabell Trommer, 2016). Am 4. Oktober erklärte Himmler:
„Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. […] Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ,Das jüdische Volk wird ausgerottet‘, sagt ein jeder Parteigenosse, ,ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‘ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte, denn wir wissen, wie schwer wir uns täten, wenn wir heute noch in jeder Stadt – bei den Bombenangriffen, bei den Lasten und bei den Entbehrungen des Krieges – noch die Juden als Geheimsaboteure, Agitatoren und Hetzer hätten. Wir würden wahrscheinlich jetzt in das Stadium des Jahres 1916/17 [= Dolchstoßlegende] gekommen sein, wenn die Juden noch im deutschen Volkskörper säßen. Die Reichtümer, die sie hatten, haben wir ihnen abgenommen. Ich habe einen strikten Befehl gegeben […], dass diese Reichtümer selbstverständlich restlos an das Reich abgeführt wurden. Wir haben uns nichts davon genommen. Einzelne, die sich verfehlt haben, werden gemäß einem von mir zu Anfang gegebenen Befehl bestraft, der androhte: Wer sich auch nur eine Mark davon nimmt, der ist des Todes“.
Befreiung des Lagerkomplexes Auschwitz | In etwa vor diesem Ereignishintergrund, der an dieser Stelle lediglich ansatzweise beschrieben werden kann, geschah, was Hédi Fried und ihrer Familie in Auschwitz im Mai 1944 zustieß: Die Eltern wurden noch am Tag ihrer Ankunft in der Gaskammer ermordet, Hédi und ihre jüngere Schwester Livia wurden später in drei Hamburger Außenlager des größten Konzentrationslagers in Nordwestdeutschland, Neuengamme, und anschließend nach Bergen-Belsen gebracht, wo beide am 15. April 1945 zusammen mit etwa 60.000 anderen Gefangenen von britischen Soldaten befreit wurden. Aufgrund der mehr als katastrophalen Zustände in Bergen-Belsen an Typhus erkrankt, waren wenige Wochen zuvor auch Anne Frank (1929–1945) und ihre Schwester Margot (1926–1945) in dem Konzentrationslager gestorben. Knapp ein Vierteljahr zuvor hatte die Rote Armee am 27. Januar 1945 in Auschwitz etwa 7.650 Überlebende, vorwiegend Kranke, befreit, wobei 231 sowjetische Soldaten bei den Kämpfen um die Stadt Auschwitz und das Vernichtungslager starben. In den wenigen – aus Furcht vor der Entdeckung ihrer Gräuel – von der SS auf Befehl Himmlers zerstörten Magazinbeständen des Konzentrations- und Vernichtungslagers endeckten die sowjetischen Soldaten 1.680.000 Kleidungsstücke (Herren- und Damenbekleidung), Kinder- und Babykleidung, 44.000 Paar Schuhe und 7,7 Tonnen menschliches Haar, in Papiertüten fertig zum Transport, um nach Deutschland gebracht und gewinnbringend in den Güter- und Wirtschaftskreislauf eingespeist zu werden.
Insgesamt hatten die Nationalsozialisten und ihre Schergen in ihrem Machtbereich mehr als 10.000 Lager für „,Gegner aller Art’“ eingerichtet: „Konzentrations- und Vernichtungslager mit zahlreichen Außenstellen, Zwangsarbeiter- und Gefangenenlager, Ghettos und Arbeitslager, viele dieser Lager auch oder nur für Juden“ (Hans-Ulrich Wehler, 1996). Laut Angaben des United States Holocaust Memorial Museum in Washington D. C. (USA) starben unter anderem etwa sechs Millionen Juden, etwa sieben Millionen sowjetische Zivilisten, etwa drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, etwa 312.000 serbische Zivilisten, bis zu 250.000 Menschen mit Behinderungen, bis zu 250.000 Sinti und Roma, etwa 1.900 Zeugen Jevohas, mindestens 70.000 „Wiederholungsstraftäter und sogenannte Asoziale“, eine unbestimmte Zahl politischer Gegner und Widerstandskämpfer sowie vermutlich Tausende Homosexuelle. – All diese Fakten sind in einer – auch für Fachhistoriker und andere Experten – kaum zu über- sehenden Anzahl von Augenzeugenberichten, Filmen, Fotografien, Gerichtsurteilen, geschichtswissenschaftlichen Darstellungen, Zeitungsartikeln usw. in vielen Facetten mannigfach beleuchtet, dokumentiert und analysiert.
„Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik | „Heute geht die Forschung“, so der Historiker Frank Bajohr (2017), der in München am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) das Zentrum für Holocaust-Studien leitet, „von rund 200.000 bis 250.000 deutschen und öster- reichischen Tätern aus“. Von den in Auschwitz eingesetzten Angehörigen der SS-Lagermannschaft (zwischen 7.200 und 8.500) kamen nur etwa 800 vor Gericht, die meisten (700) in Polen. Fünf der sechs Lagerkommandanten, darunter Rudolf Höß, wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet bzw. starben kurz vor der Vollstreckung. Der letzte Kommandant von Auschwitz, Richard Baer (1911–1963), starb kurz vor Beginn des Frankfurter Auschwitz-Prozesses in Untersuchungshaft. Ihm war es gelungen, nach Kriegsende bis Dezember 1960 unter einem anderen Namen zu leben und in der Nähe von Hamburg zu arbeiten.
Es ist vor allem das Verdienst des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903–1968), dass er im Frankfurter Auschwitz-Prozess die „nationalsozialistische Willkürherrschaft zu einem Gegenwartsthema in der jungen Bundesrepublik machte“, so der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle im Jahr 2015. Nach einer langen Phase der Verdrängung in den 1950er Jahren zwang Fritz Bauer zusammen mit seinen Mitarbeitern eine unwillige und in Teilen tatbeteiligte Gesellschaft zum Hinsehen „auf ein soziales Phänomen“ der fabrikmäßigen Arbeitsteilung als das „zentrale Strukturmerkmal des Holocaust“ (Ronen Steinke, 2018). Dagegen gelang es Speer mit seinen 1969 erschienenen und in mehr als 15 (!) Sprachen übersetzten „Erinnerungen“, den „geläuterten und reuigen“ Nationalsozialisten zu geben, worauf viele in Deutschland mit Erleichterung reagierten: „Wenn schon ein derart wichtiger Politiker wie Speer von Auschwitz nichts gewusst hatte, wie wollte man da dem Normalbürger seine Blindheit vorwerfen[?]“ (Nicole Colin, 2015.)
Im Vorwort des von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz 2015 in überarbeiteter und erweiterter, dritter Auflage herausgegebenen „Lexikons der ,Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte nach 1945“ machte Micha Brumlik, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ehemaliger Leiter des Fritz Bauer Instituts, auf Folgendes aufmerksam: „Es waren […] ganze Schichten einer nach allen Kriterien kulturell hochstehenden, zivilisierten Gesellschaft, die keineswegs unter Zwang alles preisgaben, was ihnen ihr Glaube und ihre Kultur mitzuteilen hatten“:
„Offiziere ohne Ehre, Mediziner ohne hippokratisches Ethos, Juristen ohne Rechtsgefühl, Theologen ohne Glauben, Beamte ohne Rechtsempfinden sowie Ökonomen ohne Anstand, Wissenschaftler ohne Moral, die eine faschistische Diktatur rechtfertigten und stützten, einen Angriffskrieg exekutierten und in seinem Rahmen die Stigmatisierung und Beraubung, dann die Ermordung von Hundertausenden Sinti und Roma, sechs Millionen Juden und Abermillionen von Sowjetbürgern entweder mit betrieben oder billigend in Kauf nahmen“.
Die von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main sowie zuvor in Israel 1961 gegen Eichmann, wie bereits oben angedeutet, unter anderem für die Deportation der Juden im Rahmen der „Endlösung“ zuständig, geführten Prozesse gaben den Anstoß, Auschwitz zum Synonym für den Holocaust zu machen. In einem am 11. April 2019 veröffentlichten Interview schilderte der stellvertretende Ankläger des Eichmann-Prozesses, Gabriel Bach, dessen Familie aus Deutschland (1938) über die Niederlande nach Palästina (1940) auswanderte, die Aussage eines Augenzeugen und seine eigene persönliche Betroffenheit hierüber. In der Zeitung Die Zeit hieß es unter der Überschrift „Er [i. e. Eichmann] war so besessen, dass er sich sogar über Hitler hinwegsetzte“:
„Er [der Augenzeuge] hat erzählt, wie er mit 200 anderen Kindern in die Gaskammer geführt wurde. Dort hat man abgeschlossen – und es war absolut dunkel. Die Kinder haben angefangen zu singen, um sich Mut zu machen. Er sagte, einige Minuten haben wir gesungen und als erst nichts geschah, haben wir angefangen zu weinen und zu schreien. Und da öffnete sich die Tür. Wir Staatsanwälte haben später über andere Beweise erfahren: Da war ein Zug mit Kartoffeln in Auschwitz angekommen, und es gab nicht genug SS-Leute, um ihn zu entladen. Man hat die Tür aufgemacht und 30 Kinder, die nahe am Eingang standen, herausgenommen – er war einer von denen. Dann hat man wieder abgeschlossen und die anderen 170 wurden gleich getötet. Die 30 haben bei der Entladung der Kartoffeln geholfen, dann wurden sie auch getötet. Aber der wachhabende SS-Mann hat behauptet, dieser Junge hätte einen Schaden an einem der Lastwagen angerichtet, und gesagt: Bevor der Junge mit der nächsten Gruppe ebenfalls getötet wird, soll er als Strafe ausgepeitscht werden. Der SS-Mann, der ihn auspeitschen sollte, hat aber eine Zuneigung zu dem Jungen entwickelt und stellte ihn als Schuhputzer an. Auf diese Weise war er der Einzige von den 200, der am Leben geblieben ist. […] Es gab viele grausame Momente während des Prozesses, aber bei dieser Geschichte mit den singenden und weinenden Kindern haben auch die Richter eine Pause anberaumt. Ich blieb wie erstarrt auf meinem Platz sitzen“.
Nachdem Fritz Bauer den israelischen Behörden den entscheidenden Hinweis gegeben hatte, entführte der israelische Geheimdienst Eichmann (alias Ricardo Klement) am 11. Mai vor sechzig Jahren aus Buenos Aires. 1946 aus einem amerikanischen Internierungslager entwichen, war Eichmann – ebenso wie Tausende andere national- sozialistische Kriegsverbrecher – 1950 mit Hilfe eines „breiten Netzwerks der römisch-katholischen Kirche“ (Clara Akinyosoye, 2015) über Italien nach Argentinien gelangt, wobei sich – mitten im Kalten Krieg – hieran auch andere Akteure beteiligten. Dabei handelten die Geistlichen, so der österreichische Historiker Gerald Steinacher (2008), aus unterschiedlichen Motiven: Sympathie mit dem Nationalsozialismus, Antikommunismus, theologische Argumente (Vergebung).
Björn Höcke: „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!“ | Liest man heute eine von dem Rechtsextremisten Höcke am 17. Januar 2017 in Dresden gehaltene Rede, so wird Folgendes deutlich: Der maßgebliche Funktionär der AfD und des mittlerweile formal aufgelösten Flügels der AfD, der in Hessen an zwei Universitäten unter anderem Geschichtswissenschaft für das Lehramt am Gymnasium studierte und zeitweise unterrichtete, will den politischen bzw. erinnerungspolitischen Kurs und den seiner Anhänger offensichtlich in eine nichtdemokratisch verfasste Zukunft lenken. Höcke kritisiert, immer wieder vom Beifall der Zuhörer unterbrochen, die „nach 1945 begonnene systematische Umerziehung“, bezeichnet in diesem Kontext das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als „Denkmal der Schande“ und fordert eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!“:
„Mit der Bombardierung Dresdens und der anderen deutschen Städte wollte man nichts anderes als uns unsere kollektive Identität rauben. Man wollte uns mit Stumpf und Stiel vernichten, man wollte unsere Wurzeln roden. Und zusammen mit der dann nach 1945 begonnenen systematischen Umerziehung hat man das auch fast geschafft. Deutsche Opfer gab es nicht mehr, sondern es gab nur noch deutsche Täter. Bis heute sind wir nicht in der Lage, unsere eigenen Opfer zu betrauern. […] (Applaus) […] Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung, unser Gemütszustand immer noch der eines total besiegten Volkes. (Applaus) Wir Deutschen – und ich rede jetzt nicht von euch Patrioten, die sich hier heute versammelt haben – wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat. (Applaus) Und anstatt die nachwachsende Generation mit den großen Wohltätern, den bekannten weltbewegenden Philosophen, den Musikern, den genialen Entdeckern und Erfindern in Berührung zu bringen, von denen wir ja so viele haben […] [,] und anstatt unsere Schüler in den Schulen mit dieser Geschichte in Berührung zu bringen, wird die Geschichte, die deutsche Geschichte, mies und lächerlich gemacht. So kann es und darf es nicht weitergehen! (Jubel, längerer, stehender Applaus, Rufe: ,Höcke, Höcke!‘) […] Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad! (Applaus) […] Wir brauchen eine lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt. (Applaus)“.
Abgesehen von inhaltlichen Unrichtigkeiten (Samuel Salzborn, 2020, spricht von einer schlichtweg „unverfrorene[n] und schamlose[n] Lüge“), steht jemand, der solches sagt, mit dem Treitschke des 19. Jahrhunderts auf einer Stufe. Mittels der Fokussierung auf die angeblich nicht vorhandenen „deutschen Opfer“ und mit der doppeldeutigen Etikettierung des Berliner Holocaust-Denkmals als „Denkmal der Schande“ unterscheidet ein solcher Redner noch immer zwischen Juden und „Deutschen“. Zu fragen ist: Wenn die nach 1945 begonnene „systematische Umerziehung“ zu kritisieren ist, ist dann die Erziehung von 1933 bis 1945 – zum Beispiel in den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola) der Nationalsozialisten – gutzuheißen? Gehört in diesem Kontext auch die Erziehung vor 1918 im autoritären Kaiserreich?
Zu fragen ist weiterhin: Gehörten die 1941/42 in Riga ermordeten Berliner und Dresdener Juden etwa nicht zu den „deutschen“ Opfern? Ein solcher Redner begreift offensichtlich nicht oder will es nicht begreifen, zumindest artikuliert er es nicht, dass die Berliner und Dresdener Juden zu dem „deutschen Volk“ gehören. Gleichzeitig „vergisst“ ein solcher Redner, dass die von ihm zitierten „bekannten weltbewegenden Philosophen, die Musiker, die genialen Entdecker und Erfinder“ zum Teil deutsche Juden bzw. jüdische Deutsche waren. Wieder ist zu fragen: Sind auch sie Teil seiner „Erinnerungskultur“? Weiß ein solcher Redner nicht, dass in Auschwitz das auf Geheiß der SS eingerichtete Mädchenorchester unter anderem die Werke Johann Sebastian Bachs (1685–1750) spielen musste und sich Mengele am liebsten Robert Schumanns (1810–1856) „Träumerei“ vorführen ließ? Und zuletzt die Frage: Artikuliert sich in dieser Verdichtung von Mord und Kultur nicht in bestürzender Art und Weise der Kultur- und Zivilisationsbruch der noch nicht „Umerzogenen“?
Ein solcher Redner teilt in seiner Agitation („Import fremder Völkerschaften“, „Masseneinwanderung“) aber nicht nur die „massive Überfremdungsangst“ (Matthias Brosch, 2004) Treitschkes, sondern er spricht in anderen Passagen darüber hinaus von der Auflösung eines einst intakten Staats, der Preisgabe der Außengrenzen und dem drohenden Untergang der „einst hoch geschätzte[n] Kultur […] nach einer umfassenden Amerikanisierung“. Wenn es schließlich heißt, „wir werden uns unser [!] Deutschland Stück für Stück zurückholen!“, so ist mit den Worten Victor Klemperers zu befürchten, dass sich ein solcher Parteifunktionär gemeinsam mit seinen Verbündeten und Anhängern anmaßt, allein „die deutsche Volksseele“ zu verkörpern. Offenbar steht dahinter die Absicht, ein „Kommunikationsumfeld“ zu schaffen, das als Basis dient, um die Mitte der Gesellschaft mit dem „Wunsch nach eigener (kollektiver) Unschuld, dem Phantasma des eigenen Opferstatus“ zu infizieren: „Nicht die Deutschen haben etwas getan, sondern den Deutschen wurde etwas angetan“. (Samuel Salzborn, 2020.) Ein anderer Funktionär, der auch auf Treffen des Flügels sprach, erklärte im November 2017 gegenüber einer Tageszeitung:
„Auschwitz geht natürlich ebenso in unsere Geschichte ein wie der Magdeburger Dom oder die Befreiungskriege. Es ist aber nicht unsere heutige demokratische Identität. Es ist nichts, was uns täglich berührt. […] Wir sind heute nicht mehr Auschwitz. Denn das deutsche Volk hat in den fast 75 Jahren seither eine funktionierende Demokratie aufgebaut“.
Was Auschwitz als Synonym für die Singularität des Holocaust betrifft, sind solchen Äußerungen die folgende Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, des höchsten deutschen Gerichts, aus dem Jahr 2009 entgegenzuhalten:
„Das Grundgesetz kann weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden. Die Erfahrungen aus den Zerstörungen aller zivilisatorischer Errungenschaften durch die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft prägen die gesamte Nachkriegsordnung und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Völkergemeinschaft bis heute nachhaltig“.
Anschlag in Halle (Saale, Sachsen-Anhalt) – Atomwaffendivision Deutschland (AWDD) | Mit zahlreichen Schüssen sowie selbstgefertigten Sprengmitteln versuchte am 9. Oktober 2019 ein bis dahin den Sicherheitsbehörden nicht bekannter Rechtsextremist, sich Zugang zu der Synagoge zu verschaffen. Er wollte die etwa 50 Gemeindemitglieder töten, die sich dort versammelt hatten, um den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu begehen. Als dem Täter dies nicht gelang, erschoss er vor der Synagoge eine Passantin und anschließend einen jungen Mann in einem nahegelegenen Döner-Imbiss.
Dieses Ereignis steht in einer Reihe von Anschlägen der letzten Jahre, bei denen junge Männer vorgaben, mit ihren Taten die „weiße Rasse“ zu verteidigen, und bei denen das Internet in zweierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle spielte: Zum einen waren die Täter kaum in rechtsextremistische Organisationen eingebunden, sondern radikalisierten sich stattdessen überwiegend in virtuellen Communities wie 8chan oder Gab; zum anderen verstärkten die Täter die Wirkung ihrer Verbrechen, indem sie über das Internet Bekenntnisse („Manifeste“) verbreiteten und das Geschehen zum Teil sogar live im Internet übertrugen. Als wichtigstes „Vorbild“ dieser Taten ist der Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland) im März 2019 zu bewerten. Auch der Anschlag des norwegischen Massenmörders Anders B. Breivik im Jahr 2011 (77 Tote) und der Anschlag auf eine Synagoge Ende 2018 in Pittsburgh (USA) mit elf Opfern sind in diesem Zusammenhang relevant. Im Rahmen der Live-Übertragung des Verbrechens begründete der Täter seinen Anschlag in Halle (Saale) damit, dass „der Jude“ für den Feminismus, die in dessen Folge sinkenden Geburtenraten in westlichen Ländern sowie die Masseneinwanderung nach Europa verantwortlich sei.
Der Gedanke einer angeblich jüdisch gesteuerten Massenmigration ist in der rechtsextremistischen Szene in der Bundesrepublik Deutschland seit jeher stark verbreitet. Ein Beispiel hierfür ist die AWDD. Ihren Ursprung hat die Gruppierung in den USA, wo sie mit mehreren Morden und schweren Gewalttaten in Verbindung gebracht wird. In Deutschland trat die AWDD 2018 mit dem Video „AWDD Deutschland: Die Messer werden schon gewetzt!“ erstmals in Erscheinung. Im Laufe des Jahrs 2019 verteilte die Gruppierung an mehreren deutschen Hochschulen Flugblätter, unter anderem an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. In einem Flugblatt bezeichnete die AWD den „Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration“ der UN als „weitere Waffe gegen die weiße Rasse“, der zeige, „dass die Juden und ihre Handlanger entschlossen sind, die Invasion in die weißen Länder unaufhörlich weiter voranzutreiben, um die weißen Völker zu vernichten“.
Ein anderes Flugblatt zeigt eine Person, die einer anderen die Kehle durchschneidet, sowie den Schriftzug „Töte Moslems!“ Auf der Rückseite des Flyers heißt es: „Join your local Nazis. Kill your local Rabbi. Kill your local Imam“.
Israelbezogener Antisemitismus | Nicht immer wird der Hass auf Juden so unverblümt wie bei der AWDD artikuliert. Stattdessen arbeiten Antisemiten häufig mit Chiffren, Codes und Anspielungen. Ein Beispiel hierfür sind Plakate der Partei DIE RECHTE anlässlich der Europawahl, die unter anderem in Kassel und in Neukirchen (Schwalm-Eder-Kreis) angebracht waren. Auf einem der Plakate stand die Parole „Israel ist unser Unglück“, mit der DIE RECHTE offensichtlich auf die von Treitschke erfundene und von den Nationalsozialisten unablässig verwendete Parole „Die Juden sind unser Unglück“ Bezug nahm. Indem die Partei das Wort „Juden“ des Treitschke-Satzes durch „Israel“ ersetzte, öffnete sie mit Erfolg eine Hintertür, um sich der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen. So lehnten verschiedene Staatsanwaltschaften Ermittlungen mit der Begründung ab, dass auch eine straffreie Deutung der Plakate möglich sei. Darüber hinaus hatte die Partei DIE RECHTE mit Ursula Haverbeck-Wetzel eine zu zwei Jahren Haft verurteilte Holocaust-Leugnerin als Spitzenkandidatin zur Europawahl aufgestellt und dazu aufgerufen, diese durch einen Wahlsieg aus der „Gesinnungshaft“ zu befreien.
Auch Teile der sogenannten Mitte der Gesellschaft nutzten die Kritik am Staat Israel, um ihre Ressentiments gegenüber Juden auf gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Art und Weise zum Ausdruck zu bringen. Die sozialwissenschaftliche Forschung spricht hier von „Umwegkommunikation“.
In diesem Zusammenhang entwickelte die International Holocaust Remembrance Alliance Kriterien, um berechtigte Kritik an israelischem Regierungshandeln auf der einen und israelbezogenen Antisemitismus auf der anderen Seite voneinander abzugrenzen. 2017 erkannte die Bundesregierung dieses Instrumentarium offiziell an. Demzufolge liegt israelbezogener Antisemitismus unter anderem dann vor, wenn das Existenzrecht Israels negiert oder Israel anhand anderer Maßstäbe beurteilt wird als andere Staaten, sowie wenn klassische antisemitische Stereotype auf den Staat Israel übertragen, Vergleiche zwischen Israel und den Nationalsozialisten gezogen oder Juden weltweit für das Verhalten des israelischen Staates verantwortlich gemacht werden.
Geschichtsrevisionismus und Erinnerungsabwehr | Das Beispiel der Partei DIE RECHTE zeigt außerdem, wie Rechtsextremisten versuchen, die deutsche Geschichte in ihrem Sinne umzudeuten. So wurde die Holocaust-Leugnerin Haverbeck-Wetzel als Märtyrerin und Opfer einer vermeintlichen „Gesinnungsdiktatur“ verehrt. Andere Rechtsextremisten verunglimpften die historische Aufarbeitung des Holocaust und das Gedenken an die Ermordeten als „Schuldkult“ und Instrument der „Siegermächte“. Auf der Internetseite der Partei Der Dritte Weg hieß es etwa über die 1979 erstmals im Fernsehen ausgestrahlte Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“:
„An die Stelle der eigenen, gewachsenen und arterhaltenden Ideale pflanzte der Feind seine verbrecherischen Vorstellungen von einer mit Schuld beladenen nationalen Geschichte in die Köpfe der Deutschen und störte damit das völkische Selbstwertgefühl und den Instinkt zur Selbsterhaltung so weit, dass ein erschreckend großer Teil der Deutschen heute lieber ihr eigenes Volk vom Antlitz der Erde verschwinden sehen würde oder seinem Verschwinden zumindest gleichgültig zusehen“.
Durch Formulierungen wie die „fiktive Geschichte über eine Familie Weiss, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft […] Opfer geworden sein soll“ und „dem deutschen Publikum“ als „Nachfahren von angeblichen Verbrechern“ stellt Der Dritte Weg die Historizität des Holocaust zumindest andeutungsweise in Frage.
Aber auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene nehmen öffentliche Forderungen nach einem „Schlussstrich“ unter der deutschen Vergangenheit und verbale Relativierungen des Nationalsozialismus und des Holocaust zu (sekundärer Antisemitismus). Entsprechende politische Akteure bedienen dabei eine offensichtlich in weiten Teilen der Bevölkerung vorhandene Sehnsucht nach Schuld- bzw. Erinnerungsabwehr. So stimmt wissenschaftlichen Erhebungen zufolge fast die Hälfte der Befragten der Aussage „Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören“ zumindest in Teilen zu. Auch im Rahmen einer Untersuchung des LfV zu „Antisemitischer Agitation in den sozialen Netzwerken“ ließ sich beobachten, dass viele Nutzer auf Medienberichte zu Antisemitismus in Deutschland mit verschiedenen Abwehrreflexen reagierten: Es wurde unterstellt, dass Juden das Thema künstlich aufbauschen, oder es wurde lamentiert, dass es „uns Deutschen“ tatsächlich viel schlechter gehe als „den Juden“. Dies galt sogar dann, wenn diese Medienberichte gar keinen Bezug zum Holocaust herstellten, sondern sich lediglich mit heutigem Antisemitismus beschäftigten. So gelangt die Studie „Verlorene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19“ (2019) zu dem Befund:
„Der generalisierenden und negativen Aussage, dass ,Juden zu viel Einfluss in Deutschland haben’, stimmen 8,1–4,3% der Befragten ,eher’ oder ,voll und ganz’ zu […]. 7,5–4% weisen zudem Juden eine ,Mitschuld an ihren Verfolgungen’ zu. Den modernen und subtileren Formen des sekundären und israelbezogenen Antisemitismus stimmen deutlich mehr Befragte zu. Wird der Antisemitismus über Umwege kommuniziert, sind 21,6–12,5% der Meinung, Juden wollten die Vergangenheit zu ihrem Vorteil nutzen. 26,6–16,3% geben an, aufgrund von politischen Handlungen des Staates Israel gut verstehen zu können, wenn man etwas gegen Juden hat und 39,4–27,3% der Deutschen setzen die Verbrechen des Nationalsozialismus mit den Handlungen des Staates Israel im israelisch-palästinensischen Konflikt gleich. Jede zehnte befragte Person stimmt den Aussagen zum klassischen Antisemitismus zu. Rund ein Viertel der Befragten stimmt vor allem dem israelbezogenen Antisemitismus zu und lehnt die Aussagen demnach nicht deutlich ab“.
„Erziehung zur Mündigkeit“ wegen und nach Auschwitz | Die Rede Höckes (sowie andere in seinem Umfeld getätigte öffentliche Äußerungen) und viele andere ähnliche Ereignisse stehen im Kontext eines vielfältigen Umbruchs unserer Erinnerungskultur. Diese Zäsur begann sich 1986/87 mit dem „Historikerstreit“, seit Anfang der 1990er Jahre mit der Debatte um ein in Berlin zu errichtendes Holocaust-Mahnmal sowie mit der umstrittenen Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht von 1941–1944“ (1995) abzuzeichnen, wobei die „Wehrmachtsausstellung“ „hochgradig emotionale Reaktionen“ auslöste, die sich „ab 1996/97 zu einem nahezu gesamtgesellschaftlichen Skandal ausweiteten“ (Lena Knäpple, 2015). Damit begannen die „Erinnerungskontroversen der Berliner Republik“ (Fischer/Lorenz, 2015), die heute, so wie es Aleida Assmann bereits im Titel ihres 2020 erschienenen Buchs „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention“ andeutet, aus vielerlei Gründen mit etlichen Problemen behaftet sind. Dazu gehört, dass die „Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust […] bald ausschließlich mediatisiert“ (Assmann) sein wird, verbunden mit einem starken Wandel der Medienlandschaft insbesondere wegen des Gebrauchs, auch Missbrauchs und der entsprechenden Wirkung der sozialen Medien.
Angesichts der von Höcke propagierten volksbezogenen und geschichtsvergessenen Eindimensionalität des Denkens und Handelns muss es das Anliegen und die Pflicht aller Demokraten sein, auch kleinste, scheinbar unbedeutende „Ungerechtigkeiten“ zu verhindern, bevor sie – für viele aufgrund der Gewöhnung nahezu unmerklich – in der Summe so schwer werden, dass sie „nicht länger zu [er]tragen“ (Hédi Fried, 2019) sind. Es gilt, sich darüber bewusst zu sein, dass das ungeheuerliche Geschehen in Auschwitz sich nicht grundlos von einem auf den anderen Tag ereignete. Es gilt sich vor Augen zu halten, dass es sich auch bei heutigen extremistischen Bestrebungen um einen kleinteiligen Prozess handelt, in den man sich angesichts kleinster, kaum wahrnehmbarer, scheinbar harmloser „Ungerechtigkeiten“ nicht integrieren lassen darf. Gab es vor 1918 immer wieder einzelne oder epochenbezogene und unterschiedlich motivierte antisemitische Vorkommnisse, so verdichteten sich diese, wie oben gezeigt, seit 1918 zu einem voranschreitenden Prozess, der – in sich keineswegs stringent – mit dem singulären, fürchterlichen Menschheitsverbrechen des Holocaust endete.
Einem pädagogischen Appell des in Frankfurt am Main geborenen Philosophen Theodor Adorno (1903–1969) ist zuzustimmen. Er war – nach nationalsozialistischer Definition – ein „Halbjude“, verlor 1933 seine Lehrbefugnis, emigrierte 1934 aus Deutschland, kehrte 1949 nach Frankfurt am Main zurück und leitete dort zusammen mit dem Philosophen Max Horkheimer (1895–1973) das Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. In Adornos 1971 posthum erschienener Schrift „Erziehung zur Mündigkeit“ heißt es: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung[!]. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen“. So vertrat auch Hédi Fried 2010 bei der Tagung „Überlebende und ihre Kinder“ im Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme folgende Überzeugung: „,Die Erziehung ist die einzige Waffe gegen Rechtsradikalismus, die wir haben’“. Denn die emotionslose Marginalisierung des Antisemitismus (hierfür steht unter anderem der Fall Speer als „schuldlose Verstrickung“, Nicole Colin, 2015) und die Marginalisierung anderer Ausprägungen von Extremismus (vor allem Rassismus) beginnen in den Köpfen und setzen sich im Alltag, in Geschäften, Büros, Verkehrsmitteln usw. fort. Diese Marginalisierung kann, wie Micha Brumlik (2015) es nennt, zu den „ohne“-Attributen führen: „Offiziere ohne Ehre“, „Mediziner ohne hippokratisches Ethos“ usw. So waren es „ganz normale Männer“ (Christopher R. Browning, 1996), die in Polen bei den Massenerschießungen mordeten.
Die Notwendigkeit einer Demokratieerziehung – im weitesten Sinne kognitive, faktenbezogene und affektive Bildung in allen Lebensabschnitten – müssen wir entgegen der von Adorno konstatierten Selbstverständlichkeit in unserer Gegenwart leider begründen. Diese Erziehung zur Demokratie muss auch neu in ihrer Funktionalität und Wirkung überdacht werden, wenn, so wie 2019 an einer Schule in Grünberg (Landkreis Gießen) geschehen, mehrere Schüler nach dem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald auf einem Smartphone antisemitische Lieder abgespielt und mitgesungen haben sollen. Als in Halle (Saale) im Mai 2020 Demonstranten gegen die staatlichen „Corona-Maßnahmen“ protestieren und als sichtbares Zeichen ihrer vermeintlichen „Unterjochung“ T-Shirts mit aufgedrucktem Judenstern sowie Anne-Frank-T-Shirts trugen, ging der Großteil der Passanten achtlos vorbei (Text 7). Das Tragen der Kleidungsstücke im Zusammenhang mit einer Unmutsbekundung gegen „Corona-Maßnahmen“ ist ebenso wie die wegschauende Teilnahmslosigkeit der Passanten in Anbetracht dessen, was den Opfern der nationalsozialistischen Gewalt- und Terrorherrschaft und Anne Frank persönlich widerfuhr, nicht nur geschmacklos, sondern zeugt von einer eminenten Geschichtsvergessenheit. Ähnlich wie in dem Theaterstück „Die verkehrte Welt“ (Ludwig Tieck, 1773–1853) wurden sowohl in Halle (Saale) als auch in Dresden in grotesker Weise Rollen vertauscht, Tatsachen verdreht und äußerst Bedenkliches beklatscht, sodass der Verlust eines jeglichen Realitätssinns dieser Akteure festzustellen ist. Mit Blick auf die Ereignisse in Halle (Saale) und die Äußerungen Höckes, der zusammen mit seinem Umfeld sogar in den Parlamenten sitzt, ist – angelehnt an Hédi Fried – leider zu fragen: Wann wird die „nächste Ungerechtigkeit kommen“ bzw. wann wird es wieder eine Bluttat geben?
Diesen Entwicklungen muss mit jedem individuellen Engagement sowie mit allen gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen rechtzeitig und energisch entgegengetreten werden, bevor sich Ungerechtigkeiten zu einer Schwere verdichten, die nicht mehr zu ertragen ist. Angesichts der rechtsextremistischen Anmaßung „Wir sind das Volk“ kann sich niemand, so wie es als Leitmotiv vor dem Beginn der eigentlichen Geschichte in „Damals war es Friedrich“ heißt, sicher sein: „Damals waren es die Juden… Heute sind es dort die Schwarzen, hier die Studenten… Morgen werden es vielleicht die Weißen, die Christen oder die Beamten sein…“ Daher initiierte das LfV gemeinsam mit dem Landkreis Hersfeld-Rotenburg im Jahr 2019 das Präventionsprojekt „Begegnungen gegen Antisemitismus“, um etwaige Ressentiments oder Berührungsängste nachhaltig zu überwinden bzw. erst gar nicht als „Sandkorn“ (Hédi Fried) entstehen zu lassen (siehe hierzu oben das Kapitel Öffentlichkeits- und Präventionsarbeit).
Zum Schluss ist der Ausgangspunkt Auschwitz noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen: Ausgehend von einer Anregung des Frankfurters Mitbürgers und Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis (1927–1999), erklärte Bundespräsident Roman Herzog (1934–2017) Anfang 1996 den 27. Januar zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Dabei stand Ignatz Bubis seit seiner Wahl zum Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland (1992), so Michael Lenarz, einer der beiden stellvertretenden Direktoren des Jüdischen Museums Frankfurt, als eine positiv „Symbolfigur“ im „Mittelpunkt eines nationalen, ja sogar internationalen Interesses“. Allerdings seien seine letzten Jahre von dem Konflikt mit Martin Walser überschattet worden, der Ignatz Bubis an der „Bereitschaft der deutschen Gesellschaft zweifeln ließ, sich auch in Zukunft ernsthaft mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und ihren Folgen auseinandersetzen zu wollen“.
Anlässlich der Befreiung der wenigen Überlebenden des Konzentrations-, Zwangsarbeiter- und Vernichtungslagers Auschwitz erklärte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 29. Januar 2020 im Bundestag: „Wir vergessen nicht, was geschehen ist! Aber wir vergessen auch nicht, was geschehen kann!“