Autonome sind undogmatische und organisationskritische Linksextremisten, die sich zum Teil diffus an verschiedenen kommunistischen und anarchistischen Deutungsmustern orientieren. Das staatliche Gewaltmonopol lehnen Autonome ab und sehen eigene Gewaltanwendung („Militanz“) zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele als legitim bzw. berechtigt an. Starren Organisationsstrukturen stehen „klassische“ Autonome kritisch bis ablehnend gegenüber und beharren stattdessen auf ihrer Selbstbestimmtheit. Autonome organisieren sich überwiegend in losen Gruppen, zwischen denen oft nur aktions- und anlassbezogene lockere Netzwerke bestehen.
Teile der autonomen Szene sind seit einigen Jahren allerdings von diesem Selbstverständnis abgerückt. Die mangelnde Strategie sowie die Organisations- und Theoriefeindlichkeit „klassischer“ Autonomer erachten sie als wenig zielführend: Anstelle der Revolution bevorzugt dieser Teil der Szene, der als postautonom bezeichnet wird, eine langfristige Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Hierfür greifen Postautonome gesamtgesellschaftlich relevante Themen auf und setzen auf eine auch das gesamte linksextremistische Spektrum umfassende Bündnispolitik, die eine Zusammenarbeit mit nichtextremistischen Akteuren ausdrücklich einschließt. Dementsprechend vermeiden Postautonome in der Regel ein offenes Bekenntnis zur Gewalt. Stattdessen verwenden sie eher unbestimmte Begriffe wie „ziviler Ungehorsam“ oder sprechen davon, „Polizeiketten durchfließen“ zu wollen. Damit bieten Postautonome für ihre „Aktionen“ einen weiten Interpretationsspielraum, der sowohl gewaltorientierten als auch gewaltablehnenden Personen eine Teilnahme ermöglicht.
Die bundesweit bedeutendsten postautonomen Organisationen waren im Berichtszeitraum die Interventionistische Linke (IL) und mit Abstrichen das sich selbst als „kommunistisch“ definierende Bündnis …umsGanze! (uG). Während die Gruppe kritik&praxis – radikale Linke [f]rankfurt Teil des …umsGanze!-Bündnisses war, organisierten sich in der IL die Gruppen d.o.r.n. (Kassel), d.i.s.s.i.d.e.n.t. (Marburg), IL Darmstadt und IL Frankfurt.
Wie bereits im Berichtsjahr 2018 legte die autonome Szene auch 2019 einen Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf das Themenfeld „Antifaschismus“. Mit einer Vielzahl von Demonstrationen und Aktionen machte die Szene wiederholt auf den „fortschreitenden Rechtsruck“ in der Gesellschaft aufmerksam und zeigte sich solidarisch mit den Opfern „rechter Gewalt“. Gleichzeitig unterstellte die autonome Szene dem Staat, rechtsextremistische Vorkommnisse in den Sicherheitsbehörden nicht konsequent zu ahnden.
Im Kontext der Klima- und Umweltschutzbewegung versuchten Autonome verstärkt Einfluss auf Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion (XR) zu nehmen und führten entsprechende Aktionen durch. Darüber hinaus gewann das Themenfeld „Kurdistan-Solidarität“ wegen des Einmarschs der türkischen Armee in von Kurden besiedelte Gebiete in Syrien an Bedeutung. Autonome Gruppen führten Solidaritätsaktionen durch und verbündeten sich mit Organisationen, die der Partiya Karkerên Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) nahestehen.
Auf einen Blick
„Antifaschismus“: Outings und Demonstrationen | Um vermeintliche oder tatsächliche rechtsextremistische Aktivitäten, Personen und Szeneobjekte öffentlich anzuprangern und gesellschaftlich zu brandmarken, sammelten Autonome – häufig detaillierte – Informationen, um diese in Outings zu veröffentlichen. So wurde im Januar eine Studierende während einer Vorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Aktivistin der rechtsextremistischen Identitären Bewegung geoutet. Die Aktivisten teilten Flyer an die Anwesenden aus, weitere Flyer wurden auf dem Campus verteilt und Plakate in den Räumlichkeiten der Universität angebracht. Neben persönlichen Daten, wie Adresse und Studienfach, enthielten die Flugblätter Informationen über Kontaktverhältnisse innerhalb der rechtsextremistischen Szene und entsprechende Aktivitäten. Zudem wurde ein Bericht über das Outing auf der häufig von Linksextremisten benutzten Internetplattform de.indymedia.org veröffentlicht und in den sozialen Medien durch autonome Gruppen geteilt. Darüber hinaus kam es im Laufe des Berichtsjahrs vereinzelt zu weiteren Outing-Aktionen.
Im Raum Mittelhessen war die gegen Angehörige von Burschenschaften gerichtete Internetpräsenz Stadt, Land, Volk besonders aktiv und veröffentlichte Berichte im Stil von Outings, um „Netzwerke auf[zu]decken!“ und den „(Neu-)Rechten Bewegungen den Aufwind [zu] nehmen“. Hierzu hieß es im August auf der Interseitseite von Stadt, Land, Volk:
„Extrem rechte Burschenschaften sind als Rückgrat der ,Neuen Rechten‘ zu sehen. Sie sind nicht nur Mitorganisatoren des Rechtsrucks, sondern treiben ihn aktiv voran. Sie fungieren als Bindeglied zwischen verschiedenen extrem rechten Organisationen, bieten personelle Kontinuitäten und stellen für sie wichtige Infrastruktur. Burschenschaften haben die Räume, das Geld und die entsprechende Sozialisation, inklusive passendem reaktionären Männlichkeitsbild“.
Weiterhin fanden mehrere größere Demonstrationen und Protestaktionen mit linksextremistischer Beteiligung gegen Aktivitäten und Strukturen von vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsextremisten statt. Vor allem infolge des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke und aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit der Täterschaft eines Rechtsextremisten, so ein Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 22. August, kam es in Hessen zu Solidaritätsbekundungen und Demonstrationen. Daran beteiligte sich die linksextremistische Szene in unterschiedlicher Intensität:
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Frankfurt am Main, 23. März: Eine von der autonomen Szene initiierte und getragene Demonstration mit etwa 1.300 Personen („Solidarität mit allen Betroffenen! Gemeinsam gegen den Rechtsruck von Staat und Gesellschaft“) sollte „Solidarität mit den Opfern rechter Gewalt“ zeigen, eine „unabhängige Aufklärung der Geschehnisse um den NSU 2.0“ in die Wege leiten und ein „Zeichen gegen die autoritäre Formierung von Staat und Gesellschaft“ setzen. Auslöser waren die Bedrohung einer Frankfurter Rechtsanwältin, die Angehörige von Opfern im NSU-Prozess vor dem OLG München vertreten hatte, und unter anderem in den Medien erhobene Vorwürfe, dass hessische Polizisten in rechtsextremistische Strukturen verstrickt seien. In dem Aufruf von kritik&praxis – radikale Linke [f]frankfurt hieß es:
„Die Polizei entlarvt sich hier nicht allein als Apparat, der sich im Zweifelsfall einfach selbst reguliert, sondern auch als politischer Akteur mit Eigeninteresse. Die Tendenz der antidemokratischen Verselbständigung ist dabei strukturell in den polizeilichen, geheimdienstlichen und sicherheitspolitischen Apparaten angelegt, da sich ihre Legitimationsberechtigung gerade daraus ergibt, den kapitalistischen Staat mit seiner zugrundeliegenden Eigentumsordnung gegen seine Bevölkerung und im Zweifelsfall auch gegen seine Regierung zu schützen. Die Zusammenarbeit mit nihilistischen Vaterlandsschützer*innen gehört daher konstitutiv zum Kapitalismus. Geschützt wird ein Herrschaftssystem mit ausbeuterischer Kapitalakkumulation“.
Die autonome Gruppierung siempre*antifa Frankfurt/M erklärte:
„Der Faschismus kommt aus dem bürgerlichen Staat: Der Faschismus war schon historisch ein Herrschaftsprojekt aus den reaktionärsten Teilen der bürgerlichen Gesellschaft. Er hat keineswegs vom gesellschaftlichen Rand die Macht ergriffen, sondern wurde von bestimmten Teilen der politischen, militärischen und administrativen Elite und des Staatsapparats sowie der Großindustrie – ergo der herrschenden Klasse – in ein Bündnis integriert […]. Der #NSUKomplex hat eindrücklich gezeigt, dass mit dem Staatsapparat verbandelte neo-faschistische Netzwerke bis heute existieren. […] Eine Kritik an Neo-Faschisten muss vor diesem Hintergrund immer eine radikale Kritik am bürgerlichen Staat mit einschließen“.
(Schreibweise wie im Original.)
Während der Demonstration vermummte sich ein Teil der Teilnehmer; außerdem wurden vereinzelt pyrotechnische Gegenstände gezündet. Im Vorfeld hatten autonome Gruppen hessenweit Mobilisierungstreffen durchgeführt. Darüber hinaus hatten unter anderem das Antifaschistische Kollektiv 069 (AK.069), das Offene Antifaschistische Treffen (OAT) Darmstadt und Marburg sowie bundesweit Linksextremisten für die Demonstration aufgerufen.
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Frankfurt am Main, 18. Juni: Eine nicht angemeldete Demonstration, zu der Gruppierungen aus der linksextremistischen Szene in Hessen – darunter die Antifa United Frankfurt (AUF), AK.069 und siempre*antifa Frankfurt/M – über die sozialen Medien mobilisiert hatten, richtete sich „gegen den Rechtsruck der vermeintlichen Mitte“:
„Die Aufdeckung immer weiterer Verstrickungen von Staatsbediensteten in rechte Netzwerke lässt dabei für uns nur den Schluss zu, sich im Kampf gegen Rassismus und Neonazismus auf sich selbst zu Verlassen. Organisiert den antifaschistischen Selbstschutz! Zerschlagt die Neo-Nazi Netzwerke. Für einen gesellschaftlichen Antifaschismus – gegen den Kuschelkurs mit Rechts“.
(Schreibweise wie im Original.)
Der Betreiber der eigens für die Demonstration zwecks Mobilisierung eingerichteten Facebook-Seite sahen es als Erfolg an, dass „sich so viele Menschen kurzfristig solidarisch zusammengefunden haben, um für eine freiere, antifaschistische Gesellschaft zu demonstrieren“. Laut Presseangaben hatten etwa 400 Personen an der Demonstration teilgenommen.
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Kassel, 19. Juni: Ebenfalls unangemeldet zogen etwa 40 Personen, darunter Linksextremisten, mit Fahnen und Transparenten durch die Innenstadt. Auf der Internetplattform de.indymedia.org wurden anschließend Berichte über die Aktion publiziert.
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Kassel, 22. Juni: An einer Demonstration unter dem Motto „Gemeinsam gegen rechten Terror“, für die im Vorfeld – neben zahlreichen nichtextremistischen Gruppen bzw. Organisationen – auch regionale und anarchistische Gruppierungen wie zum Beispiel T.A.S.K., d.o.r.n., Anarchistische Aktion & Organisierung (A&O) und AUF mobilisiert hatten, nahmen etwa 1.200 Personen teil. In dem Aufruf „Gemeinsam gegen rechten Terror!“ hieß es:
„Naziterror entsteht nicht isoliert. Durch den andauernden gesellschaftlichen Rechtsruck werden gewaltbereite Rechtsradikale immer mehr ermutigt, zur Tat zu schreiten. Der Einzug einer völkisch-nationalistischen Partei in alle politische Ebenen macht menschenfeind- liches Gedankengut wieder offen aussprechbar – im Bundestag sind Begriffe sagbar, die früher dem Neonazi-Milieu vorbehalten waren. Auch die Praxis der Bundesregierung legitimiert durch immer weitere Verschärfungen der Asylgesetze und durch das Mittragen der tödlichen EU-Abschottungspolitik faktisch den gesellschaftlichen Rechtsruck“.
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Kassel, 20. Juli: Anlässlich eines Aufzugs der Partei DIE RECHTE beteiligten sich etwa 10.000 Personen, darunter auch Linksextremisten, an einer Gegendemonstration unter dem Motto „Gemeinsam gegen den rechten Terror! Kein Fußbreit den Mördern und Faschisten! Naziaufmarsch in Kassel am 20. Juli in Kassel verhindern!“ In dem Bündnis gegen Rechts Kassel waren neben Gewerkschaften und weiteren nichtextremistischen Organisationen auch Linksextremisten wie d.o.r.n., qrew Kassel und T.A.S.K. vertreten. Das Bündnis hatte dazu aufgerufen, für einen „konsequenten, gesellschaftlichen Antifaschismus“ einzustehen und dem „rechten Aufmarsch […] gewaltfrei entgegen“ zu treten. Für die Veranstaltung hatten weitere Gruppierungen aus dem gesamten linksextremistischen Spektrum in Hessen vorab über die sozialen Medien mobilisiert. Trotz der Ankündigung, gewaltfrei zu agieren, verliefen die Demonstration der Partei DIE RECHTE sowie die Gegenproteste nicht gänzlich friedlich, sodass die Polizei unter anderem wegen Verstößen gegen das Waffen- und Versammlungsgesetz eingreifen musste. Zudem warfen Linksextremisten Flaschen auf Teilnehmer der rechtsextremistischen Veranstaltung sowie auf Polizeibeamte.
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Wiesbaden, 24. Juli: Die mutmaßlich dem Umfeld der autonomen Szene zugehörige Gruppe Leftwing Rheingau versuchte einen Stammtisch der AfD-Jugendorganisation JA in einer Gaststätte in Wiesbaden zu stören, indem sie von einem mobilen Gerät Musik abspielte. Als die JA-Angehörigen hierauf nicht reagierten, verließen einige Linksextremisten die Gaststätte und betitelten die Stammtischteilnehmer als „dreckiges Nazipack“. Die übrigen Aktivisten enthüllten ein Transparent mit dem Symbol der Antifaschistischen Aktion, riefen Parolen und besprühten die JA-Angehörigen mit einer Flüssigkeit. Hierauf kam es zu Handgreiflichkeiten, bei denen zwei Stammtischteilnehmer leicht verletzt wurden.
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Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis), 27. Juli: Nach dem Mordversuch an einem 26-jährigen eritreischen Staatsbürger initiierte die autonome Gruppierung AK.069 eine Demonstration, um „rechten Terror zu bekämpfen“. Es sollte „laut, wütend und entschlossen gegen rechten Terror und Gewalt“ vorgegangen werden. In den sozialen Medien und durch andere autonome Gruppen wurde für die Veranstaltung geworben. An der friedlich verlaufenen Demonstration nahmen 250 Personen teil, darunter auch einige Autonome.
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Offenbach am Main, 16. August: Bei der Mobilisierung von anderen autonomen Gruppen in Hessen unterstützt, führte die AUF eine Demonstration unter dem Motto „Go east! Gemeinsam gegen Nazis und Rassist*innen“ mit etwa 300 Teilnehmern durch. Bei dieser Veranstaltung wurde für die Demonstration „#unteilbar – Für eine offene und freie Gesellschaft. Solidarität statt Ausgrenzung“ am 24. August in Dresden (Sachsen) mobilisiert.
Linksextremistische Einflussnahme auf die Klima- und Umweltschutzbewegung | Aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung von klima- und umweltpolitischen Anliegen und des damit verbundenen, wachsenden Mobilisierungs- und Anhängerpotenzials intensivierten Linksextremisten ihr Engagement in diesem Themenfeld. Damit versuchten sie, ihre Agitation in das Feld klimapolitischer Forderungen und Aktionen einzubetten, um ihre linksextremistischen Positionen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft anschlussfähig zu machen. Diese Bemühungen, linksextremistische Bereiche mit nichtextremistischen nicht nur in Berührung zu bringen, sondern zu vermischen, wird im Verfassungsschutzverbund als Entgrenzung bezeichnet.
Vor diesem Hintergrund riefen zahlreiche linksextremistische Organisationen/Gruppierungen aus dem legalistischen und autonomen Spektrum wiederholt zur Teilnahme an Kundgebungen von Fridays for Future und XR auf bzw. thematisierten die Anliegen der Klima- und Umweltschutzbewegung in eigenen Statements und während eigener Veranstaltungen.
Von zentraler Bedeutung war dabei der in der Klima- und Umweltschutzbewegung wiederholt geforderte „Systemwandel“ in Form der Parole „system change not climate change“. Erstmals wurde sie von Aktivisten der durch das LfV Berlin als linksextremistisch beeinflusst bewerteten Klima- und Umweltschutzbewegung Ende Gelände im Kontext der Proteste gegen die Abholzung des Hambacher Forsts in Nordrhein-Westfalen verwendet; seitdem verbreitete sich die Parole in der gesamten Klima- und Umweltschutzbewegung. Linksextremisten erweiterten die Bedeutung des auf klima- und umweltschutzpolitische Ziele beschränkten Begriffs „system change“ bzw. interpretierten ihn im klassischen marxistisch-leninistischem Sinne. Demnach ist die bürgerliche Demokratie lediglich ein Kontrollinstrument des „Kapitalismus“ und erlaubt keine tatsächliche Teilhabe am öffentlichen Meinungsbildungsprozess. Tiefgreifende, am Gemeinwohl orientierte Reformen sind für Linksextremisten somit nur außerhalb des „Kapitalismus“, also nicht innerhalb der bürgerlichen Demokratie, möglich. Spätestens seit der Rede der schwedischen Klima- und Umweltschutzaktivistin Greta Thunberg während der UN-Klimaschutzkonferenz im Dezember 2018 in Katowice (Polen) sahen sich Linksextremisten in ihrer verfassungsfeindlichen Auslegung klima- und umweltschutzpolitischer Ziele bestätigt. Thunberg hatte unter anderem gesagt:
„Wir müssen die fossilen Brennstoffe im Boden lassen und wir müssen uns auf Gerechtigkeit konzentrieren. Und wenn Lösungen innerhalb des Systems unmöglich zu finden sind, dann müssen wir vielleicht das System selbst verändern. Wir sind nicht hergekommen, um die führenden Politiker der Welt anzubetteln, dass sie sich kümmern sollen. Ihr habt uns in der Vergangenheit ignoriert und ihr werdet uns wieder ignorieren. Euch gehen die Ausreden aus, und uns läuft die Zeit davon. Wir sind hergekommen, um euch zu sagen, dass der Wandel kommen wird, ob es euch gefällt oder nicht. Die wirkliche Macht gehört den Menschen”.
Seither gebrauchten verschiedene linksextremistische Gruppierungen in ihrem speziellen Sinne die Parole „system change not climate change”. So verwendete etwa die linksjugend [’solid] bei einer Demonstration in Gießen (Landkreis Gießen) ein Banner mit dieser Parole. In abgewandelter Form nutzte die linksjugend [’solid] den Appell zudem in einem Aufruf zum „ersten globalen Klimastreik“ am 15. März („Umwelt retten, heißt Kapitalismus überwinden!“).
Ähnlich argumentierte die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), indem sie im Kontext des „ersten globalen Klimastreiks“ von Schülern auf Facebook schrieb, dass eine nachhaltige Klimaschutzpolitik im „Kapitalismus“ nicht möglich sei: „Denn solange wir im Kapitalismus leben, bleibt der Staat […] nur Interessenvertreter der großen Banken und Konzerne“. Mit Bezug auf die Maxime „system change“ formulierte es die DKP als ihr Ziel, ein „Klassenbewusstsein zu schaffen“, um zu „zeigen, gegen wen und wie die Kämpfe geführt werden müssen“. In dieser Hinsicht sah die DKP „bereits Ansätze“ bei Fridays for Future.
REBELL, die Jugendorganisation der MLPD, verteilte einen Flyer, der die Aussage Greta Thunbergs unmittelbar in der Ideologie des Marxismus-Leninismus verortete:
„Kritik am kapitalistischen System gehört zwingend zu einer kämpferischen Umweltbewegung. […] MLPD und REBELL sind die konsequentesten Kapitalismuskritiker. Wir treten dafür ein, dass er revolutionär überwunden und der echte Sozialismus erkämpft wird“.
Andere Linksextremisten zeigten hingegen ein distanziertes Verhältnis zu den Schülerprotesten. So bewertet die trotzkistische Jugendorganisation REVOLUTION (REVO) die Klima- und Umweltschutzbewegung zwar als grundsätzlich erfolgreich, bedauert aber, dass sie „vor der Eigentumsfrage und der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Veränderung der Produktion“ zurückschrecke. Dies habe sich auch auf dem Sommerkongress von Fridays for Future vom 31. Juli bis 4. August in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) gezeigt. Zwei REVO-Vertreter nahmen nach eigener Darstellung daran teil und schrieben später im Internet:
„Die vorherrschende Ideologie in FFF [i. e. Fridays for Future], der Glaube an einen wandelbaren Kapitalismus und die Illusionen in die Erfolgschancen einer Bewegung[,] die Politiker_Innen um Verbesserungen im System bittet, wurde nicht infrage gestellt. […] Jedoch konnten wir den Kongress nutzen[,] um uns als Antikapitalist_Innen zu vernetzen und Grundlagen für gemeinsame Kämpfe besprechen“.
Zu einem ähnlichen Schluss kam die IL, als sie im Internet auf ihrem Debattenblog verlauten ließ, dass sie zwar mit der Gruppierung XR zusammenarbeite, aber von ihr fordere, sich eindeutiger zum „Antikapitalismus“ zu bekennen:
„Die Rhetorik von XR, wonach wir ‚alle in einem Boot‘ sitzen, ist aus unserer Sicht aber wenig hilfreich, um den Anspruch auf Klimagerechtigkeit mit Leben zu füllen. Gegner*innen und Verbündete, Herrschaftsstrukturen und Handlungsperspektiven müssen im Kampf gegen den Klimawandel deutlicher benannt werden. […] Eine konsequente Rückverlagerung von Macht an die Bürger*innen bedeutet […] nichts anderes als die Überwindung von Kapital, Staat und Patriarchat als den dominanten Herrschaftsformen bei der Regelung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Und auf diesen Weg müssen wir uns hier und heute begeben“.
Nach einem weiteren „globalen Klimastreik“ am 29. November veröffentlichte die trotzkistische Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) mit Blick auf die Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen (UN) vom 2. bis 13. Dezember in Madrid (Spanien) eine ähnliche Stellungnahme. Darin zitierte die GAM aus einem Aufruf der führenden Köpfe von Fridays for Future an die Konferenzteilnehmer. So offenbare der darin formulierte Appell an die Regierungen der Industrieländer die größte Schwäche der Klima- und Umweltschutzbewegung: „Es bleibt beim Appell an die Herrschenden“. Stattdessen müsse die gesamte Klimaschutzbewegung die „Systemfrage“ stellen und eine Bewegung aufbauen, die der „herrschenden Klasse und ihren Regierungen das Handwerk legen kann“.
Darüber hinaus nahmen Vertreter bzw. kleinere Gruppen nahezu aus dem kompletten linksextremistischen Spektrum an Klima- und Umweltschutzstreik-Veranstaltungen teil. Besonders auffällig war die versuchte linksextremistische Einflussnahme bei der „Global Climate Week“ bzw. „week4climate“ vom 20. bis zum 27. September. Im Gegensatz zu vorhergehenden Aktionstagen, die vor allem Fridays for Future organisiert hatte, riefen zur Eröffnung der Klimaaktionswoche zahlreiche Organisationen und Verbände gemeinsam auf. Darunter befanden sich Umweltschutz-, Wohlfahrts-, Kultur- und Entwicklungsverbände sowie Kirchen, Vereine und Gewerkschaften. Bundesweit waren etwa 500 Kundgebungen geplant, davon mehr als 30 in Hessen. Neben dem nichtextremistischen Lager war eine Vielzahl linksextremistischer Akteure beteiligt. So wurde der Demonstrationszug in Frankfurt am Main, der am 20. September stattfand, in mehrere thematische Blöcke aufgeteilt. Zwecks Bildung des „antikapitalistischen Blocks“ hieß es in einem im Internet veröffentlichten Aufruf, den unter anderem die AUF und die IL verbreiteten:
„Das Problem heißt Kapitalismus. […] Unsere Kritik muss dabei in der Lage sein, den Kapitalismus als das zu erfassen, was er ist: als System gesellschaftlicher Herrschaft, gestützt durch ökonomische Macht, nationalstaatliche Konkurrenzverhältnisse, systemerhaltende Ideologie und gesellschaftliche Verblendung. Unser Antikapitalismus darf darum nicht bloß Kritik an einzelnen Kapitalist*innen oder am Konsumverhalten Einzelner sein. Stattdessen wollen wir dieser Individualisierung des Problems eine kollektive Perspektive entgegensetzen, die den Systemcharakter des Kapitalismus begreift – und angreift“.
Neben dem „antikapitalistischen“ bildete sich ein „internationalistischer Block“, für den unter anderem die folgenden extremistischen Gruppierungen bzw. Organisationen mobilisierten:
- Almanya Göçmen İşçiler Federasyonu (AGİF, Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in Deutschland e. V.),
- Yeni Kadin (Neue Frau),
- Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan),
- Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi (YDG, Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung) und
- die FAU.
In Darmstadt rief das Bündnis Global Strike Darmstadt ebenfalls zu einer Kundgebung am 20. September auf. Neben nichtextremistischen Gruppierungen und Organisationen waren in diesem Bündnis Linksextremisten und Extremisten mit Auslandsbezug vertreten:
- IL Darmstadt,
- OAT Darmstadt,
- YXK,
- Jinên Xwendekarên Kurdistan Darmstadt (JXK, Studierende Frauen aus Kurdistan) und
- Navenda Civaka Demokratîk ya Kurdên li Almanyayê Darmstadt (NAV-DEM, Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland e. V.).
In identischer Zusammensetzung trat das Darmstädter Bündnis anlässlich des Globalen Klimastreiktags am 29. November auf. In Kassel bildete sich an diesem Tag ein „antikapitalistischer Block“ auf der Kundgebung von Fridays for Future, zu deren Veranstaltern ebenfalls Linksextremisten und Extremisten mit Auslandsbezug zählten.
Auch bei anderen Veranstaltungen, wie zum Beispiel den Klimaschutzaktionstagen in Kassel und Kundgebungen von Fridays for Future, nahmen Linksextremisten – aber in deutlich geringerem Maß – teil. In wenigen Fällen traten Linksextremisten als Redner bei Veranstaltungen von Fridays for Future und XR auf.
Fridays for Future selbst solidarisierte sich mit der linksextremistisch beeinflussten Klimaschutzbewegung Ende Gelände. Dies geschah sowohl anlässlich einer Aktion von Ende Gelände“ vom 19. bis 24. Juni im rheinischen Braunkohlerevier als auch bei einer Blockade am 30. November in der Lausitz. So hieß es im Juni auf der Internetseite von Fridays for Future, „dass wir (wie Ende Gelände) ebenfalls zivilen Ungehorsam leisten“:
„Viele Errungenschaften unserer Gesellschaft […] wurden nur durch bewussten, massenhaften Regelübertritt erreicht. Sowohl Fridays for Furture, als auch Ende Gelände und viele weitere Bündnisse und Akteur*innen sind Teil einer globalen Klimagerechtigkeitsbewegung. […] Hiermit erklären auch wir uns solidarisch mit Ende Gelände“.
(Schreibweise wie im Original)
Einige Gruppen von Fridays for Future wehrten sich in Teilen gegen eine Vereinnahmung durch Linksextremisten. Exemplarisch hierfür stand die Aufforderung des Versammlungsleiters der Demonstration „Schülerstreik für Klimagerechtigkeit“ am 1. März in Frankfurt am Main an Aktivisten der MLPD, eine Flagge ihrer Jugendorganisation REBELL einzuholen und das Verteilen von Flyern einzustellen oder die Kundgebung zu verlassen. Zu vergleichbaren Vorkommnissen kam es auch im übrigen Bundesgebiet, sie mündeten – auch wegen der stärkeren Präsenz der MLPD – zum Teil in Auseinandersetzungen.
Auch die autonome Szene in Hessen versuchte die Klima- und Umweltschutzthematik für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren. So enthielt die Internetseite des Aktionsbündnisses Sand im Getriebe einen Artikel der IL-Zeitschrift Arranca! Für eine Interventionistische Linke. Unter der Überschrift „Gegen Kapitalismus und Klimakrise“ hieß es:
„Ein aktivistischer Angriff auf die Industrie ist […] ein Angriff auf das zentrale Rückgrat des deutschen Exportkapitalismus sowie auf den Klassenkompromiss der heteronormativen, bürgerlichen Kleinfamilie, der im Familien-SUV seine materielle Manifestation erhält. Andererseits, was tut eine interventionistische, antikapitalistische Linke, wenn sie nicht in die Auseinandersetzung um die Zukunft des deutschen Kapitalismus interveniert? Aus all diesen Gründen muss ein Kampf gegen die ,heilige Kuh‘ der deutschen Wirtschaft immer auch als transformativer Prozess verstanden werden, der die großen Fragen stellt. Solche, die derzeit auch von FridaysForFuture oder ExtinctionRebellion aufgerufen werden […]. Der Kampf um die Zukunft der Autoindustrie kann dagegen zum Kampf um die Zukunft der deutschen Gesellschaft werden“.
Entsprechend waren die von Sand im Getriebe getragenen Proteste gegen die Internationale Automobil Ausstellung (IAA) vom 12. bis zum 22. September in Frankfurt am Main stark durch die IL beeinflusst. Mehrere tausend Personen fuhren – zum großen Teil mit dem Fahrrad – aus dem Rhein-Main-Gebiet nach Frankfurt am Main, um vor dem Messegelände friedlich zu protestieren. Dabei blockierten Kleingruppen die Eingänge zum Messegelände. Im Vorfeld der IAA kam es im Großraum Frankfurt am Main zu mehreren gewaltsamen Straftaten. Besonders erwähnenswert ist die Sachbeschädigung an mehr als 40 Fahrzeugen – in der Perspektive der Täter „Luxuskarren“ – auf dem Gelände eines Autohändlers in Kronberg im Taunus (Hochtaunuskreis), wobei ein Schaden in Millionenhöhe entstand. In dem – unter dem Pseudonym „Steine im Getriebe“ – auf der von der linksextremistischen Szene genutzten Internetseite de.indymedia.org eingestellten Selbstbezichtigungsschreiben hieß es:
„Unsere [im Unterschied zu den angekündigten Protesten gegen die IAA] geplante Aktion ist ein Regelübertritt – deshalb haben wir ihn auch nicht offen angekündigt. Wir stellen uns damit in die Tradition kämpferischer sozialer Bewegungen. […] Wie diejenige[,] die heute im Hambacher Forst versucht[,] den Kohleausstieg durchzusetzen. […] In sozialen Bewegungen braucht es […] eben auch die Militanz. Nur so wird es möglich, die eigenen Inhalte und Forderungen gegen die Regierenden und die Mehrheitsgesellschaft aufzuzeigen, denkbar zu machen und durchzusetzen. Militanz ist notwendig und legitim“.
Eine Sprecherin von Sand im Getriebe distanzierte sich allerdings von den Sachbeschädigungen.
Weitere Sachbeschädigungen im Kontext der Proteste gegen die IAA in Frankfurt am Main und Offenbach am Main richteten sich gegen SUVs, nahmen aber nicht die Dimension wie in Kronberg an. Im Internet gab es hierzu ein Selbstbezichtigungsschreiben, das zwar nicht auf die Proteste gegen die IAA einging, sich aber mit den entsprechenden Themen beschäftigte.
Nach dem Ende der Proteste im September erklärte Tina Velo (i. e. Janna Aljets), die der IL zuzurechnen ist, als Sprecherin von Sand im Getriebe: „Wir haben heute klar gezeigt, dass wir die Klimakrise nur noch mit einer radikalen Verkehrswende aufhalten können“. In der Frühjahrsausgabe der Zeitschrift Arranca! Für eine Interventionistische Linke hatte Aljets zuvor mit einem Co-Autor einen Artikel unter der Überschrift „Von der Grube auf die Straße. Gegen Kapitalismus und Klimakrise“ verfasst. In einer Pressemitteilung vom 20. September („Die vorgeschlagenen Reförmchen gehen an den Ursachen der Klimakrise vorbei“), der unter anderem von Ende Gelände, der IL und Sand im Getriebe gezeichnet war, hieß es:
„Angesichts des Versagens der Parteienpolitik rufen Gruppen der Klimagerechtigkeitsbewegung dazu auf, sich in den kommenden Monaten an der Erarbeitung eines ,Klimaplan[s] von unten‘ zu beteiligen. In einem breit angelegten basisdemokratischen Prozess sollen Maßnahmen entwickelt werden, die soziale Gerechtigkeit schaffen und die Erderhitzung auf 1,5 Grad begrenzen“.
„Kurdistan-Solidarität“: Solidaritätsaktionen/-demonstrationen – Phäno- menübergreifende Bündnisse | Vor dem Hintergrund mehrerer militärischer Operationen der türkischen Armee in von Kurden besiedelten Gebieten in Syrien gab es im Berichtsjahr bundesweit eine Reihe von Solidaritätsaktionen und -demonstrationen deutscher Links- extremisten. Diese galten insbesondere der Region „Rojava“ in Nordostsyrien, die vom syrischen Ableger der PKK kontrolliert und von einer internationalen Solidaritätskampagne unter dem Motto „Riseup4Rojava – smash turkish fascism!“ unterstützt wurde. In dem „weltweiten Aufruf“ der Kampagne hieß es unter anderem:
„Wir verteidigen die Revolution und ihre Errungenschaften. Wir identifizieren uns mit der Revolution in Kurdistan, als einem Hauptkampf gegen den Faschismus unserer Zeit und für die Befreiung der Frau und der Gesellschaft. Wir sehen diesen revolutionären Prozess in einer Linie mit den Kämpfen um Befreiung in der Geschichte der Menschheit wie der Oktoberrevolution, dem spanischen Bürgerkrieg und der kubanischen Revolution“.
Dabei wurden zahlreiche Solidaritätsaktionen mit dem Hashtag #riseup4rojava verknüpft.
Während des gesamten Berichtsjahrs kam es zu zahlreichen Solidaritätsdemonstrationen, die teilweise vierstellige Teilnehmerzahlen erreichten. Die Mehrzahl der Veranstaltungen fand im Oktober und November als Reaktion auf die am 9. Oktober begonnene türkische Militäroffensive in der Region „Rojava“ statt. Schwerpunkte waren die Städte Kassel, Gießen, Frankfurt am Main und Darmstadt. An den Demonstrationen beteiligten sich Gruppierungen aus den folgenden Phänomenbereichen:
Extremismus mit Auslandsbezug |
autonome und anarchistische Gruppen |
legalistische Linksextremisten |
- YXK Kassel, Frankfurt am Main und Darmstadt
- JXK Frankfurt am Main und Darmstadt
- NAV-DEM Gießen und Darmstadt
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- T.A.S.K.
- A&O Kassel
- Antifaschistische Revolutionäre Aktion Gießen (A.R.A.G.)
- kritik&praxis – radikale Linke [f]rankfurt
- IL Frankfurt und Darmstadt
- AUF
- OAT Darmstadt
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- linksjugend [‘solid]
- DIE LINKE.Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband
- DKP Gießen
- REBELL Gießen
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Teilweise traten die Gruppen gemeinsam als Veranstalter der Demonstrationen oder weiterer Veranstaltungen auf oder gründeten hierfür phänomenübergreifende Bündnisse, an denen sich mitunter auch nichtextremistische Organisationen beteiligten. Zu nennen sind etwa die extremistisch beeinflussten Bündnisse Solidaritätskomitee Rojava Kassel, Gießener Bündnis für Frieden in Afrin, Defend Rojava Rhein-Main und das Rojava Solidaritätskomitee Darmstadt. In Darmstadt und weiteren Städten kam es zudem zu einer thematischen Verknüpfung der „Kurdistan-Solidarität“ mit den Protesten der Fridays-for-Future-Bewegung unter dem Motto „von Darmstadt bis nach Rojava, Klimaschutz heißt Antifa!“ Vor diesem Hintergrund stachen in Hessen vier Ereignisse heraus:
- Frankfurt am Main, 10. Oktober: Im Rahmen einer nicht angemeldeten Demonstration, die am türkischen Generalkonsulat startete, zündeten mutmaßlich Autonome pyrotechnische Gegenstände und warfen Farbbeutel unter anderem auf Einsatzkräfte und die Geschäftsstelle der SPD. Darüber hinaus wurden Polizisten mit Fahnenstangen und durch Tritte und Schläge angegriffen. Zu ähnlichen Vorgehensweisen (Graffitischmierereien, Farbbeutelwürfe und kleinere Blockadeaktionen) kam es auch bei weiteren Demonstrationen in Hessen. Außerdem gab es vereinzelt wechselseitige verbale und körperliche Auseinandersetzungen beim Aufeinandertreffen von kurdischen Demonstrationsteilnehmern mit nationalistischen Türken.
- Kassel, 23. Oktober: Mehrere Personen, die sich als „autonome Kleingruppe“ bezeichneten, blockierten die Werkszufahrt zum Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann. Vier von ihnen ketteten sich mit einem Bügelschloss am Werkstor fest, vier weitere bestiegen das Dach eines Werksgebäudes und enthüllten ein Transparent mit der Aufschrift „Riseup4Rojava! Kein Krieg in Nordsyrien!“ Die Polizei beendete die Blockade und nahm elf Personen fest. Auf der von Linksextremisten genutzten Internetseite de.indymedia.org thematisierten die Aktivisten in einer „Pressemitteilung“ und in einem weiteren Schreiben die Waffenlieferungen an die Türkei. Ziel sei es gewesen, den „,reibungsfreien Ablauf dieser Kriegsschmiede so lange wie möglich zu unterbrechen‘“.
- Frankfurter Flughafen, 25. Oktober und 2. November: An beiden Tagen blockierten unter maßgeblicher Beteiligung der IL Frankfurt und der IL Darmstadt mehrere Personen den Check-in-Schalter der Turkish Airlines. Die Blockaden folgten damit einem Aufruf der Kampagne von „Riseup4Rojava“, die für die Zeit vom 21. bis 27. Oktober eine Aktionswoche unter dem Motto „No flights to Turkey“ ausgerufen hatte.
- Geisenheim (Rheingau-Taunus-Kreis), 15. November: An der Rückseite eines Gebäudes auf dem Gelände der Firma Ferrostaal Industrieanlagen GmbH zündeten unbekannte Täter Autoreifen an, sodass das Gebäude beschädigt wurde und ein Sachschaden in Höhe von etwa 10.000 Euro entstand. Auf de.indymedia.org bekannte sich die „Autonome Gruppe – Kommando Hêlîn Qerecox/Anna Campell“ (Kampf- bzw. tatsächlicher Name einer in Syrien ums Leben gekommenen „Märtyrerin“ der PKK) zu dem Brandanschlag. Darin hieß es, die Aktion sei in „Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf und gegen die türkische Invasion in Rojava“ durchgeführt worden. Das Unternehmen sei in den Fokus geraten, da es „Waffen und Munition für den Kriegseinsatz“ herstelle und diese an „jeden zahlenden Despoten“ verkaufe. Auf der deutschsprachigen Internetseite der PKK-Nachrichtenplattform Ajansa Nûçeyan a Firatê (ANF, Firatnews Agency) wurde über den Brandanschlag berichtet und das Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht. Außerdem thematisierte die dem autonomen Spektrum zuzurechnende Gruppe Leftwing Rheingau die Tat auf ihrer Facebook-Seite.
„Selbstverwaltete Freiräume“ – Schließung des Havanna 8 | Am 16./17. März hatte in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) die häufig von Linksextremisten frequentierte Kneipe Havanna 8 zum letzten Mal geöffnet, da das Mietverhältnis beendet worden war. Seit Monaten hatte das Kneipenkollektiv die Schließung öffentlich thematisiert und den Vermieter des Gebäudes wegen einer angeblich geplanten Luxussanierung und wegen der Erhöhung der Miete kritisiert. Daher kam es seitens der linksextremistischen Szene hessen- und teilweise bundesweit zu Solidaritätsbekundungen mit der Kneipe Havanna 8. Die lokale Szene führte im Rahmen der Kampagne „Havanna acht bleibt“ eine Vielzahl von Solidaritätsaktionen durch, obwohl die Kneipe bereits kurz nach ihrer offiziellen Schließung in einem selbstverwalteten Zentrum in Marburg „Asyl“ gefunden hatte und in dessen Räumlichkeiten ihre Veranstaltungen ausrichtete.
Im Rahmen der Kampagne wurden im Marburger Stadtgebiet zahlreiche Sachbeschädigungen begangen, indem unbekannte Täter an verschiedenen Objekten Aufschriften wie „Havanna 8 bleibt“ oder „H8 4 ever“ anbrachten. Die Marburger autonome Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. rief zu „Massencornern“ auf, einer Aktionsform, die Linksextremisten insbesondere beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg praktiziert hatten. „Massencornern“ nennt sich eine Aktionsform, bei der öffentliche Räume wie Straßenecken durch größere Menschenansammlungen, auch unter Alkoholkonsum, eingenommen werden.
- 1. April: Etliche Personen folgten diesem Aufruf und hielten sich in unmittelbarer Nähe des Havanna 8 auf.
- 8. April: Bei einer Scheinbesetzung der Kneipe vernagelten unbekannte Täter die Eingangstür mit Holzlatten und besprühten den Türrahmen mit Bauschaum. Am Gebäude brachten sie entsprechende Transparente und Graffitis an. Auf einer häufig von Linksextremisten frequentierten Internetseite wurde eine „Pressemitteilung“ zu der vermeintlichen Besetzung veröffentlicht. Eine Begehung durch die Polizei ergab, dass das Gebäude nicht besetzt worden war. Trotzdem veröffentlichten zahlreiche linksextremistische Gruppen aus Hessen wie auch außerhalb Hessens umgehend Solidaritätsbekundungen auf ihren Facebook- und Internetseiten.
- 17. Juni: Zahlreiche Personen folgten einem weiteren Aufruf der Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. zum „Massencornern“ vor dem ehemaligen Havanna 8, wobei an der Fassade zwei Transparente mit den Aufschriften „Besetzung Utopie.noblogs.org“ und „Havanna 8 bleibt Freiräume verteidigen“ angebracht wurden. Auf ihrer Internetseite erklärte eine Gruppe, die sich als „Vision“ bezeichnete, sie habe ab sofort in den alten Räumlichkeiten einen Info- und Vernetzungsladen für alle Interessierten eingerichtet und die ehemalige Kneipe „besetzt“: „Wir wollen einen Ort schaffen[,] der Treffen, Austausch und Organisation gegen die sich zuspitzenden menschenverachtenden Verhältnisse ermöglicht“. Tatsächlich hatten sich die Teilnehmer des „Massencornerns“ Zutritt zum ehemaligen Havanna 8 verschafft und sich darin aufgehalten. Die Polizei beendete die Besetzung.
„Antigentrifizierung“ | Der Kampf gewaltbereiter Linksextremisten gegen angeblich „antisoziale Stadtstrukturen“ und für selbst- bestimmte „Freiräume“ verschärfte sich im Berichtszeitraum bundes- und hessenweit. Als „Schuldige“ der Verdrängung von Bevölkerungsschichten sowie als Urheber von Mieterhöhungen befanden sich insbesondere große Immobilienunternehmen im Visier der Links- extremisten:
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Frankfurt am Main, 11./12. Juli: Unbekannte Täter beschädigten ein Fahrzeug der Immobilienfirma Vonovia, indem sie in der Nacht Reifen zerstachen, Scheiben einschlugen und den Schriftzug „Vonovia enteignen“ auf den Wagen schmierten. Auf einer von Linksextremisten häufig frequentierten Internetseite hieß es in einem Selbstbezichtigungsschreiben:
„Das Handeln gegen die Akteur*innen der Verdrängung muss selbstorganisiert sein. Vonovia muss und kann an vielen Stellen spüren, dass sie nicht erwünscht sind. […] Direkter Angriff gegen Vonovia und andere Akteur*innen, die die Gentrifizierung vorantreiben“.
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Frankfurt am Main, 5. Oktober: Angehörige der Initiative Social Hub (ISH) besetzten das ehemalige Tibethaus bzw. jetzige Backhaus während des Bockenheimer Stadtteilfests der Initiative Zukunft Bockenheim e. V., um das Gebäude vor Abriss und „Luxussanierung“ zu bewahren und ein soziales Zentrum einzurichten. An der Fassade wurde ein Banner mit der Aufschrift „houses for people, not for profit“ und das anarchistisch geprägte Hausbesetzersymbol angebracht. Auf ihrer Internetseite fordert die Gruppierung:
„ISH soll politisch unabhängig von Staat, Land und Stadt sein. Wir wollen unsere Ideen von und Wünsche an Gesellschaft selbst gemeinsam verwirklichen, ohne Chefs und Anweisungen ,von oben‘“.
Die Gruppierung Initiative Anarchistische Bewegung Frankfurt (IABF) bekannte sich zur Beteiligung an der Hausbesetzung, die von der linksextremistischen Szene begrüßt wurde. Unter anderem solidarisierten sich autonome Gruppierungen wie die AUF, das AK.069 sowie das OAT Darmstadt mit den Hausbesetzern der ISH. Die Polizei räumte das Gebäude am 8. Oktober. Noch am gleichen Abend fand in unmittelbarer Nähe eine friedliche Solidaritätskundgebung mit 150 bis 250 Personen, darunter auch Linksextremisten, statt.
Das Ziel der Autonomen ist die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des „kapitalistischen Systems“ zugunsten einer „herrschaftsfreien“ Gesellschaft. In ihr sollen sich unabhängige Individuen freiwillig vereinen und gemeinsam und gleichberechtigt handeln. Nach der Ansicht von Autonomen werden die Menschen durch „Kapitalismus“, „Rassismus“ und „Patriarchat“ unterdrückt und ausgebeutet. Als Ursache hierfür betrachten die Autonomen die bürgerliche demokratische Gesellschaft und das freie Wirtschaftssystem im „Kapitalismus“. „Imperialismus“ und vor allem „Faschismus“ sind in den Augen der Autonomen die maßgeblichen Werkzeuge dieser dreifachen Unterdrückung.
Auf einen Blick
- „Anti“-Haltungen und Feindbilder
- „Antikapitalismus“
- „Antifaschismus“
- „Antirassismus“
- „Antigentrifizierung“ – „selbstverwaltete Freiräume“
- Klima- und Umweltschutzaktionen
- Frage der Gewalt
- Hauptströmungen der (post-)autonomen Szene in Hessen
- Antiimperialisten
- Antideutsche
- Antinationale
„Anti“-Haltungen und Feindbilder | Ihren „Anti“-Haltungen und Feindbildern entsprechend definieren Autonome ihre politischen Aktivitäten, zum Beispiel: „Antifaschismus“ gegen „Rechte“ bzw. „Nazis“ – oder „Antirepression“ insbesondere gegen Polizisten als öffentlich wahrnehmbare Vertreter des „staatlichen Repressionsapparats“. Sämtliche Feindbilder sind dabei auf eine „antikapitalistische“ Grundhaltung zurückzuführen. Um ihre Bündnis- und Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen, versuchen vor allem Postautonome mehrere Themenfelder bei ihren Aktivitäten zu verknüpfen.
„Antikapitalismus“ | Dieses Themenfeld bildet den Kern der Vorstellungen der autonomen Szene bzw. des gesamten linksextremistischen Spektrums. Dem Marxismus zufolge ist die „kapitalistische“ Wirtschaftsform das alles dominierende Element des menschlichen Daseins und bestimmt alle Lebensbereiche. Linksextremisten setzen auf dieser Basis die freiheitliche demokratische Grundordnung mit dem „Kapitalismus“ gleich und bekämpfen diese, indem sie unter anderem soziale Themen für ihre Zwecke instrumentalisieren.
„Antifaschismus“ | Vor allem das Themenfeld „Antifaschismus“ zeichnet sich für Linksextremisten dadurch aus, dass es eine hohe Anschlussfähigkeit an nichtextremistische Organisationen und Gruppierungen ermöglicht. Im Unterschied zur demokratischen Bekämpfung des Rechtsextremismus ist das linksextremistische „Antifaschismus“-Verständnis von Demokratiefeindlichkeit geprägt. In kommunistischer Tradition unterstellen Linksextremisten der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, selbst „faschistisch“ oder „faschistoid“ zu sein. Demnach bezeichnen Linksextremisten auch Personen aus dem demokratischen Spektrum als „Faschisten“. Sobald die Bewertung „Faschist“ vergeben ist, ist der Betroffene, unabhängig von seinen tatsächlichen Überzeugungen, nach linksextremistischem Urteil legitime Zielscheibe von Diffamierungen und Gewalttaten.
Unter „Antifaschismus“ verstehen Linksextremisten bzw. Autonome also nicht nur die konsequente Ablehnung rechtsextremistischer Bestrebungen, vielmehr setzen sie den offensiven „Kampf gegen Rechts“ mit dem „Kampf gegen das Ganze“, das heißt gegen das „bürgerlich-kapitalistische System“, gleich: Erst mit der Beseitigung des „Kapitalismus“ sei die Gefahr des „Faschismus“ als Form bürgerlicher Herrschaft gebannt.
„Antirassismus“ | Vor dem Hintergrund der europäischen Flüchtlingspolitik und der damit einhergehenden medialen Berichterstattung sowie der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit versucht das links- extremistische Spektrum, mit „Aktionen“ in die Debatte einzugreifen. Entsprechend der autonomen bündnispolitischen Zielrichtung soll das szeneeigene Verständnis von „Antirassismus“ möglichst langfristig und breit in der Mehrheitsgesellschaft etabliert werden. Dieses Verständnis konzentriert sich nicht nur auf die Thematisierung der Flüchtlingsproblematik, sondern Autonome wollen vor allem nachweisen, dass Staat und Gesellschaft selbst „rassistisch“ sind und daher im linksextremistischen Sinne bekämpft und überwunden werden müssen. Rechtmäßiges Handeln von Behörden gilt für Autonome in dieser Diktion als „rassistisch“: „Nazis morden, der Staat schiebt ab – das ist das gleiche Rassistenpack“.
„Antigentrifizierung“ – „selbstverwaltete Freiräume“ | Linksextremisten schließen sich „Antigentrifizierungs“-Initiativen aus mehreren Gründen an: Indem sie sich für bezahlbaren Wohnraum einsetzen, können sie sich als sozialpolitische Akteure profilieren und gesellschaftliche Akzeptanz erreichen. Weiterhin ist es Autonomen auf diese Weise möglich, anschaulich ihre „antikapitalistische“ Grundhaltung zu vermitteln. Schließlich sind sie oft selbst von Gentrifizierung betroffen, da unter anderem die von ihnen genutzten „selbstverwalteten Freiräume“ – also autonome Szeneobjekte – häufig selbst seitens des Eigentümers für entsprechende „Luxussanierungen“ vorgesehen sind. Insofern richten sich linksextremistische Aktionen in diesem Themenfeld gerade auch gegen Immobilienfirmen und Städtebaugesellschaften, die Eigentümer der Objekte sind.
Klima- und Umweltschutzaktionen | Vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels und der damit einhergehenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt sowie im Rahmen des Strebens nach einem sozialverträglichen ökologischen Miteinander gewinnt dieses Themenfeld zunehmend an Bedeutung für das linksextremistische Spektrum. Hierin lassen sich mehrheitsfähige gesellschaftliche Anliegen – wie etwa der Kampf gegen den Klimawandel (zum Beispiel in Form der Forderung nach einem Ausstieg aus der Atomenergie oder aus dem Kohleabbau) – mit linksextremistischen Forderungen nach einem „selbstbestimmten Leben“ durch das Schaffen „selbstverwalteter Freiräume“ verbinden. Vor allem bietet sich für Linksextremisten die Möglichkeit, ihre „antikapitalistischen“ Forderungen gegen angebliche „klimaschädliche“ Unternehmen in Stellung zu bringen und in den gesellschaftlichen Diskurs mittels der Parole „system change not climate change“ einzubringen. Mit ihren Versuchen, die Klima- und Umweltschutzbewegung zu instrumentalisieren, wollen Linksextremisten ein Scharnier zwischen ihren Bestrebungen und nichtextremistischen Forderungen herstellen.
Frage der Gewalt | Seit jeher versuchen Autonome ihre Ziele auch mit Gewalt zu erreichen. In der Anwendung von Gewalt sehen Autonome nicht nur ein „Mittel zum Zweck“, sondern ebenso einen Akt der „individuellen Selbstbefreiung“. Die regelmäßig in der Szene geführte „Militanzdebatte“ beschäftigt sich daher nicht mit der Legitimität von Gewaltanwendung, sondern mit der kontrovers diskutierten Frage, ob sich Gewalt „nur“ gegen Sachen oder auch gegen Menschen richten darf. Dabei nehmen es Autonome billigend in Kauf, dass Menschen im Rahmen ihrer „Aktionen“ verletzt oder sogar getötet werden.
In dieser Hinsicht war in jüngster Zeit in Hochburgen der gewaltbereiten linksextremistischen Szene (Leipzig, Hamburg und Berlin) vor allem im Themenfeld „Anti-Gentrifizierung“ eine Radikalisierung eines kleinen Teils der Szene festzustellen, in deren Folge gezielte Angriffe auf einzelne Personen aus Politik, Justiz und Wirtschaft zunahmen. Beispielhaft genannt seien die Faustschläge in das Gesicht einer Mitarbeiterin einer Immobilienfirma, die am 3. November an ihrer Privatanschrift in Leipzig (Sachsen) „aufgesucht“ wurde, sowie der Angriff mit Steinen und farbgefüllten Flaschen auf das an einer Ampel stehende Fahrzeug des Hamburger Senators für Inneres und Sport am 13. Dezember in Hamburg.
Hauptströmungen der (post-)autonomen Szene in Hessen | Es sind drei Hauptströmungen – Antiimperialisten, Antideutsche und Antinationale – zu unterscheiden. Sie stehen sich inhaltlich zum Teil diametral gegenüber. Nur über „antikapitalistische“ und „antifaschistische“ Grundhaltungen erzielen die drei Strömungen häufig einen Minimalkonsens.
Antiimperialisten | Antiimperialisten machen die vorgeblich durch den „Kapitalismus“ bedingte „imperialistische“ Politik westlicher Staaten, vorrangig der USA und Israels, für weltpolitische Konflikte verantwortlich. Diese Linksextremisten stehen daher fest an der Seite von „antiimperialistischen Befreiungsbewegungen“ etwa in Südamerika oder in der arabischen Welt. Im Unterschied zu den Antideutschen solidarisieren sich Antiimperialisten besonders mit dem von der Palestine Liberation Organization (PLO, Palästinensische Befreiungsorganisation) im Jahr 1988 ausgerufenen Staat Palästina und agitieren gegen Israel.
Antideutsche | Antideutsche zeigen sich dagegen wegen der deutschen Verantwortung am Holocaust (siehe hierzu oben das Kapitel „Vor 75 Jahren befreit: Doch es war nicht nur Auschwitz…“) uneingeschränkt solidarisch mit Israel, aber auch mit den USA als dessen militärischer Schutzmacht. Arabische Regimes und islamistische Organisationen bezeichnen die Antideutschen als „rechtsradikal“ oder „islamfaschistisch“. Militärische Aktionen gegen eine mögliche Bedrohung Israels sehen Antideutsche grundsätzlich als positiv an. Damit widersprechen Antideutsche dem „antimilitaristischen“ und gegen den Krieg gerichteten Selbstverständnis anderer autonomer Strömungen. Einige Autonome werfen Antideutschen daher „Kriegstreiberei“ vor.
Ferner sprechen Antideutsche der deutschen Nation mit Verweis auf den Holocaust die Existenzberechtigung ab. Den Antiimperialisten unterstellen sie – ebenso wie dem deutschen Volk im Allgemeinen – antizionistische und antisemitische Einstellungen.
Antinationale | Mit den Antinationalen entwickelte sich spätestens seit 2006 bundesweit eine dritte ideologische Ausrichtung, die phasenweise in der autonomen Szene in Hessen prägend war und weiterhin präsent ist. Die Positionen der Antinationalen liegen zwischen Antiimperialisten und Antideutschen, sind jedoch den letzteren näher.
Aus Sicht der Antinationalen ist jeder Staat im „Kapitalismus“ zwangsläufig „imperialistisch“. Kriege seien nur „Ausdruck der notwendigen Konflikte“ im „kapitalistischen System“, da die jeweiligen staatlichen Interessen gegenüber der globalen Konkurrenz durchgesetzt werden müssten. Die Antinationalen lehnen jedoch die einseitig positive Bezugnahme der Antiimperialisten auf revolutionäre „Befreiungsbewegungen“ in der Dritten Welt ab, da diese letztlich auch nur nationalistische Ziele verfolgten und häufig reaktionäre Ideologien verträten, die es aus „antifaschistischer“ Perspektive zu bekämpfen gelte. Dies trifft aus Sicht der Antinationalen insbesondere auf islamistische Gruppen zu.
Den Antideutschen wiederum werfen Antinationale eine zu starke Fixierung auf den „historischen Sonderweg“ Deutschlands und den daraus nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Staat Israel sowie eine Gleichsetzung von Islam und Islamismus vor. Zwar räumen Antinationale „Israel als Staat der Holocaustüberlebenden und als Schutzraum für die weltweit vom Antisemitismus bedrohten Jüdinnen und Juden“ eine Sonderstellung ein, andererseits sehen sie in Israel – bei aller Solidarität mit dessen Volk – einen „kapitalistischen“ Staat, der letztlich ebenso wie das gesamte Staatensystem abzuschaffen sei.
Wie in der Vergangenheit blieb Frankfurt am Main sowohl personell als auch strukturell der autonome Szeneschwerpunkt in Hessen. Weitere autonome Szenen gab es in den Universitätsstädten Kassel, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Gießen (Landkreis Gießen) und Darmstadt.
Auf einen Blick
- Szeneschwerpunkt Frankfurt am Main
- Regionale Szenen
Szeneschwerpunkt Frankfurt am Main | Etwa die Hälfte aller Autonomen in Hessen war in Frankfurt am Main oder in den unmittelbar angrenzenden Kommunen (zum Beispiel Offenbach am Main) ansässig. Bundesweit betrachtet, gehörte Frankfurt am Main zu den Großstadtregionen mit einer kontinuierlichen Präsenz autonomer Zusammenhänge. Von anderen Szenen in Hessen unterschied sich der „harte Kern“ der Szene in Frankfurt am Main durch seine bundesweite Vernetzung, das hohe Personenpotenzial auf engem Raum und die hohe Gewaltbereitschaft.
Besonders relevante Gruppen in Frankfurt am Main waren die AUF, das AK.069, die IL Frankfurt, kritik&praxis – radikale Linke [f]rankfurt sowie stellenweise siempre*antifa Frankfurt/M. Mit dem autonomen Szeneobjekt und ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld verfügte die Szene in Frankfurt am Main über den bedeutendsten autonomen Anlaufpunkt in Hessen. Einige an der Außenfassade des Gebäudes angebrachte Symbole und Banner vermittelten im Gesamtbild überwiegend eine Tendenz zu linksextremistischem Gedankengut. Dabei sind die entsprechenden Symbole als Ausdruck der inneren Haltung und des aktiv-politischen Vorgehens der Nutzer und Betreiber des Klapperfelds zu werten. Maßgeblich für die Träger des Klapperfelds sind daher nicht „die da draußen“, sondern „wir, die Gegenkultur, hier drin“. Ein Zweck des gesamten Gebäudes bestand in dem Errichten eines Symbols der Abgrenzung und der Gegenkultur in einem zentralen Frankfurter Stadtteil. Darüber hinaus fungierten in Frankfurt am Main das Café ExZess, das Café KoZ und das Centro als wichtige Treffpunkte.
Regionale Szenen | Erwähnenswert sind die Gruppierungen T.A.S.K., Antifaschistisches Kollektiv raccoons (ak raccoons) und A&O aus Kassel, die Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), die A.R.A.G. in Gießen (Landkreis Gießen) sowie in Darmstadt das OAT Darmstadt und die IL Darmstadt. Insgesamt gehörten der IL vier autonome Gruppierungen aus Hessen an, was ein Beleg für die bundesweite Vernetzung von (Post-)Autonomen in Hessen ist.
Ähnlich wie im Berichtsjahr 2018 konzentrierte sich die autonome Szene in Hessen mangels eines herausragenden überregionalen Großereignisses vorwiegend auf regionale Proteste in verschiedenen Themenfeldern. Wie 2018 prognostiziert, engagierte sich die autonome Szene analog zum gesamten linksextremistischen Spektrum verstärkt im Themenfeld „Klima- und Umweltschutzaktivitäten“. Dabei schreckte die Szene nicht vor massiven Beschädigungen und Brandstiftungen an angeblich besonders klimaschädlichen Fahrzeugen zurück. Einige autonome Gruppen beteiligten sich zusammen mit anderen linksextremistischen Organisationen an Aktivitäten der Fridays-for-Future-Bewegung und versuchten, diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. In einigen Städten gelang ihnen das, da die örtlichen Fridays-for-Future-Gruppen Bündnisse mit Linksextremisten eingingen oder Vertreter zumindest als Redner bei ihren Veranstaltungen zuließen. Zudem solidarisierte sich die Fridays-for-Future-Bewegung bundesweit mit dem nach der Bewertung des LfV Berlin unter linksextremistischem Einfluss stehenden Ende-Gelände-Bündnis. Sollte diese Entwicklung im Jahr 2020 fortschreiten, droht der linksextremistische Einfluss zu einem dominierenden Faktor innerhalb der gesamten Klima- und Umweltschutzbewegung zu werden.
Weiterhin richtete sich das Augenmerk der autonomen Aktivitäten in Hessen auf den von der gesamten linksextremistischen Szene behaupteten „Rechtsruck der Gesellschaft“. Durch den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke und den rassistisch motivierten Mordversuch in Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis) sah sich die Szene in ihrer Wahrnehmung bestätigt. Gleichzeitig attestierte die Szene dem Staat weiterhin Tatenlosigkeit bei der Bekämpfung des „Faschismus“ bzw. unterstellte ihm, dass in dessen (Sicherheits-)Behörden „rechte“ Strukturen existieren. Mit dieser Sichtweise machten Linksextremisten erneut deutlich, dass sie den Staat nicht als Lösung, sondern als Teil des „faschistischen“ Problems betrachten und diesen daher in ihren „antifaschistischen Kampf“ miteinbeziehen. Insbesondere sah sich die autonome Szene zur Selbstjustiz legitimiert, was ihr erlaubte, mitunter auch gewalttätig gegen politische Gegner und gegen den Staat vorzugehen. Die als notwendig erachtete autonome Selbstjustiz schloss dabei explizit den Kampf gegen staatliche „Repression“, gegen die Gentrifizierung linksalternativer Stadtviertel sowie den Kampf für den Erhalt „selbstverwalteter Freiräume“ ein.
Vor diesem Hintergrund kam es gerade in den bundesweiten Hochburgen der gewaltbereiten linksextremistischen Szene (Leipzig, Hamburg und Berlin) Ende 2019 verstärkt zu gezielten Angriffen auf einzelne Vertreter aus Politik, Justiz und Wirtschaft. Die Häufung und Schwere dieser Attacken lässt befürchten, dass sich zumindest ein – zurzeit – kleiner Teil der autonomen Szene weiter radikalisieren könnte und künftig bewusst schwere körperliche oder gar tödliche Verletzungen ihrer Opfer in Kauf nimmt. Im Umkehrschluss könnte eine solche Radikalisierung zu einer Spaltung der linksextremistischen Szene führen, da der überwiegende Teil der Szene schwerwiegende und mit Tötungsabsicht begangene Gewalttaten insbesondere aus Gründen der politischen Nichtvermittelbarkeit ablehnt. In Hessen sind solche Radikalisierungstendenzen aktuell nicht zu erkennen, allerdings sind sie bei einem auslösenden Moment auch nicht auszuschließen.