Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2019

Islamismus

Merkmale

Der Islam als Religion wird vom Verfassungsschutz nicht beobachtet. Muslime genießen – wie Anhänger aller anderen Religionen auch – in Deutschland das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes. Unter Islamismus wird im Allgemeinen die Politisierung des Islams zum Ziel und Zweck verstanden, die bestehende Gesellschaftsordnung nach islamischen Vorstellungen vollständig zu verändern und deren Rechtsgrundlagen, Werte und Herrschaftsordnungen entscheidend umzugestalten oder gänzlich abzuschaffen.

Islamistische Bestrebungen manifestieren sich, wenn das Handeln von Personen in einem oder für einen Personenzusammenschluss ziel- und zweckgerichtet danach strebt, gesellschaftliche und institutionalisierte Bereiche in einer Weise grundlegend und nachhaltig gemäß islamischen Prinzipien umzugestalten. Auf diese Weise zielen islamistische Bestrebungen darauf, einen oder mehrere zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu zählenden Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Dies kann mittels Gewaltanwendung oder Nutzung „legaler“ Möglichkeiten geschehen. Diese Bestrebungen gründen sich auf einem Islamverständnis, das islamische Glaubensquellen und andere bedeutsame Überlieferungen in eigener Weise interpretiert. Dieses Verständnis repräsentiert daher nicht eine unabdingbar gültige Auslegung des Islams und seiner Praktizierung, vielmehr erheben islamistische Lesarten den Anspruch, eine allgemeinverbindliche Form des Islams erkannt zu haben und dessen Einhaltung diktieren zu können.

Auf einen Blick
  • Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus
  • Entstehung des Islamismus
  • Ziele des Islamismus
  • Spielarten des Islamismus

Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus | Die totalitäre Veränderung einer Gesellschaft nach islamistischen Vorstellungen widerspricht elementar den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und dem demokratischen Gefüge generell: Rechtsstaatlichkeit sowie unveräußerliche Menschen- und Bürgerrechte sollen aus islamistischer Sicht vollständig überwunden werden. Das politische System einer demokratisch legitimierten Volksvertretung würde durch eine totalitär agierende Theokratie ersetzt werden. Von Menschen gemachte Gesetze würden durch sogenanntes göttliches Recht ersetzt.

Islamisten sind nicht auf Reformen bedacht, um im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung friedlich in einer vielfältigen Gesellschaft zu leben, sondern streben nach einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse. Die Wahl der Mittel umfasst dabei nicht zwangsläufig dem islamistischen Terrorismus zuzurechnende Gewalttaten. Die Mehrheit der Islamisten in Hessen, oft in Vereinen organisiert, nutzt weitaus subtilere Mittel: Sie streben nach einflussreichen Positionen und versuchen ihre Interessen durch das Eindringen in relevante Bereiche von Politik und Gesellschaft zu vertreten.

Entstehung des Islamismus | Der Islamismus nach heutigem Verständnis entwickelte sich im Nahen und Mittleren Osten des späten 18. sowie des 19. Jahrhunderts als Gegenreaktion auf lokale Herrschaftsverhältnisse und als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus, das heißt, in zahlreichen islamisch geprägten Ländern versuchten Gruppierungen unterschiedlichsten Herkommens, sich gegen Benachteiligungen und Repressionen der Kolonialmächte zu wehren.

Aus einer Wiederbelebung der islamischen Identität, hierbei gab es durchaus Unterschiede, erhofften sich insbesondere Islamisten das Erstarken ihrer Religion. Sie verbanden damit eine Universallösung für sämtliche gesellschaftliche Probleme. Despoten sollten nicht länger die muslimische Gemeinschaft geißeln und den Islam unterdrücken. Erst das Überwinden „unislamischer“ Herrscher würde den Weg ebnen, an „glorreiche Zeiten“ des Frühislams anzuknüpfen, die Machtverhältnisse neu zu bestimmen und alle Muslime in eine Weltgemeinde zu führen. Viele dieser Gruppen und Organisationen wurden von muslimischen Intellektuellen und Islamgelehrten geprägt und angeführt, die nicht aus der Elite der islamischen Geistlichkeit stammten.

Ziele im Islamismus | Obwohl sich islamistische Bewegungen im Laufe der Zeit in zum Teil deutlich unterschiedliche Richtungen entwickelten, ist ihnen doch ein ideologischer Kern gemeinsam: Es ist die Vorstellung, sämtliche Probleme der Gegenwart durch eine Rückkehr zu einer idealisierten, längst vergangenen islamischen Frühzeit zu heilen und auf diese Weise eine universelle Ordnung zu schaffen, die dem Islam und seiner Glaubensgemeinschaft den höchsten Stellenwert einräumt. Für die Gegenwart und Zukunft soll der Islam die allein gültige gesellschaftliche und rechtliche Norm bilden.

Islamisten akzeptieren in der Regel somit nur den Koran und die überlieferte Prophetentradition (Sunna) als Grundlage für islamrechtliche Entscheidungen und Regelungen. Darüber hinaus brand- marken Islamisten die Standpunkte der etablierten islamischen Rechtsschulen als ungültige Veränderungen des Islams oder interpretieren sie zugunsten der eigenen islamistischen Auffassungen. Die Mittel und Methoden der Islamisten zur Rechtsfindung reduzieren sich auf wenige frühislamische Prinzipien. Letztere lassen keinen Spielraum für theologische Auslegungen außerhalb des Islams zuzeiten des Propheten Muhammad zu.

Nach der Auffassung von Islamisten soll der Rückgriff auf ursprüngliche islamische Quellen Antworten auf Probleme der Moderne geben. Fragen der Zukunft soll mit Antworten aus der Vergangenheit begegnet werden. Dies bildet den Ausgangspunkt für islamistische Aktivitäten. Würden die islamistischen Ziele konsequent umgesetzt, hätte dies die weltweite Islamisierung, abhängig von der jeweiligen Spielart des Islamismus, zur Folge. Am Ende dieses – in islamistischer Perspektive – „Erweckungsprozesses“ stünde ein religiös institutionalisierter Machtbereich, der als staatsähnliche Ordnung dem Kalifat vergangener Zeiten gleichen würde.

Spielarten des Islamismus | Abhängig von Zeit und Ort zeigt sich der Islamismus auch in Deutschland in vielfältigen Formen. Häufig übernehmen Islamisten die ideologischen Grundlagen der Kernbewegungen aus dem Ausland. Das Ausnutzen bzw. Nutzen legaler Mittel in einer Demokratie, die aus islamistischer Sicht keine Gültigkeit besitzt, ist ein Wesensmerkmal des legalen Islamismus. Das hierzu gehörende Personenpotenzial wird mit der Bezeichnung „Legalisten“ beschrieben, der Phänomenbereich selbst wird als „legalistischer Islamismus“ bezeichnet.

Diese „Legalisten“ versuchen im Einklang mit den Gesetzen ihren Einflussraum durch politische Teilhabe auszudehnen. Mittels kommunaler, regionaler, aber auch landespolitischer Aktivitäten sollen Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unterminiert und auf lange Sicht überwunden werden, um den eigenen islamistischen Interessen Rechnung zu tragen. Extremismusvorwürfe weisen „Legalisten“ konsequent und selbstbewusst zurück und versehen sie mit dem Etikett „Islamfeindlichkeit“.

Andere islamistische Gruppen schrecken zwecks Durchsetzung ihrer Ziele nicht vor Gewalttaten zurück. Insbesondere Jihadisten sehen den Einsatz von Gewalt bzw. Terroranschläge als gerechtfertigt an.

Islamistisches Personenpotenzial

Das Personenpotenzial in Hessen blieb gegenüber dem vorherigen Berichtsjahr unverändert.

2019 2018 2017 2016 20151
Islamisten gesamt
Hessen 4.170 4.170 4.170 4.170 4.150
Bund 28.020 26.560 25.810 24.400
davon Salafisten
Hessen 1.650 1.650 1.650 1.650 1.650
Bund 12.150 11.300 10.800 9.700 8.350

1 Zu mehreren der bundesweit aktiven islamistischen Organisationen bzw. Gruppierungen lagen für das Jahr 2015 keine gesicherten Anhängerzahlen vor, sodass ein bundesweites islamistisches Personenpotenzial nicht ausgewiesen werden konnte.

Salafismus

Definition/Kerndaten

Der Salafismus setzt sich ideologisch aus einer politischen und einer jihadistischen Bewegung zusammen. Politische wie jihadistische Salafisten weichen in ihrem ideologischen Kern nicht von anderen islamischen Erweckungsbewegungen ab. Auch Anhänger eines salafistischen Islamverständnisses streben abseits theologischer Auslegungen und ideologischer Ausprägungen nach der Rückkehr zu den angeblich einzig gültigen Glaubensprinzipien, wie sie Überlieferungen zufolge in der Frühzeit um den Propheten entstanden waren und praktiziert wurden.

Anstatt ihre Religionsauffassung und -praxis an die Gegenwart anzupassen, propagieren Salafisten die idealisierte Re-Islamisierung gemäß angeblich unverfälschter Werte im Einklang mit den Geboten Allahs. Das salafistische Ziel liegt in der Wiederentdeckung des reinen Islams, seiner Erhaltung und universellen Ausdehnung. Im Diesseits ist nach salafistischer Auffassung eine gottgefällige Lebensweise nur in einer muslimischen Sozialstruktur möglich, die ungehindert für das Nachahmen der Lebensweise des Propheten bei gleichzeitiger Beachtung der hierfür zeitlos gültigen Regeln sorgt. Ein Kalifat nach historischem Vorbild wird in diesem Zusammenhang häufig als geeignete Option für ein solches Gesellschaftsmodell angesehen.

Darüber hinaus sind politische Salafisten missionarisch aktiv, indem sie die Bekehrung zum Islam und die Verbreitung des islamischen Glaubens (arab. da’wa ) betreiben. Jihadistische Salafisten rücken hingegen den gewaltsamen Kampf, den sie mit der Einhaltung göttlicher Regeln und Prinzipien rechtfertigen, in das Zentrum ihrer ideologischen Auffassung der islamischen Theologie und bilden damit den Ausgangspunkt für ihre islamistischen Bestrebungen.

Der Übergang zwischen beiden Strömungen im Salafismus kann fließend sein. In Hessen war der Großteil der Salafisten dem Spektrum des politischen Salafismus zuzurechnen. Mit einem Personenpotenzial von etwa 1.650 blieb in Hessen die Zahl der Salafisten im Vergleich zu den Vorjahren konstant und damit weiterhin besorgniserregend hoch.

Ereignisse/Entwicklungen im jihadistischen Salafismus

Die jihadistische Terrororganisation Islamischer Staat (IS) büßte im März die letzten der von ihr besetzten Gebiete in Syrien und im Irak ein, schuf jedoch in ihren ehemaligen Einflussgebieten Untergrundstrukturen, die sie für Anschläge auf lokale Machthaber und staatliche Strukturen nutzte. Somit agierte der IS wieder als jene terroristische Untergrundorganisation, wie vor seinen gewalttätigen Eroberungen und der Ausrufung des „Kalifats“ im Juni 2014.

In Nord- und Westafrika sowie in Asien etablierten sich Ableger des IS, deren Anhängerzahlen sich von Region zu Region zum Teil erheblich unterschieden. In Europa verübten Einzeltäter jihadistisch motivierte Anschläge, wobei sie – wenn auch nicht immer eindeutig verifizierbar – entweder im Auftrag des IS oder eigeninitiativ handelten. Die hohe Anschlagsgefahr blieb auch im Berichtsjahr bestehen. So kam es unter anderem in Hessen zu etlichen Exekutivmaßnahmen, wodurch die Anschlagsplanungen einzelner Personengruppen frühzeitig erkannt und vereitelt wurden.

Auf einen Blick
  • Festnahmen und Verurteilungen
  • Resonanz im jihadistischen und politischen Salafismus auf weltweite jihadistische Entwicklungen
  • Bundesweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle
  • Hessenweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle
  • Rückkehrer-Problematik Frauen und Kinder
  • Weiterhin bestehendes Anschlagspotenzial des IS – Maßnahmen der Sicherheitsbehörden
  • Jihadistisch motivierte Anschläge auf Sri Lanka und in Europa
  • Abu Bakr al-Baghdadi getötet

Festnahmen und Verurteilungen | Im Rahmen von Exekutivmaßnahmen unter Leitung des HLKA nahm die Polizei im März in Hessen und Rheinland-Pfalz mehrere Personen fest. Drei von ihnen sollen einen Anschlag mittels eines Fahrzeugs und Schusswaffen vorbereitet haben; weiterhin werden die Festgenommenen der Terrorismusfinanzierung verdächtigt. Bei den drei Beschuldigten handelt es sich um einen 21-Jährigen aus Offenbach am Main und zwei 31-jährige Brüder aus Wiesbaden, die alle die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und sich nunmehr in Untersuchungshaft befinden. Zur Vorbereitung des Anschlags sollen sie Kontakt zu Waffenhändlern aufgenommen, ein größeres Fahrzeug angemietet und Geld gesammelt haben. Bei den Durchsuchungen beschlagnahmte die Polizei umfangreiches Beweismaterial, unter anderem elektronische Datenträger, schriftliche Unterlagen, Bargeld und mehrere Messer.

Im Februar 2019 verurteilte das Jugendschöffengericht Friedberg einen zum Tatzeitpunkt 17-jährigen Jugendlichen aus Florstadt (Wetteraukreis) wegen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem Jugendlichen war vorgeworfen worden, einen islamistisch motivierten Sprengstoffanschlag im Rhein-Main-Gebiet geplant und die hierfür erforderlichen Vorbereitungen begonnen zu haben. In diesem Zusammenhang hatte sich der Angeklagte eine Anleitung zum Bau einer Sprengvorrichtung verschafft und versucht, über einen Online-Versandhändler Chemikalien zu erwerben, um Triacetontriperoxid (TATP) herzustellen. Allerdings reichten die im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung aufgefundenen Chemikalien hierzu nicht aus. Ziel war eine „Schwulenbar“ oder ein Shia-Tempel in Frankfurt am Main, um „Ungläubige“ zu töten. Die Tatplanungen waren durch nachrichtendienstlich gewonnene Erkenntnisse bekannt geworden. Im Zuge ihrer Ermittlungen stellte die Polizei fest, dass der Jugendliche sich über das Internet radikalisiert hatte und Sympathien für den IS hegte. Das Urteil ist rechtskräftig.

Im August verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen syrischen Staatsangehörigen wegen Mitgliedschaft und Beteiligung in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Der als Kriegsflüchtling 2015 in die Bundesrepublik Deutschland Eingereiste hatte von 2013 bis 2014 bei der ausländischen terroristischen Vereinigung Harakat Ahrar al-Sham al-Islamya (Ahrar al-Sham, Islamische Bewegung der Freien Männer Großsyriens) als Mitglied mitgewirkt, in diesem Zusammenhang mittels Kriegswaffen Gewalt ausgeübt und sich an Kampfhandlungen gegen die syrische Regierung und den Machthaber Baschar al-Assad beteiligt. Im Dezember wurde der Syrier nach Verbüßung seiner Haftstrafe – unter Anrechnung der Untersuchungshaft – mit Auflagen aus dem Strafvollzug entlassen. Die vorgesehene Abschiebung nach Syrien war aufgrund der dortigen Kriegsverhältnisse vorerst ausgesetzt.

Im September verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen 20-jährigen irakischen Staatsangehörigen rechtskräftig wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, des Werbens für den IS und der Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und setzte die Vollstreckung zur Bewährung aus. Die Polizei hatte den Beschuldigten im Februar 2018 in Eschwege (Werra-Meißner-Kreis) festgenommen; er hatte spätestens seit Dezember 2017 einen nicht näher konkretisierten Selbstmordanschlag in Deutschland oder Großbritannien vorbereitet, indem er sich Schwarzpulver in Form von Chinaböllern verschafft und in der elterlichen Wohnung aufbewahrt hatte. Er wollte einen Sprengsatz herstellen und zu einem nicht bekannten Zeitpunkt an einem unbekannten Ort zünden, um Personen nichtmuslimischen Glaubens zu töten oder zu verletzen. Im Laufe des Verfahrens stellte sich heraus, dass der Angeklagte tatsächlich, nicht wie von ihm angegeben 18, sondern zwei Jahre älter ist. Das OLG wandte dennoch Jugendstrafrecht an. Der Verurteilte wurde im November in den Irak abgeschoben.

Im September verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen 32-jährigen deutschen Staatsangehörigen wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Der Angeklagte war Anfang November 2013 in die an der türkisch-syrischen Grenze gelegene Stadt Reyhanli gereist, von wo er sich von Schleppern nach Syrien in ein sogenanntes Safehouse des IS bringen ließ (Safehouses dienten dem IS der Überprüfung der Zuverlässigkeit von Neuankömmlingen, insbesondere, ob es sich um Spione handeln könnte). Bei der Registrierung durch den IS erklärte der Angeklagte, sich der terroristischen Vereinigung als Kämpfer anschließen zu wollen. Nachdem der Angeklagte Ende November vom Tod seines Vaters erfahren hatte, verließ er das Safehouse mit Erlaubnis des IS und reiste über die Türkei und Frankfurt am Main nach Kassel zurück. Für die Bereitschaft des Angeklagten, sich dem IS als Kämpfer anzuschließen, erkannte das OLG eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten an. Da der Angeklagte bereits 2015 vom Landgericht (LG) Kassel wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und wegen Waffendelikten zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden und diese Strafe einzubeziehen war, wurde er zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig.

Das LG Frankfurt am Main verurteilte im November einen 18-jährigen deutschen sowie einen 25-jährigen türkischen Staatsangehörigen aus Offenbach am Main wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Beide hatten geplant, mit einem One-Way-Ticket vom Flughafen Köln/Bonn aus über Bangkok (Thailand) auf die Philippinen zu reisen und sich dort im Umgang mit Waffen und Sprengstoff ausbilden zu lassen. Einen der Angeklagten nahm die Bundespolizei vor dem Abflug fest, dem anderen gelang die Ausreise nach Bangkok, wo er bei seiner Ankunft festgenommen und nach Deutschland zurückgebracht wurde. Der 18-Jährige wurde auf drei Jahre Bewährung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten und der 25-Jährige zu zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Urteile sind rechtskräftig. Im Januar 2020 wurde der 25-Jährige in die Türkei abgeschoben.

Darüber hinaus verurteilte das LG Frankfurt am Main im November einen 19-jährigen deutschen Schüler aus Gießen (Landkreis Gießen) wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und eines Verstoßes gegen das Vereinsgesetz zu zweieinhalb Jahren Haft. Der Deutsche ägyptischer Herkunft war im Dezember 2018 mit dem Ziel nach Luxor (Ägypten) geflogen, sich auf der Halbinsel Sinai im bewaffneten Kampf für den IS ausbilden zu lassen. Nachdem ihn die ägyptischen Sicherheitsbehörden am Flughafen verhaftet und in Gewahrsam genommen hatten, war er einen Monat später nach Deutschland abgeschoben worden. Das Urteil ist rechtskräftig.

Ebenfalls im November kam es in Offenbach am Main unter der Leitung des HLKA zu Festnahmen und Durchsuchungen dreier Personen wegen des Verdachts von Anschlagsplanungen. Gegen den Hauptbeschuldigten, einen 24-jährigen Deutsch-Mazedonier, wurde Haftbefehl erlassen. Die beiden 21- und 22-jährigen mitbeschuldigten türkischen Staatsbürger wurden, da kein dringender Tatverdacht mehr bestand, aus der Untersuchungshaft entlassen. Dem Hauptbeschuldigten wird vorgeworfen, Vorbereitungen getroffen zu haben, um im Rhein-Main-Gebiet mittels Sprengstoff oder Schusswaffen einen islamistisch motivierten Anschlag zu verüben. Er soll dabei beabsichtigt haben, möglichst viele „Ungläubige“ zu töten. Bei den Durchsuchungen fand die Polizei zur Herstellung von Sprengstoff geeignete Chemikalien. Darüber hinaus soll der Beschuldigte im Internet nach Möglichkeiten zum Kauf von Schusswaffen gesucht haben.

Resonanz im jihadistischen und politischen Salafismus auf weltweite jihadistische Entwicklungen | Wie im Vorjahr verfolgte die Szene in Hessen weiterhin die Entwicklungen der global agierenden jihadistischen Gruppierungen und Organisationen, insbesondere in Syrien und im Irak. An der Frage, ob der IS und das „Kalifat“ theologisch zu legitimieren seien, entzündeten sich in der Szene weiterhin Auseinandersetzungen. Bereits bestehende ideologische Konflikte intensivierten sich, neue kamen hinzu. In der Szene überwog die Einsicht, dass der IS mit der territorialen Bildung eines islamischen Staatsgebildes gescheitert ist.

Bundesweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle | Zum Jahresende 2019 lagen zu insgesamt 1.050 deutschen Islamisten und Islamisten aus Deutschland, die in Richtung Syrien/Irak gereist waren, Erkenntnisse vor. Zu etwa der Hälfte der gereisten Personen lagen konkrete Anhaltspunkte vor, dass sie auf Seiten des IS und der Terrororganisation al-Qaida oder diesen nahestehenden Gruppierungen und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilgenommen hatten oder diese in sonstiger Weise unterstützt hatten. Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich.

Der überwiegende Teil der insgesamt 1.050 Ausgereisten war jünger als 30 Jahre. Etwa ein Drittel dieser Personen kehrte wieder nach Deutschland zurück. Zu über 110 der bislang zurückgekehrten Personen lagen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, wonach diese sich aktiv und jihadistisch motiviert an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten.

Nachdem der IS seine territoriale Basis verloren hat, liegen Erkenntnisse zu aus Deutschland ausgereisten Personen im unteren dreistelligen Bereich vor, die aus Syrien bzw. dem Irak ausreisen möchten und/oder die sich dort in Haft bzw. Gewahrsam befinden. Zur Mehrheit dieser Personen liegen Erkenntnisse vor, dass sie beabsichtigen unter anderem nach Deutschland zurückzukehren.

Hessenweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle | Den hessischen Sicherheitsbehörden lagen im Berichtszeitraum Erkenntnisse zu etwa 150 Islamisten aus Hessen vor, die in Richtung Syrien oder Irak reisten, um dort auf Seiten des IS und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese in sonstiger Weise zu unterstützen. Einzelne Ausreisesachverhalte wurden unverändert erst nachträglich bekannt. Neue Ausreisen in Richtung Syrien/Irak wurden nur noch sehr vereinzelt registriert.

Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich. Dem Bundestrend entsprechend war der überwiegende Teil der insgesamt 150 ausgereisten Personen jünger als 30 Jahre. Nicht in allen Fällen lagen Erkenntnisse vor, dass sich diese Personen tatsächlich in Syrien bzw. im Irak aufhalten oder aufhielten. Etwa ein Viertel der Ausgereisten kehrte bis Ende 2019 nach Hessen zurück.

Darüber hinaus lagen Erkenntnisse zu aus Hessen ausgereisten Personen im niedrigen zweistelligen Bereich vor, die sich in Syrien bzw. im Irak in Haft bzw. in Gewahrsam befanden. Mehrheitlich handelte es sich um weibliche Personen. Ein Großteil der Frauen war in Begleitung von Kindern, wobei sich eine verstärkte Rückreisetendenz abzeichnete. Etwa ein Viertel der Ausgereisten kehrte bis Ende 2019 nach Hessen zurück.

In Bezug auf die Hälfte der Rückkehrer lagen den Behörden keine belastbaren Informationen vor, dass sich diese aktiv an Kampfhandlungen in der Region Syrien/Irak beteiligten. Als Ergebnis der kontinuierlichen Aus- und Bewertung der Erkenntnislage zu den Rückkehrern lagen den Sicherheitsbehörden in Hessen zu etwa 20 Personen Informationen vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten. Ferner lagen zu rund 50 Personen Hinweise vor, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit in Syrien oder im Irak ums Leben kamen. Die hessischen Sicherheitsbehörden sind bestrebt, extremistisch motivierte Ausreiseplanungen frühzeitig wahrzunehmen, um deren Verwirklichung zu unterbinden.

Rückkehrer-Problematik Frauen und Kinder | Zahlreiche Kinder und Jugendliche, die zum Teil in damaligen Herrschaftsgebieten des IS geboren wurden oder dorthin mit ihren Eltern ausgereist waren, gerieten im Zuge der Zerschlagung des territorialen „Kalifats“ des IS in Gefangenschaft der Anti-IS-Allianz. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche dieser Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit Traumatisierungen erlitten bzw. psychisch belastende Erfahrungen mit Krieg und Gewalt gemacht haben und unverändert durch die Ideologie des IS indoktriniert sind. Da diese Personengruppe bei einer Rückkehr nach Deutschland eine potenzielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, beschäftigt sich der Verfassungsschutzverbund intensiv mit der Rückkehrer-Problematik von jihadistischen Frauen und deren Kindern, die sich in Gefangenschaft befinden.

Im Laufe des Berichtsjahrs kehrten fünf Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit – unter Beteiligung deutscher Sicherheitsbehörden – in Begleitung von insgesamt sieben Kindern nach Hessen zurück. Die Frauen waren zwischen 2014 und 2016 in das Krisengebiet Syrien/ Irak ausgereist. Eine der insgesamt zwischen 21 und 30 Jahre alten Frauen wurde aufgrund eines Haftbefehls wegen Mitgliedschaft und Beteiligung in einer ausländischen terroristischen Vereinigung bei ihrer Rückkehr in Untersuchungshaft genommen. Im Fall einer 30-jährigen Deutschen sahen die zuständigen Behörden die Notwendigkeit, deren drei Kinder in eine andere Obhut zu geben.

Weiterhin bestehendes Anschlagspotenzial des IS – Maßnahmen der Sicherheitsbehörden | Trotz der militärischen Offensiven der Anti-IS-Allianz war es der Terrororganisation möglich, jihadistische Propaganda über die sozialen Medien zu verbreiten und jihadistisch motivierte Anschläge anzuleiten. Nachdem im Rahmen der Gebietsverluste in Syrien und im Irak die Anzahl der Anschläge des IS zurückgegangen war, nahmen aufgrund dessen Konsolidierung im Untergrund sowohl die Anschlagsquantität als auch die -qualität wieder zu.

Obwohl sich hinsichtlich der IS-Propaganda Qualität und Quantität spürbar verringerten, drang die Kernbotschaft des IS zu (potenziellen) Anhängern und Sympathisanten durch. Von nicht unerheblicher Bedeutung war dabei die Vervielfältigung der Propaganda durch IS-Sympathisanten, die ohne Verbindung zu der Terrororganisation jihadistische Inhalte individuell verfassten und aus eigenem Antrieb über das Internet verbreiteten. Hierbei wurden Nachrichten über den IS sowie dessen Verlautbarungen emotional kommentiert. Insbesondere die Reaktionen auf Kämpfe in Baghuz (Syrien), der letzten Hochburg des IS, und auf die im September veröffentlichte erste Videobotschaft al-Baghdadis seit über fünf Jahren stachen dabei heraus. Verstärkt wurde der gewaltsame Jihad gegen diejenigen „Feinde“ des „Kalifats“ propagandiert, die sich an Anti-Terror-Operationen gegen den IS beteiligten oder der Anti-IS-Allianz anschlossen.

Die intensivierten Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden in Deutschland sowie des Militärs in der Konfliktregion erschwerten offensichtlich bestehende oder geplante Anschlagsbemühungen von IS-Terrorzellen erheblich. Vor diesem Hintergrund sowie angesichts der jihadistischen IS-Propaganda und -Anleitung zu entsprechend motivierten Angriffen verlagerte sich der Trend hin zu Einzelakteuren, die Terroraufrufe aufgriffen und – ohne Einbindung in Zellenstrukturen – versuchten, Anschläge vorzubereiten.

Für die Sicherheitsbehörden war es eine große Herausforderung, diese vom IS oft unabhängig agierenden Personen vor der Umsetzung eines Anschlags zu identifizieren. Nur in seltenen Fällen lagen zu den Akteuren bereits über einen längeren Zeitraum auf Tatsachen basierende Erkenntnisse vor, die eindeutig auf die Absicht hinwiesen, dass ein Anschlag unmittelbar bevorstand. Oftmals handelte es sich um IS-Sympathisanten, die nur mittelbar in Kontakt mit der Terrororganisation standen oder erst ab einem gewissen Zeitpunkt ihrer jihadistischen Radikalisierung und bei Konkretisierung ihrer Anschlagspläne den direkten Kontakt zum IS herstellten.

Jihadistisch motivierte Anschläge auf Sri Lanka und in Europa | Im Vergleich zu den Vorjahren ging die Zahl der Anschläge mit jihadistischem Hintergrund zurück. Die folgende Kurzdarstellung beschränkt sich auf besonders schwerwiegende Taten:

  • Colombo, Negombo und Batticaloa (Sri Lanka), 21. April: Am Ostersonntag begingen sieben IS-Angehörige koordinierte Bombenanschläge auf Kirchen und Hotels, wobei es ihr Ziel war, möglichst viele Menschen zu töten. So wurden die Kirchen während der Ostergottesdienste und die Hotels während der Frühstückszeit angegriffen. Die Anschläge kosteten 253 Menschen das Leben, mehr als 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Der IS veröffentlichte im Anschluss ein Video, in dem die Attentäter ihm die Treue schworen und diesem die Anschläge widmeten.
  • Lyon (Frankreich), 24. Mai: In der Fußgängerzone explodierte ein Sprengsatz, der 13 Menschen leicht verletzte. Drei Tage nach dem Anschlag nahm die französische Polizei den mutmaßlichen Täter fest. Er gestand die Tat und bekannte sich zum IS.
  • Paris (Frankreich), 3. Oktober: Mit einem Messer tötete ein Mitarbeiter der Pariser Polizeidirektion vier Kollegen und verletzte einen fünften schwer, bevor er selbst von einem Polizisten erschossen wurde. Der Täter war ein langjähriger Mitarbeiter der Präfektur, war zum Islam konvertiert und hatte unter anderem das islamistisch motivierte Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Jahr 2015 gerechtfertigt.

Abu Bakr al-Baghdadi getötet | Im Rahmen einer Militäroperation der amerikanischen Streitkräfte wurde al-Baghdadi, der Anführer des IS, am 26. Oktober getötet. Nach dem Verlust des territorialen „Kalifats“ setzte dies die Terrororganisation noch weiter unter Druck. Vier Tage später bestätigte die IS-Führung den Tod al-Baghdadis und rief mit Abi Ibrahim al-Hashimi al-Quraschi einen neuen „Kalifen“ aus. Einzelne IS-„Provinzen“ veröffentlichten anschließend Videos, in denen Anhänger dem neuen „Kalifen“ ihre Treue bekundeten.

Ereignisse/Entwicklungen im politischen Salafismus

So wie es sich seit dem Sommer 2018 angekündigt hatte, waren im Berichtsjahr keine Aktivitäten des „We-Love-Muhammad“-Projekts mehr zu verzeichnen. Die Betreiber des Projekts hatten nur wenige Akteure zu akquirieren vermocht und es war ihnen nicht gelungen, die Strukturen in Hessen über das Rhein-Main-Gebiet hinaus dauerhaft auszubauen. Im Moscheeverein Dar al Salam e. V. fanden weiterhin Aktivitäten und Predigten im Rahmen des politischen Salafismus statt.

Aktivitäten des Moscheevereins dar al Salem e. V. | Der 2015 in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) gegründete Moscheeverein Dar al Salem e. V. betrieb eine Moschee im Marburger Stadtteil Richtsberg und unterhielt mehrere Auftritte in den sozialen Medien. Dass der Moscheeverein politisch-salafistische Bestrebungen verfolgte, war anhand der Predigten des Imams erkennbar.

Mittels der Predigten wird die Umsetzung und Verwirklichung von Predigtinhalten forciert, die sich gegen die Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten. Das Islamverständnis des Dar al Salem e.V. ist exklusivistisch-salafistischer Prägung. In den Predigten wird ein dualistisches Weltbild vermittelt, in dem sich Muslime und Nichtmuslime in Feindschaft gegenüberstehen. Diese Zweiteilung der Welt wird dogmatisch zugespitzt, indem suggeriert wird, dass man dem in den Predigten normativ vorgeschriebenen Islamverständnis folgen müsse, um als Muslim gelten zu können.

In den Predigten wird betont, dass man ausschließlich der Prophetentradition (arab. sunna ) des Propheten Muhammad und den frommen Altvorderen im Islam folgen solle, da dies den „wahren“ Islam ausmache. Dabei würden das Handeln und die Taten des Propheten Muhammad und der frommen Altvorderen nicht nur als historisches Vorbild dienen, sondern müssten als Handlungsanweisung für die gegenwärtige Situation interpretiert werden. Gemäß den Predigtinhalten des Dar al Salem e. V. seien Neuerungen im Islam generell verboten und würden ins Höllenfeuer führen.

Die Forderung nach ausschließlicher Ausrichtung an dem Propheten und den frommen Altvorderen im Islam und die Ablehnung jeglicher Neuerung im Islam stehen bei dem Dar al Salem e. V. für ein salafistisches Islamverständnis.

Entstehung/Entwicklung

Salafismus als Bezeichnung für die Anhänger einer islamistischen Strömung ist erst seit Anfang der 2000er Jahre verstärkt in das Interesse der Forschung und Sicherheitsbehörden gerückt. Die Wortbedeutung leitet sich aus dem arabischen Begriff salaf (dt. Altvorderer) ab und prägt den Terminus bis heute. Salafisten glorifizieren die islamische Ära (etwa 610 bis 850) der Altvorderen, die das Leben des Propheten Muhammad und seiner Anhängerschaft in drei Generationen fasst, als Zeitalter des unverfälschten Islams („goldene Epoche“). In rigider Form stellen Salafisten Allah als Ursprung und Zentrum aller rechtlichen wie moralischen Fragen in den Mittelpunkt ihres Glaubens. Die genaue Herkunft des Begriffs Salafismus in der Bedeutung einer religiösen wie sozialen Bewegung lässt sich nicht eindeutig zurückverfolgen. Ideengeschichtlich hat der Begriff seit dem 14. Jahrhundert verschiedene Entwicklungen durchlaufen. Aktuell fasst das Phänomen Salafismus das Personenpotenzial einer im Islamismus aktiven Strömung zusammen, die sich durch zum Teil erhebliche Differenzen im Auslegen und Ausleben ihres Islamverständnisses kennzeichnet.

Auf einen Blick
  • Vorbildfunktion der islamischen Frühgeschichte
  • Homogene Überzeugung – heterogene Zusammensetzung
  • Salafismus in Deutschland

Vorbildfunktion der islamischen Frühgeschichte | Salafisten gehören konfessionell dem sunnitischen Islam an und richten ihre Glaubenslehre nahezu wortwörtlich am Koran und den überlieferten Bräuchen und Traditionen (arab. sunna ) des Propheten Muhammad aus. Salafisten entwickeln in Anlehnung an die islamrechtliche Methodologie der Religionspraxis eine eigene Methode (arab. manhaj ), die sie aus ihrer Glaubenslehre ableiten und im Einklang mit ihr praktizieren. Im Gegensatz zu der übrigen islamischen Glaubenstradition sind Salafisten davon überzeugt, dass ausschließlich in der Epoche der frommen Altvorderen (arab. as-salaf as-salih ) im 7. Jahrhundert die reine und unverfälschte Form des Islams praktiziert worden sei. Die drei ersten Generationen um den Propheten Muhammad nehmen im sunnitischen Islam wegen ihrer Nähe zu ihm und seiner Lebensweise generell eine hohe Bedeutung ein. Im Salafismus wird dieses Zeitalter theologisch überhöht und ideologisch als vorbildliches Lebensmodell propagiert.

Da es sich bei den frommen Altvorderen nicht um eine Bewegung oder ein klar definiertes Konzept handelte, gestaltete sich dieser Rückgriff auf sie – je nach historischen, politischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Umständen – sehr unterschiedlich und führte in der Moderne zu stark divergierenden Interpretationen und verschiedenen – teils widersprüchlichen – Strömungen innerhalb des Salafismus.

Homogene Überzeugung – heterogene Zusammensetzung | Obwohl das salafistische Islamverständnis grundsätzlich eine klare Doktrin entwickelte, bildeten sich im Verlauf der Zeit unterschiedliche Auslegungen und Praktiken heraus. Gerade die in bewusster Ablehnung der vier anerkannten sunnitischen Rechtsschulen (arab. im Singular madhab ) angewandte individuelle Interpretation (arab. ijtihad ) der islamischen Primärquellen führte wiederholt zu einer ideologischen Fragmentierung salafistischer Sichtweisen. Dies hemmte gleichzeitig die Verschmelzung zu einer homogenen – in ihrer Theologie vereinten – globalen religiösen Bewegung. Sowohl die Anhänger des Salafismus als auch des Wahhabismus berufen sich abseits der islamischen Hauptquellen im Wesentlichen auf bestimmte Werke der historischen Islamgelehrten Ahmad Ibn Hanbal (780–855), Taqi al-Din Ahmad Ibn Taimiya (1263–1328) und Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703–1792). Die Schriften dieser Gelehrten und ihrer Zirkel ziehen Salafisten bis heute als Legitimationshilfe für ihr Islamverständnis heran. Dabei ignorieren sie die kultische und kulturelle Mehrdimensionalität des Islams. Die bewusste Abgrenzung von islamrechtlich etablierten Meinungen sowie die theologische Maxime der individuellen Auslegung ließen zudem salafistische Lehrzirkel entstehen, die oftmals nur aus wenigen Schülern und einem Mentor bestehen.

Salafismus in Deutschland | In Deutschland wurden salafistische Prediger etwa seit 2002 aktiv und begannen, überregionale Missionierungsnetzwerke aufzubauen. Einige Prediger dieser ersten Generation erhielten ihre religiöse Ausbildung an Universitäten in Saudi-Arabien, was sich in ihrer Interpretation der islamischen Glaubenslehre nach wahhabitischer Lesart widerspiegelt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie die Loyalität gegenüber dem saudischen Königshaus teilen, die traditionelle wahhabitische Gelehrte auszeichnet. Da es auch innerhalb des Wahhabismus heterogene Lehrmeinungen gibt, berufen sich salafistische Akteure in Deutschland auf unterschiedliche Gelehrte und vertreten daher unterschiedliche Positionen, etwa in Bezug auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gewalt erlaubt ist. Anders als die Prediger der ersten Generation hat die wachsende Anzahl der gegenwärtigen Unterstützer und Sympathisanten des Salafismus oftmals keine religiöse Ausbildung an Universitäten erhalten, sondern schöpft ihr „Wissen“ aus Islamseminaren in Deutschland, Internetpredigten und privaten Lerngruppen.

Ideologie/Ziele

Der Salafismus stellt innerhalb des Islamismus eine Strömung dar, die sich insbesondere durch ihre doktrinäre Auffassung des Islams hervorhebt. Die regional verhaftete, streng konservative sunnitische Islamauslegung des Wahhabismus beeinflusste die zeitgenössische salafistische Doktrin nachhaltig. Die salafistische Glaubenslehre (arab. ’aqida ) absorbierte einzelne wahhabitische Glaubensgrundsätze und ergänzte diese um eigene theologische Elemente.

Auf einen Blick
  • Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams
  • Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin
  • Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre
  • Politischer Salafismus
  • Jihadistischer Salafismus

Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams | Kulturelle Einflüsse, die den Islam seit seiner Verbreitung im 8. Jahrhundert fortwährend geprägt haben, werden in der salafistischen Islamauslegung als schädigende und gleichermaßen als unerlaubte Neuerung (arab. bid’a ) stigmatisiert, da sie nicht der normativen bzw. islamrechtlich verbindlichen Vorbildfunktion der Prophetentradition entsprächen. Im Salafismus ist der Handlungsspielraum menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten genau auf die „Goldene Epoche“, das heißt die ersten drei Generationen der Muslime nach dem Propheten Muhammad, begrenzt. Er begreift sich gleichzeitig als ewige Bastion gegen verschiedene theologische und kulturelle Entwicklungen im Islam. Das Zeitalter der Prophetentradition bildet für Salafisten somit den theologisch verbindlichen Bezugspunkt zum uneingeschränkten Monotheismus (arab. tauhid ), den es unter allen Umständen vor Unglauben (arab. kufr ) und Polytheismus (arab. shirk ) zu schützen gelte. Dieses Zeitalter ist gleichzeitig auch der moralische und rechtliche Maßstab für das menschliche Dasein und Handeln in der Gegenwart zur Erfüllung des göttlichen Willens. Selbst in traditionellen islamischen Verehrungsriten sehen Salafisten die Universalität und Einmaligkeit Allahs angegriffen. Auch weltliche Institutionen wie Gerichtsbarkeiten, die nicht vollständig der salafistischen Auslegung der islamischen Rechts- und Verhaltensnormen (arab. shari’a ) unterworfen sind, werden als Götzendienst (arab. taghut ) abgelehnt.

Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin | Im Mittelpunkt der salafistischen Glaubenslehre steht das unerschütterliche Bekenntnis zu einem Gott. Nahezu identisch mit wahhabitischen Auslegungen fassen Salafisten die in den islamischen Glaubensquellen benannten Attribute Allahs wortwörtlich und nicht metaphorisch auf. Der salafistischen Glaubenslehre zufolge kategorisiert sich die Unterwerfung unter Allah in drei Bereiche der Huldigung. Zu ihnen zählt die universale Herrschaft Allahs, die göttliche Einzigartigkeit sowie die Einmaligkeit der Namen und Attribute Allahs. Den Wesenskern der salafistischen Doktrin bildet dieses tauhid -Verständnis, das es unter allen Umständen vor inneren wie äußeren Verzerrungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schützen gelte.

Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre | Das salafistische Selbstverständnis zeichnet das Bild eines frommen Muslims, der – in Bescheidenheit und Zurückgezogenheit – sein Leben der ewigen Suche nach der Wahrheit im Islam widmet. Salafisten verstehen sich als Bestandteil der sogenannten erretteten bzw. auserwählten Gruppe (arab. at-ta’ifa-al-mansura und al-firqa-an-najiya ). Einzig die Anhänger des wahren Islams sollen laut einer Überlieferung (arab. hadith ) der islamischen Heilslehre am Tag des Jüngsten Gerichts vor Allah bestehen. Aus der Überzeugung, einer elitären Gruppe wahrer Muslime anzugehören, resultiert das moralische Überlegenheitsgefühl der Salafisten gegenüber Andersdenkenden. Aus diesem Grund fühlen sich Salafisten dazu berufen, das soziale Umfeld gemäß ihrer Überzeugung zu erziehen und nachhaltig zu verändern.

Besonders deutlich wird der soziale Verhaltenskodex im Salafismus anhand der Forderung der Einhaltung islamischer Prinzipien, die gemäß der salafistischen Doktrin einen Leitmotivcharakter aufweisen. Salafisten streben danach, den Islam von vorgeblich schädigendem Einfluss zu bereinigen. Dementsprechend versuchen sie sowohl die theologische Lehre im Islam als auch die Gesellschaft als Ganzes gemäß ihrer Doktrin zu gestalten. Indem anderen Muslimen das Rechte geboten und das Schlechte verboten (arab. al-amr bi-l-ma’ruf wa nahy ’an al-munkar ) wird, können Salafisten neben der theologischen Lehre somit auch erheblichen sozialen Einfluss ausüben. Salafisten folgen dem Prinzip der Loyalität und Lossagung (arab. al-wala‘-wa-l-bara‘ ), um sich durch das klare Bekenntnis zu ihrer Glaubensauslegung demonstrativ von allen anderen Glaubensformen oder vermeintlich Ungläubigen zu distanzieren. In der Nähe zu anderen Glaubensgemeinschaften sehen Salafisten die Gefahr, den eigenen Glauben im engeren Sinne zu verzerren und den Islam im weiteren Sinne zu verderben.

Das Abgrenzungsprinzip al-wala‘-wa-l-bara‘ bietet somit den Platzhalter für viele Formen der Fremdenfeindlichkeit und mündet oftmals in der islamtheologisch umstrittenen Praxis, einen Muslim für ungläubig zu erklären (arab. takfir ), wenn Salafisten andere Muslime aufgrund angeblich frevelhafter Religionsausübung oder anderer Verfehlungen als Nichtmuslime brandmarken. Darüber hinaus vertieft das Prinzip der offensiven Lossagung den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, wobei Salafisten letztere den Makel angeblich unwürdiger Muslime zusprechen.

Aus dem bedingungslosen Befolgen der salafistischen Doktrin können somit verfassungsfeindliche Bestrebungen gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung resultieren. Der Bestrebungscharakter im Salafismus ist prinzipiell totalitär, da das Diesseits nach seinen normativen Maßstäben zur Ehrung und Wahrung des Islams zu formen ist. Diese salafistische Doktrin enthält die idealisierte Vorstellung einer Welt, die den Anforderungen des „wahren Islams“ vollumfänglich gerecht werden will: gesamtgesellschaftlich, global und konsequent gelebt bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Jedoch lässt sich innerhalb des Salafismus keine synchronisierte, homogene Bestrebung zu diesem Ziel hin feststellen. Idealvorstellung und reale Verhältnisse unterliegen Wechselwirkungen, die sich stets auf das salafistische Islamverständnis in Abhängigkeit von Zeit und Ort ausgewirkt haben. Somit ist die salafistische Doktrin in unzählige „Etappenziele“ unterteilt, die ihrerseits dem Wandel veränderter religiöser Prioritäten im Bezug zur Gegenwart unterliegen.

Dies setzt entsprechende Bestrebungen im Sinne eines sozial-reformistischen bis hin zu revolutionären Umbruchs voraus, die jedoch aufgrund der verschiedenen weltweiten Erscheinungsformen des Salafismus nicht pauschal bei jedem Anhänger in gleicher Weise ausgeprägt sind. Ungeachtet dessen würde die Implementierung einer salafistischen Gesellschaftsordnung in Deutschland am ehesten mit einem Gottesstaat vergleichbar sein und gleichzeitig die Abschaffung bzw. Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bedeuten.

Politischer Salafismus | Der politische Salafismus ist in der Regel von gewaltlosen Aktivitäten gekennzeichnet. Das salafistische Islamverständnis verlangt, die Reinheit des Islams zu bewahren und seine Authentizität wiederherzustellen, wo es notwendig erscheint. Salafisten sehen sich dazu berufen, das im Laufe der Jahrhunderte angereicherte islamische (Gelehrten-)Wissen zu bereinigen (arab. tasfiya ), um daraus auch Konsequenzen abzuleiten, so etwa bei der Verbreitung der bereinigten Botschaften in Erziehung und Kultivierung (arab. tarbiya ) gegenüber anderen Personen.

Daher nutzen politische Salafisten überwiegend gewaltlose Formen der religiösen Erziehung und der im Hintergrund – ohne politisches Aufsehen erregenden – tätigen Beratung (arab. nasiha ). Auf diese Weise wollen sie ihr Umfeld auf den angeblich wahren Weg Allahs zurückführen und zum Übertritt zum Islam nach ihrem Verständnis bekehren (arab. da’wa ). Grundsätzlich meiden Salafisten das politische Engagement, um die Reinheit der Doktrin des tauhid zu erhalten und vor angeblich islamfremden Einflüssen zu schützen. Salafisten sind daher weder parteipolitisch noch in vergleichbarer Form im öffentlichen Diskurs für gesamtgesellschaftliche Gestaltungsprozesse aktiv. Dennoch kann die salafistische Doktrin auf gesamtgesellschaftliche Bereiche einwirken und somit politischen Einfluss entwickeln. Der Einsatz von Gewalt ist bei politischen Salafisten nicht kategorisch auszuschließen, stellt jedoch im Kontrast zu den Anhängern des globalen Jihadismus nicht per se ihr islamrechtlich bevorzugtes Mittel zur Veränderung der Verhältnisse dar.

Jihadistischer Salafismus | Jihadistische Salafisten teilen zentrale Glaubensprinzipien des politischen Salafismus, bilden daraus jedoch Legitimationen für eigene Handlungsmuster. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal ergibt sich aus dem Verhältnis zur Gewalt. Der Anstrengung für Allah (arab. jihad ) messen Jihadisten eine gewaltorientierte, aktiv-kämpferische Komponente bei, die zur individuellen Glaubenspflicht erhoben wird und dadurch in ihrer Perspektive die Durchsetzung revolutionärer und umstürzlerischer Zwecke rechtfertigt. Entgegen der politisch-salafistischen Agenda sehen Jihadisten primär in der Gewaltanwendung die Möglichkeit, „Tyrannen“ und „Ungläubige“ zu bekämpfen. Verhaftet in den islamischen Überlieferungen vom Tag des Jüngsten Gerichts, streben Jihadisten nach der Auslöschung aller unislamischen, ungläubigen Elemente, die sie in Regierungen, anderen Religionen und auch islamischen Glaubensgemeinschaften verkörpert sehen. Der gewaltsame sogenannte kleine jihad nimmt in den ideologischen Auffassungen der verschiedenen Gruppen, die insgesamt den globalen Jihadismus bilden, unterschiedliche Formen an und wird entsprechend vielfältig legitimiert und angewendet. Somit zielen jihadistische Salafisten im Gegensatz zum politischen Salafismus auf die gewaltsame Beseitigung bzw. Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder nehmen bewusst deren Schädigung in Kauf.

Bewertung/Ausblick

Politischer Salafismus | In der Öffentlichkeit gingen die Aktivitäten im Bereich des politischen Salafismus seit 2015 kontinuierlich zurück. So kam etwa das Werben für das Projekt „We Love Muhammad“ vollends zum Erliegen. Eine ähnliche Entwicklung ließ sich in Bezug auf öffentliche salafistische Predigten und damit verbundene hoch frequentierte Zusammenkünfte der entsprechenden Sympathisanten und Anhänger feststellen. Zunehmend wichen salafistische Gelehrte und Prediger auf private Bereiche aus und nutzten weiterhin die sozialen Medien für ihre Aktivitäten. Insgesamt verschwanden islamistische Aktivitäten, die dem Bereich des politischen Salafismus zuzurechnen sind, nahezu vollständig aus dem öffentlichen Raum in Hessen. Die stark rückläufige Anzahl öffentlicher Auftritte von Salafisten ist jedoch nicht mit einem Rückgang der Anhängerzahl gleichzusetzen. Unverändert hält die politisch-salafistische Szene die Anhänger in ihren Reihen.

Jihadistischer Salafismus | Die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags war in Deutschland unvermindert hoch. Solange es dem IS und anderen jihadistischen Gruppierungen weiterhin gelingt, ihre Botschaften und Ideologien insbesondere über die sozialen Medien weltweit zu verbreiten, ist nicht mit einer abnehmenden Anschlagsgefahr zu rechnen.

Da jihadistische Gruppierungen weiterhin danach streben, eine islamische Gesellschaft – häufig als „Emirat“ oder „Kalifat“ bezeichnet – zu etablieren, haben für sie Syrien und weite Teile der Levante (Länder am östlichen Mittelmeer) eine unvermindert große ideologische Bedeutung. Nach jihadistischer Lesart erfüllen sich hier die apokalyptischen Verheißungen und Voraussagen islamischer Überlieferungen, das heißt die Voraussagen in Bezug auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der Akteure des weltweiten Jihadismus müssen auch in Zukunft sehr genau beobachtet und analysiert werden, um entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Der weltweite Jihadismus besticht in den Augen seiner Anhänger in erster Linie durch seine klare Ideologie, die einerseits die freie Religionsausübung des Islams garantiert und andererseits sowohl moralische als auch politische Feinde zum Schutz des Islams gnadenlos bekämpft. Das Gros der Gefolgschaft bildet sich letztlich aus ideologisierten Anhängern; die Idee einer gemäß salafistischen Prinzipien konzipierten Welt bietet aber auch Nischen für Menschen, die glauben, in diesen Strukturen besser zurechtkommen zu können, als andernorts, wo sie sich unterdrückt fühlen. Es sind daher nicht nur Organisationen oder Gruppen, die den Jihadismus entstehen lassen, sondern vor allem dessen propagandistische ideologische Überzeugungskraft formiert diese Gruppen und wird weiterhin eine breite Anhängerschaft anziehen.

Das Zerschlagen von jihadistischen Terrorzellen und -netzwerken hemmt kurz- bis mittelfristig den Aufbau jihadistischer Strukturen, kann jedoch nicht die dahinterstehende Ideologie zerstören. Eine maßgebliche Aufgabe des LfV ist es, Radikalisierungs- und daraus entstehende Gefahrenpotenziale sowie die entsprechenden Akteure rechtzeitig zu erkennen. Darüber hinaus ist es das Ziel des LfV, mittels seiner Präventionsarbeit der Verbreitung des salafistischen/jihadis-tischen Gedankenguts entgegenzuwirken.

Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Befreiung)

Definition/Kerndaten

Weltweit ist die HuT in über 40 Staaten mit etwa einer Million Mitgliedern präsent. Ziel der panislamischen Organisation ist die „Befreiung“ aller Muslime von „Unterdrückung“ und deren Vereinigung in einem weltweiten „Kalifat“ mit islamischer Rechtsordnung. Aus Sicht der HuT haben „unterdrückte Muslime“ das Recht auf „Selbstverteidigung“ mit allen Mitteln. Als Konsequenz billigt die HuT oftmals Gewalttaten anderer islamistischer Gruppierungen. 2003 sprach der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT aus, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 bestätigte. Dennoch setzen Anhänger der Organisation ihre Rekrutierungsbemühungen im Untergrund fort. Insbesondere in sozialen Netzwerken gibt es zahlreiche Gruppierungen mit Bezügen nach Hessen, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Hierzu gehört die in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) ansässige Gruppierung Realität Islam (RI).

Führung: Ata Abu al-Rashta, alias Abu Yasin
Anhänger: In Hessen etwa 80, bundesweit etwa 430
Medien: Mehrsprachige Internetpräsenzen
Ereignisse/Entwicklungen

Die Gruppierung RI war unter dem Leitspruch „Erhebe deine Stimme gegen die Wertediktatur“ schwerpunktmäßig in den sozialen Medien aktiv. Bis zum Ende des Berichtszeitraums wurde die RI-Facebook-Seite von etwa 35.000 Personen geliked bzw. abonniert, der YouTube-Kanal mit 335 Videos hatte etwa 12.000 Abonnenten und wurde seit November 2015 etwa 840.000 Mal aufgerufen. Der Instagram-Account hatte etwa 9.000, der Twitter-Account 2.500 Follower. Die RI-Internetseite war etwa seit Mai/Juni nicht länger abrufbar.

Auf einen Blick
  • Öffentliche Veranstaltungen
  • Flugblattaktionen
  • „Stellungnahme: Sogenannter ,Islamunterricht‘ an den Schulen Hessens“
  • Kampagne „Deine Stimme gegen das Kopftuchverbot“/ „#Kopftuchunserepflicht“

Öffentliche Veranstaltungen | Die Gruppierung RI nutzte im Berichtsjahr ihre Räumlichkeiten in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) für öffentliche Veranstaltungen. So fanden sogenannte Themenabende statt: am 25. Januar („Richtige und falsche Empathie“) und am 15. März („Die Hinrichtung der Muslime in den Moscheen Neuseelands! Was bedeutet das für uns?“). Am 26. April lud RI zu der Veranstaltung „Zeitgeist Tue das Richtige zur rechten Zeit!“ (Schreibweise wie im Original) ein. Eine weitere Veranstaltung anlässlich des Fastenbrechens am 11. Mai unter dem Titel „Meine Entscheidung unsere Konsequenzen!“ richtete sich, da nicht genügend Platz vorhanden war, ausschließlich an Männer. Insgesamt war es das Ziel von RI, Interessierte kennenzulernen und deren „Sorgen und Anliegen aus erster Hand“ zu erfahren. Hierzu sollten – außerhalb der sozialen Medien – persönliche Treffen im Rahmen von Workshops, Vorträgen, Themenabenden, offenen Gesprächen in Veranstaltungssälen, Moscheen, Vereinsräumen und Privatwohnungen dienen.

Flugblattaktionen | Parallel zu den sozialen Medien versuchte die Gruppierung RI auch im realen Umfeld ihre Botschaften zu verbreiten. Zu diesem Zweck führte RI im Berichtsjahr insgesamt vier Flugblattaktionen durch: „Die Blutspur führt nach Europa“ (März), „Kopftuchverbot für unsere Töchter“ (Mai), „Unsere Kinder im Visier“ (Juni) und „Nächster Anschlag deine Moschee?“ (August). Die entsprechenden Verteilungen fanden schwerpunktmäßig anlässlich der Freitagsgebete in der Nähe von Moscheen im Rhein-Main-Gebiet statt. Darüber hinaus wurden Flugblätter in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein verteilt.

Mit Bezug auf die Anschläge auf Moscheen in Christchurch in Neuseeland (15. März) und in Oslo in Norwegen  (12. August) hieß es unter anderem in den Flugblättern:

„Sie [i. e. Rassemblement National, AfD, FPÖ, Pegida, IB, Henrik M. Broder, Hamed Abdel-Samed] sind alle Teil eines weit gespannten Netzwerks, das die Polarisierung der Gesellschaft vorantreibt und den Islam als existenzielle Bedrohung darstellt. Unterstützt werden sie dabei von der hiesigen Presse, die ihnen beinahe täglich eine Plattform für ihre geistige Brandstiftung bietet. Mit ihrer Polemik fungieren sie als Tabubrecher, die die Grenzen des Sagbaren permanent verschieben, im Dienste einer breit angelegten Strategie, einer gefährlichen Agenda: die Errichtung einer Wertediktatur! Denn es war die totalitäre Integrationspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte, welche die weltanschauliche Unterschiedlichkeit der Muslime als vermeintliches Problem identifiziert hat. Zahlreiche Maßnahmen wie Gebets- und Kopftuchverbote, fortwährende Debatten um angebliche Parallelgesellschaften und, radikale‘ Moscheen, all dies ist darauf ausgerichtet, die islamische Identität zu zerstören und den Druck auf die in Deutschland lebenden Muslime zu erhöhen! […]

Die Blutspur führt nach Europa! Daher kann die Antwort von Politik und Medien nicht bloß in der Verurteilung dieser Terroranschläge bestehen. Vielmehr müssen die Verantwortlichen ihre repressive Integrationspolitik und die gefährliche Utopie einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft unverzüglich aufgeben. Geschieht dies nicht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der kommende Tarrant Muslime tötet und der nächste Breivik vermeintliche Kollaborateure in das Visier seines Maschinengewehrs nimmt!“

(„Die Blutspur führt nach Europa“.)

In dem Flugblatt „Nächster Anschlag deine Moschee?“ beklagte RI den „Hass gegenüber dem Islam und den Muslimen, welcher jahrelang durch Politik und Medien gezielt in die Gesellschaft hineingetragen“ worden sei:

„Um die vermeintliche Invasion muslimischer Eroberer abzuwehren, sehen sich immer mehr Bürger in der Pflicht, selbst zur Tat oder gar zur Bluttat zu schreiten. Attentäter […] sind nicht einfach nur Rechtsextreme, sie sind Islamhasser und das unausweichliche Resultat einer totalitären Integrations- bzw. Assimilationspolitik“.

RI bemühte sich darüber hinaus um eine Annäherung an Verbände und Moscheevereine. So warb die Gruppierung um deren Unterstützung beim Ausdruck und bei der Verteilung von Flyern. Diese wurden mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Arabisch, Farsi und Türkisch) mit der Bitte veröffentlicht, sie auszudrucken und zu verteilen. So hieß es in dem Flugblatt „Unsere Kinder im Visier!“:

„Aus diesem Grund rufen wir jeden Muslim und im Besonderen all unsere Verbände, Moscheegemeinden und Entscheidungsträger dazu auf, sich schützend vor die islamischen Werte zu stellen. Die islamische Community muss all ihre Kräfte mobilisieren, damit die islamische Identität auch in der nächsten Generation erhalten bleibt!“

„Stellungnahme: Sogenannter ,Islamunterricht‘ an den Schulen Hessens“ | Im August erklärte der Hessische Kultusminister Alexander Lorz öffentlich, weiterhin Islamunterricht an hessischen Schulen anbieten zu wollen – islamische Kooperationspartner waren im Berichtsjahr die Diyanet İşleri Türk İslam Birliği (DİTİB, Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) und die Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland e. V. –, wobei als Pilotprojekt im neuen Schuljahr mit etwa 150 Schülern der siebten Klassen ein Islamunterricht ausschließlich in staatlicher Regie eingeführt werde. In einem auf Facebook am 27. August veröffentlichten Video kritisierte RI dieses Vorgehen:

„Das Problem bei diesem Vorstoß des Ministeriums ist, dass man hier die Muslime […] vollkommen außen vorgelassen hat. […] Es bedeutet nichts Geringeres, als dass hier eine staatliche Instanz sich einfach die Deutungshoheit über das Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft zu eigen macht, ohne die Betroffenen in die Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. Damit erhält dieser staatliche Islamunterricht den Anstrich eines reinen Staatsislams, eines Wunschislams der Behörden […]. Die aufgeheizten Islamdebatten und der politisch getragene Angleichungswahn der Muslime an staatliche vorgegebene Denkmuster scheinen die verantwortlichen Akteure immer beratungsresistenter werden zu lassen. Denken die verantwortlichen politischen Entscheidungsträger ernsthaft, man könnte uns Muslimen durch ein paar suspekte Reformtheologen […] oder durch die Vernetzung einiger Islamhasser […] mal eben ein neues Islamverständnis einimpfen?“

Vor diesem Hintergrund empfahl RI muslimischen Eltern, der Teilnahme ihrer Kinder am Islamunterricht eine Absage zu erteilen.

Kampagne „Deine Stimme gegen das Kopftuchverbot“/„#Kopftuchunserepflicht“ | Nachdem RI im Jahr 2016 die Muslime dazu aufgefordert hatte, ein Bekenntnis zur Burka abzulegen („#BurkaUnsereIdentität“) und 2018 mit etwa 165.000 Unterschriften die Kampagne „Deine Stimme gegen das Kopftuchverbot“ durchgeführt hatte, griff die Gruppierung das Thema Kopftuchverbot im Oktober 2019 erneut auf. Hintergrund war ein von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland (BAGIV) für den Herbst angekündigtes „Gutachten zur Frage der Zulässigkeit eines Kopftuchverbotes für Minderjährige unter 14 Jahren“, das seitens eines Mitglieds der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg dann im März 2020 vorlag und ein solches Verbot für verfassungskonform hält. In dem RI-Flugblatt „Kopftuchverbot für unsere Töchter!“ hieß es unter anderem:

„Geliebte Muslime, als Realität-Islam rufen wir dazu auf, euch in aller Entschiedenheit gegen diese Bevormundung und Angriffe auf unsere Töchter zu stellen! […] Nun sehen wir uns erneut mit einem Angriff auf unsere islamische Identität und Lebensweise konfrontiert! […] In der Bundespolitik arbeiten Politik und Medien daran, die islamische Erziehung unserer Kinder zu kriminalisieren. […] Es gilt, unsere Reihen zu schließen und entschlossene Maßnahmen einzuleiten, um unseren ungebrochenen Widerstand gegen die feindliche Assimilationspolitik zu demonstrieren!“

(Schreibweise wie im Original)

Entstehung/Geschichte

Die HuT wurde 1953 im damals von Jordanien besetzten Ostteil Jerusalems von dem palästinensischen Politiker und der Muslimbruderschaft (MB) nahestehenden Aktivisten Taqi ad-Din an-Nabhani (1909–1977) gegründet.

Auf einen Blick
  • Gründung in Ost-Jerusalem
  • Betätigungsverbot in Deutschland

Gründung in Ost-Jerusalem | Der Entschluss zur Gründung der HuT erwuchs aus der Unzufriedenheit an-Nabhanis und seiner Anhänger über die fehlende Unterstützung der MB für das palästinensische Volk im Kampf gegen Israel. Nach dem Tod an-Nabhanis trat in der HuT der Palästina-Bezug zugunsten der Forderung nach einem alle Muslime umfassenden „Kalifat“ in den Hintergrund. In Deutschland verbreiteten HuT-Anhänger vor allem in Universitätsstädten Flugblätter und Zeitschriften mit antiisraelischen und „antiwestlichen“ Inhalten.

Betätigungsverbot in Deutschland | Am 25. Januar 2006 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht das am 10. Januar 2003 vom Bundesminister des Innern erlassene Betätigungsverbot gegen die HuT. In dem Urteil hieß es unter anderem, dass die HuT zur gewaltsamen Beseitigung des Staats Israel und zur Tötung von Menschen aufgerufen und dadurch der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt hat. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten.

Ideologie/Ziele

Ziel der HuT ist die Vereinigung der weltweiten Gemeinschaft der Muslime (arab. umma ) in einem Gottesstaat ohne nationale Grenzen unter der Führung eines Kalifen. Er soll die göttliche Rechtsordnung, das heißt die Scharia als Grundlage und Maßstab staatlichen Handelns, im Kalifat verbindlich durchsetzen. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar.

Auf einen Blick
  • Verschweigen extremistischer Ziele
  • „Rechtgeleitetes Kalifat“ als Beleg für die „Richtigkeit und Anwendbarkeit des Islams“

Verschweigen extremistischer Ziele | Die Gruppierung RI weist eine ideologische Nähe zur HuT auf. Die islamistischen Ziele von RI und ihr ideologischer Hintergrund werden jedoch bei öffentlichen Aktivitäten verschwiegen. Erst die Lektüre der Publikation „Realität Islam[.] Eine Einführung[.] Gemeinsam für eine starke und bewusst agierende Gemeinschaft“ offenbart das von RI propagierte Weltbild und die Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

„Rechtgeleitetes Kalifat“ als Beleg für die „Richtigkeit und Anwendbarkeit des Islams“ | So heißt es in der Publikation der Gruppierung RI, dass der Islam eine allumfassende Lebensordnung mit festgelegten Rechtsbeziehungen und einer eigenen Strafgesetzordnung sei. Diese Regelungen seien in Form eines Staatssystems auf die Menschen anzuwenden, wobei die Anwendung der Gesetzgebung Allahs eine unabdingbare Pflicht im Islam darstelle:

„Ein islamisches System ist erst dann existent, wenn der Islam in allen Lebensbereichen – und somit auch in Staat und Regierung – zur Anwendung kommt. Dieser Realzustand führte zur falschen Auffassung, dass das islamische Leben […] gegenwärtig nicht umsetzbar sei. Dies ist eine unter Muslimen bewusst verbreitete Irrmeinung, um sie in die Hoffnungslosigkeit und Resignation zu treiben“.

Allerdings müsse die „fundamentale Veränderung der gegenwärtigen prekären Situation“ der Muslime in den islamischen Ländern beginnen, wo die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung muslimisch und von der Richtigkeit des Islams und seiner Rechtsprechung grundsätzlich überzeugt sei:

„Entsteht dort ein rechtgeleitetes Kalifat mit einem korrekten islamischen Staats- und Gesellschaftssystem, wird es der gesamten Welt die Richtigkeit und Anwendbarkeit des Islam[s] im 21. Jahrhundert vor Augen führen“.

In einem von RI am 25. Februar auf YouTube eingestellten Video hieß es unter anderem:

„Der Islam soll verändert und verfälscht werden! In Europa wurden deshalb u. a. die ,Islamischen Studien‘ an den Universitäten ins Leben gerufen. Ziel ist es, einen Islam zu verbreiten, der kompatibel zu den im Westen vorherrschenden Ideen und Werten ist. […] Dabei basieren die Reformideen auf gravierenden Fehlverständnissen: 1. Die Reformen behaupten, der Islam müsse an die vorhandenen Zustände angepasst werden. Dabei ist es umgekehrt: Der vorhandene Zustand muss dem Islam angeglichen werden, denn der Islam ist normativ und kein Subjekt, das den Wünschen der Menschen entsprechend umgeformt werden kann. 2. Die Reformer behaupten, dass die Scharia bzw. die islamischen Rechtssprüche von Ort und Zeit abhängig wären. Dabei sind die Urteile von Allah (swt) und seinem Gesandten Muhammad (s) eine Rechtleitung für die gesamte Menschheit und gültig bis zum Tage des Gerichts. […] Geehrte Muslime, wir dürfen niemals zulassen, dass der Islam verfälscht und verändert wird“.
Strukturen

HuT-Angehörige treten in Deutschland wegen des Betätigungsverbots nicht offen in Erscheinung. Die Ideologie der HuT wird indes durch Gruppierungen in die Gesellschaft lanciert, die nicht mit der HuT gleichzusetzen sind, dieser jedoch zumindest nahestehen.

Auf einen Blick
  • „Virtuelle Welt“ – „Realwelt“
  • Kontakte außerhalb Hessens

„Virtuelle Welt“ – „Realwelt“ | RI war zunächst eine in Facebook aktive Gruppierung, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweist. Im Gegensatz zu anderen HuT-nahen Facebook-Gruppierungen bot RI jedoch regelmäßig Veranstaltungen in der „Realwelt“ an und intensivierte diese Bemühungen im Berichtsjahr.

Kontakte außerhalb Hessens | Dass RI-Aktivisten – neben dem Rhein-Main-Gebiet – auch Flugblattverteilaktionen in anderen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein) durchführten, deutet darauf hin, dass es Kontakte zu Angehörigen der HuT-Szene außerhalb Hessens gab.

Bewertung/Ausblick

Die Gruppierung RI nutzte soziale Medien und öffentliche Auftritte, um eine möglichst hohe Streuwirkung ihrer Ideologie in der muslimischen – insbesondere der sunnitischen – Religionsgemeinschaft zu erzielen. Dabei beanspruchte RI, alleiniger Vertreter „der Muslime“ zu sein. Dies manifestierte sich insbesondere in der Kritik am Islam-unterricht an hessischen Schulen, da die Gruppierung in einem am 27. August veröffentlichten Video verschwieg, dass das Hessische Kultusministerium in dieser Angelegenheit durchaus mit zwei islamischen Kooperationspartnern zusammenarbeitete.

RI bemühte sich darüber hinaus allgemein um eine Annäherung an Verbände und Moscheevereine. So warb die Gruppierung um deren Unterstützung beim Ausdruck von Flugblättern und bei deren Verteilung, wobei die Aktionen auch in den sozialen Netzwerken Resonanz erzielten. In ihren Flyern verwendete RI typisch islamistische Argumentationsmuster und projizierte diese auf Politik, Medien und gesellschaftliche Zustände in Deutschland. Ein Pauschalvorwurf lautete, gezielt „Hass gegenüber dem Islam und den Muslimen“ verbreitet zu haben. Islamische Werte seien durch Assimilation und politische Fehlentscheidungen diskreditiert und der Islam generell zum „Feindbild“ stilisiert worden. Hieraus resultierten, so RI, Anschläge gegen Muslime. „Die Schuldigen“, die RI pauschal als politische Entscheidungsträger bezeichnete, seien zu identifizieren und ihrer Politik „ein Ende zu bereiten“. Das Angebot, sich mit RI im Rahmen der Kampagne #meetRI persönlich zu treffen, ermöglichte es der Gruppierung außerdem, ihre Aktivitäten über das Rhein-Main-Gebiet hinaus auszuweiten.

Muslimbruderschaft (MB)/ Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG)

Definition/Kerndaten

Die MB ist in zahlreichen Staaten der Welt, dabei in nahezu allen Ländern des Nahen Ostens, vertreten. Sie ist die einflussreichste und älteste islamistische Bewegung unter den Sunniten. Ziel der MB ist die Errichtung eines weltumspannenden Gemeinwesens als Gottesstaat auf der Grundlage von Koran und Sunna. In Deutschland ist die DMG die größte Organisation, welche die Ideologie der MB vertritt. In Anlehnung an ihre ägyptische Mutterorganisation versucht die DMG, durch soziales und religiöses Engagement sowie durch Dialogangebote Akzeptanz in der Gesellschaft zu finden. Letztlich zielen diese Versuche darauf ab, die Ideologie der MB in Deutschland gesellschaftsfähig zu machen.

Führung: Muhammad Badi (Ägypten)
Anhänge: In Hessen etwa 300, bundesweit etwa 1.040
Zuzurechnende Organisationen: Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) in den palästinensischen Autonomiegebieten (Gazastreifen) in Israel, al-Nahda (Tunesien), al-Ikhwan al-Muslimum fi Suriya (Die Muslimbrüder in Syrien)

Abgebildet ist das Logo der Muslimbruderschaft. Auf einem kreisförmigen grünen Hintergrund befinden sich zwei übereinander gekreuzte Krummsäbel, über denen sich ein Buch mit rotem Einband befindet. Auf dem Bucheinband und unter dem Säbeln befinden sich arabische Schriftzeichen.

Ereignisse/Entwicklungen

Seit einem Terroranschlag im April 2017 steht Ägypten unter einem von der Regierung verhängten Ausnahmezustand, der unter der Regierung des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah el-Sisi mit intensivierten Eingriffsbefugnissen für Militär- und Sicherheitskräfte einhergeht. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen befanden sich im Berichtsjahr rund 60.000 politische Gefangene in ägyptischen Gefängnissen, darunter zehntausende Angehörige der MB. Im Februar wurden neun Menschen hingerichtet, die beschuldigt wurden, der MB anzugehören und einen Staatsanwalt getötet zu haben. Nachdem es im September zum ersten Mal seit Jahren zu größeren Demonstrationen – verbunden mit Forderungen nach dem Rücktritt el-Sisis – gekommen war, machte der ägyptische Präsident feindliche Länder und den „politischen Islam“ für die Proteste verantwortlich. Sie waren durch eine Reihe von Videos eines im spanischen Exil lebenden ägyptischen Geschäftsmannes ausgelöst worden, der die Korruption in Ägypten anprangert hatte. Dagegen löste der Tod des inhaftierten Muslimbruders und ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi (2012–2013) am 17. Juni während einer Gerichtsverhandlung keine öffentlichen Proteste aus.

Auf einen Blick
  • Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD): Umbenennung, Umzug und Klageverfahren
  • Konferenz „Die Zukunft der Muslime in Europa“
  • Kinder- und Jugendcamps
  • Reaktionen auf den Tod Mohammed Mursis
  • „Islamleben – Einheit in Vielfalt“
  • Europäisches Institut für Humanwissenschaften in Deutschland e. V. (EIHW)
  • Fatwa-Ausschuss in Deutschland
  • Europäischer Rat der Imame gegründet

Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD): Umbenennung, Umzug und Klageverfahren | Im November 2017 hatte die Mitgliederversammlung der IGD ihre Umbenennung in Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) beschlossen. Nachdem die neue Bezeichnung im Laufe des Jahres 2018 bei der Außendarstellung der DMG Verwendung fand, wurde die Umbenennung nach mehr als einem Jahr auch formal mit der Änderung des Vereinsregistereintrags am 19. Dezember 2018 abgeschlossen. Als Teil dieses Prozesses beschloss der Verein im Mai 2019, seinen Sitz von Köln (Nordrhein-Westfalen) nach Berlin zu verlegen.

Mittels ihrer Umbenennung, ihres Umzugs und ihres neuen Corporate Designs bemühte sich die DMG offenkundig um ein neues Image, das durch Presseberichterstattung über Verbindungen der IGD zur MB Schaden erlitten hatte. In diesem Zusammenhang ist auch eine Klage der DMG gegen ihre Nennung im vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat herausgegebenen Verfassungsschutzbericht, die derzeit am LG Berlin anhängig ist, zu sehen.

Am 1. Dezember forderte der ZMD die DMG auf, ihre Mitgliedschaft im ZMD ruhen zu lassen. Der ZMD-Vorsitzende erklärte:

„Wir bedauern diesen zwar schmerzlichen, aber auch notwendigen Schritt und bis zur gerichtlichen Klärung der gegen die DMG öffentlich erhobenen Vorwürfe – auch des Verfassungsschutzes – zur Zuordnung zum Netz der Muslimbruderschaft, gilt in unserem Rechtsstaat selbstverständlich auch für die DMG die Unschuldsvermutung“.

(Schreibweise wie im Original)

Konferenz „Die Zukunft der Muslime in Europa“ | Vom 2. bis 4. Januar fand in Köln (Nordrhein-Westfalen) die Konferenz „Die Zukunft der Muslime in Europa“ statt. Unter den laut Veranstalter mehr als hundert Teilnehmern aus 17 Ländern befanden sich auch Mitglieder der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG) sowie hochrangige Vertreter der MB aus dem Ausland und aus Hessen. Das Treffen diente der Vernetzung und der gemeinsamen Gestaltung der Programmatik verschiedener europäischer muslimischer Organisationen. Unter anderem wurde beschlossen, weitere derartige Treffen abzuhalten und eine Koordinierungsstelle in Ankara (Türkei) zu gründen. Nach der Veranstaltung, die unter der Schirmherrschaft der staatlichen türkischen Religionsbehörde DİTİB stand, wurde im Internet eine 18 Punkte umfassende Abschlusserklärung veröffentlicht, in der es unter anderem – auch in Hinblick auf die Arbeit mit Jugendlichen – hieß:

„8. Der Islam ist eine Religion des Friedens, der überall auf der ganzen Welt dieselben universalen Werte verteidigt und versucht, diese am Leben zu erhalten. […] Daneben steht die Einschränkung des Islams, der durch adjektivische Bestimmung einer bestimmten Region oder einer Nation zugeschrieben wird – wie ,deutscher Islam‘, […] im Widerspruch zur Universalität des Islams, der alle Epochen und Orte zugleich erleuchtet“.
„12. Heutzutage umschließen soziale Probleme zunehmend das Leben. In diesem Kontext ist die Auseinandersetzung mit Problemen, denen die Frauen und Jugendlichen ausgesetzt sind, als vorrangiges Ziel zu werten. In diesem Sinne ist es eine Notwendigkeit, sich mehr für die Erziehung von Generationen einzusetzen, die einen Beitrag zum Wohl der Menschheit leisten, und die das Ideal von Recht, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden haben sowie einen authentischen Glauben, authentische Kenntnisse, ein reines Bewusstsein und einen tugendhaften Charakter haben. Schließlich sind Generationen, die fern von ihrem Glauben und ihrer Identität, sowie fern vom Bewusstsein der Gemeinde und der muslimischen Gemeinschaft (Umma) sind, offen für Missbrauch. Folglich sind die Zustände der Jugendlichen, die den Angriffen von islamophoben Strukturen schutzlos ausgeliefert sind, sowie die aufgrund fehlerhafter Informationen ausgenutzt und irregeführt werden, weil sie ihrem Glauben und ihrer Kultur ferngeblieben waren, dringend zu bearbeitende Anliegen“.

Kinder- und Jugendcamps | Um Kinder und Jugendliche frühzeitig in ihre Strukturen einzubinden, veranstaltete die DMG mehrere Kinder- und Jugendcamps, so vom 12. bis 14. April das 14. Kindercamp der DMG-Region Mitte, zu der auch Hessen gehört, in Rheinböllen (Rheinland-Pfalz). Es richtete sich an Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren. In Langenscheid (Rheinland-Pfalz) veranstaltete die DMG-Region Mitte vom 19. bis 21. April ein Camp für Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren. Vom 2. bis 4. August fand in Neu-Anspach (Hochtaunuskreis) ein Jungscamp für 13- bis 18-Jährige statt. In Arnsberg (Nordrhein-Westfalen) bot die DMG vom 20. bis 29. Dezember das 8. Korancamp für 16- bis 35-Jährige und vom 29. Dezember bis 3. Januar 2020 das erste Korancamp für 12- bis 15-Jährige an. Darüber hinaus fand vom 4. bis 6. Oktober das 2. Frauencamp der DMG in Neu-Anspach statt.

Reaktionen auf den Tod Mohammed Mursis | In Deutschland reagierten die MB-Anhänger in der Öffentlichkeit eher verhalten auf den Tod des ehemaligen ägyptischen Präsidenten. Die DMG drückte in einer öffentlichen Erklärung ihre Bestürzung aus und rief die muslimischen Gemeinden dazu auf, Totengebete abzuhalten und dieses „traurige Ereignis und seine Tragweite zu thematisieren“. Der Präsident der DMG, Khallad Swaid, erklärte, der Verlust Mursis stehe „,symbolhaft für die Krise, die das ägyptische Volk unter dem autokratischen Militärregime‘“ durchleben müsse:

„,Wir hoffen, dass sich die Bundesregierung künftig im Bewusstsein ihrer Verantwortung für Menschenrechte und gegen die unwürdigsten Haftbedingungen zehntausender politischer Gefangener in Ägypten einsetzt‘“.

Am 22. Juni führte eine der MB nahestehende Organisation in Frankfurt am Main eine Mahnwache für Mohammed Mursi durch. Darüber hinaus thematisierte ein der DMG nahestehendes islamisches Zentrum das Ableben Mursis in einer Predigt.

„Islamleben – Einheit in Vielfalt“ | Zum insgesamt sechsten Mal führte die DMG wie in den vier Jahren zuvor in Kirchheim (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) vom 27. bis 29. September ihr überregionales „Familientreffen“ unter dem Titel „Islamleben – Einheit in Vielfalt“ durch.

Europäisches Institut für Humanwissenschaften in Deutschland e. V. (EIHW) | Sein 2018 eingeführtes Kursangebot in deutscher Sprache setzte das EIHW im Berichtsjahr fort. Dabei ist es das Ziel des in Frankfurt am Main ansässigen EIHW, Kurse in „Islam-“ und „Koranwissenschaften“ auf einem sogenannten akademischen Niveau anzubieten. Auf verschiedenen Niveaus finden darüber hinaus Arabischkurse statt. Auch die im Mai 2018 erstmalig abgehaltenen arabisch- und deutschsprachigen Kolloquien zu aktuellen Themen waren weiterhin im Programm. Gleichwohl bot das EIHW sein für das Wintersemester 2018/2019 angekündigtes deutschsprachiges Koran- und Islam- studium noch nicht an.

Vom 3. bis 5. Januar nahmen mehrere Teilnehmer des EIHW-Arabischunterrichts an der „European Universities Arabic Debating Championship“ in Wien (Österreich) teil, die von der katarischen Organisation QatarDebate ausgerichtet wurde. Da das EIHW-Team den Wettbewerb gewann, war es im März bei der entsprechenden QatarDebate-Weltmeisterschaft in der katarischen Hauptstadt Doha vertreten. Insgesamt fanden im Berichtsjahr zahlreiche Veranstaltungen des EIHW statt, die von Personen aus dem Bereich der MB – auch aus anderen Bundesländern – geleitet oder besucht wurden.

Fatwa-Ausschuss in Deutschland | Laut eigenen Angaben handelt es sich bei der 2016 gegründeten Organisation um ein Gremium von Spezialisten, das in seiner Rechtsfindung von den Grundlagen und Zielsetzungen des Islams ausgeht, um dadurch das Leben der Muslime in Deutschland zu erleichtern. Tatsächlich basierten die vom Fatwa-Ausschuss in Deutschland veröffentlichten Fatwas zum Teil auf islamrechtlichen und islamisch-rituellen Vorgaben der Scharia, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbaren sind:

„Keine Berücksichtigung finden jene europäische Traditionen und Gepflogenheiten, welche im klaren Widerspruch zu definitiven und eindeutigen islamrechtlichen Texten stehen. Hierzu zählen unter anderem die Nivellierung der Differenzen zwischen dem Mann und der Frau im Erbrecht unter dem Deckmantel der Veränderung von Umstand und Zeit; Schließlich handelt es sich bei den Bestimmungen des Erbrechts und der verschiedenen Erbanteile um islamrechtliche Texte, welche definitiv gesichert sind und sich unter keinen Umständen der Veränderungen von Raum und Zeit beugen.“

(Schreibweise wie im Original.)

Der Fatwa-Ausschuss in Deutschland übernahm seine veröffentlichten Fatwas vollständig vom European Council for Fatwa and Research (ECFR) und übertrug diese ins Deutsche. Auch die Mitglieder des Fatwa-Ausschusses in Deutschland waren ausnahmslos Mitglieder des in Dublin (Irland) ansässigen ECFR.

Der ECFR gehörte dem europäischen Netzwerk der MB an und erließ regelmäßig Rechtsgutachten für die in Europa lebenden Muslime. Maßgebliche Aufgabe des ECFR war es, sich als religiöse Instanz in Europa zu etablieren. Zu diesem Zwecke präsentierte die Organisation im April in Paris (Frankreich) auf einer islamischen Messe die „Euro-Fatwa“-App, mit deren Hilfe Smartphone-Nutzer die ECFR- Fatwas der letzten zwei Jahrzehnte thematisch sortiert abrufen konnten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war die App in den Sprachen Arabisch, Englisch und Spanisch verfügbar, im Laufe der Zeit soll sie auch auf Deutsch und in sechs weiteren Sprachen erhältlich sein. Eine erste Version der App wurde zunächst von Google Play gesperrt, da in einem einleitenden Text, den der MB-Ideologe und ehemalige ECFR-Vorsitzende Yusuf al-Qaradawi verfasst hatte, antisemitische Aussagen enthalten waren. In der aktuellen Fassung des Programms wurden diese gestrichen.

Europäischer Rat der Imame gegründet | Im Rahmen der voranschreitenden internationalen Vernetzung der MB trat in Paris (Frankreich) am 18. November erstmals der Europäische Rat für Imame zusammen. Unter den Mitgliedern des neuen Gremiums, das laut eigener Aussage rund 50 Mitglieder aus etwa 20 europäischen Ländern umfasste, befanden sich unter anderem Personen aus Hessen mit Bezug zum MB-/DMG-Netzwerk, der in Deutschland ansässige Präsident der MB-Dachorganisation Federation of Islamic Organizations in Europe (FIOE, Föderation Islamischer Organisationen in Europa – nunmehr Council of European Muslims) sowie einige Funktionäre des ECFR.

Ziel des Europäischen Rates der Imame war es unter anderem, die Aktivitäten verschiedener islamischer Organisationen zu koordinieren, die Interessenvertretung zu fördern und einen „Beitrag zur Förderung der islamischen Präsenz, zur Stärkung seiner [i. e. des Islams] zivilisatorischen Rolle und zur Festigung der islamischen Identität und der bürgerlichen Werte zu leisten“.

Entstehung/Geschichte

In einer Phase des sozialen Umbruchs in Ägypten, in der sich ein neuer Mittelstand herausbildete, gründete 1928 der Volksschullehrer Hasan al-Banna (1906–1949) die MB als Reaktion auf die zunehmende Europäisierung des Landes. Als Wohlfahrtsorganisation islamischer Prägung, die unter anderem Krankenhäuser und Schulen unterhielt, entwickelte sich die streng hierarchisch aufgebaute MB zunehmend zum Staat im Staat. Unter der Führung al-Bannas verfolgte die MB nach und nach im Wesentlichen folgende Ziele: die Eliminierung des britischen Einflusses in Ägypten, die Islamisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Errichtung eines weltweiten Kalifats. Vor allem mit ihrer karitativen Arbeit gewannen die MB und ihre in anderen Ländern gegründeten Ableger immer mehr Anhänger.

Auf einen Blick
  • Vom Verbot zur Regierung
  • Die MB in Deutschland

Vom Verbot zur Regierung | In den 1940er und 1950er Jahren waren die Beziehungen zwischen der MB und dem ägyptischen Staat von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt. 1948 wurde der ägyptische Ministerpräsident Mahmud Fahmi an-Nuqrashi (geb. 1888) ermordet, 1949 fiel Hasan al-Banna einem Attentat zum Opfer. 1954 verbot die Regierung die MB; ihr maßgeblicher Ideologe, Sayyid Qutb (geb. 1906), wurde 1966 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Ungeachtet der Generalamnestie für führende MB-Funktionäre im Jahr 1971 dauerten die Gewalttaten militanter islamistischer Gruppen, die ihre Aktionen unter Berufung auf die Schriften Sayyid Qutbs rechtfertigten, an. Eine militante Abspaltung der MB ermordete 1981 den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat (geb. 1918). Sein Nachfolger Husni Mubarak (1928–2020) gewährte der MB den Status als religiöse Bewegung, nicht aber den einer politischen Partei. Als Konsequenz entsandte die MB vermeintlich unabhängige Bewerber und Kandidaten auf Wahllisten anderer Parteien in die Parlamentswahlen. Bei den Wahlen im Jahr 2005 vervierfachte die MB die Zahl ihrer Abgeordneten auf 88 und errang damit etwa ein Fünftel der Sitze im ägyptischen Parlament. Nach dem von Massenprotesten der Opposition erzwungenen Rücktritt Mubaraks 2011 erlangten die MB und andere Islamisten bei den Wahlen etwa 70 Prozent der Abgeordnetenmandate.

Als politischer Arm der MB gründete sich im Februar 2011 die Hizb al-Hurriya wa-l-Adala (Partei der Freiheit und Gerechtigkeit). Ihr Vorsitzender Mohammed Mursi, zugleich ein führender MB-Funktionär, wurde 2012 zum ägyptischen Staatspräsidenten gewählt. Aufgrund der angespannten Wirtschaftslage und anhaltender Proteste gegen die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit setzte das ägyptische Militär Mohammad Mursi im Juli 2013 ab. Im September 2013 verbot ein ägyptisches Gericht die MB nebst allen ihr zugehörigen Organisationen. Seit dem Dezember 2013 ist die MB in Ägypten als Terrororganisation eingestuft. Im Juni 2019 verstarb Mursi, der sich seit seiner Absetzung in Haft befand, während einer Gerichtsverhandlung. Der MB-Anführer Muhammed Badi sowie sein Stellvertreter und neun weitere führende MB-Angehörige wurden im September 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die MB in Deutschland | 1960 gründete Said Ramadan (1926–1995), ein Schwiegersohn al-Bannas und hoher MB-Funktionär, in München (Bayern) die Moscheebau-Kommission e. V. Zusammen mit Sayyid Qutb hatte er in den 1950er Jahren Ägypten verlassen und Ableger der MB in Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien und im Libanon ins Leben gerufen. Durch Umbenennungen gingen aus der Moscheebau-Kommission e. V. im Jahr 1962 die Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland e. V. und 1982 die IGD hervor, die sich 2018 in die DMG umbenannte.

Ideologie/Ziele

Der ideologische Ursprung der MB geht auf ihren Gründer Hasan al-Banna zurück. Zentrale Elemente der MB-Ideologie sind bis heute im Selbstverständnis zahlreicher islamistischer und islamistisch-terroristischer Organisationen präsent. In dem im Rahmen ihrer Ideologie von der MB angestrebten System bilden Islam und Politik eine unauflösbare Einheit, in der weder die Volkssouveränität noch die Freiheit und Gleichheit der Menschen einen demokratisch legitimierten und geschützten Raum finden.

Auf einen Blick
  • Durchsetzung der Scharia
  • „Der Koran ist unsere Verfassung“

Durchsetzung der Scharia | Die Ideologie der MB zielt auf die Errichtung einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung, deren Grundlage Koran und Sunna sowie die Scharia bilden. Dabei ist die Durchsetzung der Scharia ein wesentlicher Bestandteil der MB-Ideologie, da sie die Rechts- und Gesellschaftsordnung bestimmt und somit die wichtigste Grundlage des politischen und sozialen Lebens ist.

„Der Koran ist unsere Verfassung“ | Das Motto der MB lautet: „Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Allah ist unser nobelster Wunsch“. Ebenso wie sein Vorgänger Muhammad Mahdi Akif gehörte Muhammad Badi, der „oberste Führer“ (arab. murshid amm) der MB, dem konservativen Lager der Organisation an. Er forderte von der arabischen Welt, die Verhandlungen mit Israel einzustellen und durch den „heiligen Jihad“ zu ersetzen.

Im Mai 2012 eröffnete ein maßgeblicher Prediger und wichtiger Angehöriger der MB den Wahlkampfauftritt des späteren Präsidenten Mursi mit den Sätzen: „,Wir stehen knapp davor zu erleben, dass das Islamische Kalifat durch die Hände Mohammed Mursis Realität wird. Und mit Gottes Willen wird die Hauptstadt des vereinigten Reiches Jerusalem sein‘“.

Strukturen

In Europa bzw. in Deutschland bestand ein weit verästeltes Netzwerk der MB, mit dessen Hilfe deren Sympathisanten und Angehörige versuchten, Ideologie und Ziele der Organisation zu verbreiten. Dabei trat die MB in Deutschland nicht offen in Erscheinung.

Auf einen Blick
  • FIOE
  • Strukturen der DMG
  • Rat der Imame und Gelehrten RIG e.V. / Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland (RIGD)
  • EIHW als Kaderschmiede für MB- und DMG-Funktionäre

FIOE | In Europa wird die streng hierarchisch organisierte MB durch die FIOE, einen europäischen Dachverband MB-naher Organisationen mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten. Eigenen Angaben zufolge vereinigt die FIOE Organisationen aus 28 Staaten, darunter viele nationale Dachverbände. Im Januar 2020 änderte die FIOE ihren Namen in Council of European Muslims (CEM).

Strukturen der DMG | In Deutschland ist die DMG, das heißt die ehemalige IGD, mit Hauptsitz in Berlin die mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern. Die DMG repräsentiert den ägyptischen Zweig der MB und ist seit ihrer Gründung als IGD Mitglied der FIOE. Der DMG sind bundesweit verschiedene Moscheegemeinden und sogenannte Islamische Zentren zuzuordnen, die formal von ihr unabhängig sind, aber Kontakte zu ihr unterhalten. In Hessen befanden sich solche Zentren in Frankfurt am Main und Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf).

Rat der Imame und Gelehrten RIG e. V./Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland (RIGD) | Ähnlich wie der ECFR auf europäischer Ebene, der bis Oktober 2018 unter dem Vorsitz des MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi stand, erhebt der RIGD für Deutschland den Anspruch, als wissenschaftliche Autorität in Fragen der Koranauslegung für hier lebende Muslime zu fungieren. Der RIGD, der seit 2004 mit Sitz in Frankfurt am Main besteht, ist sowohl organisatorisch als auch ideologisch der DMG nahe.

EIHW als Kaderschmiede für MB- und DMG-Funktionäre | 2012 wurde das EIHW mit Sitz in Frankfurt am Main nach dem Vorbild der Europäischen Institute für Humanwissenschaften in Großbritannien (European Institute of Human Sciences, EIHS) und in Frankreich (Institut Européen des Sciences Humaines, IESH) als Verein gegründet. 2013 nahm das EIHW seinen Lehrbetrieb auf. Als Schulungsstätte dient das EIHW der Verbreitung der MB-Ideologie und ist eine Kaderschmiede für MB- und DMG-Funktionäre.

Bewertung/Ausblick

Mit dem Tod Mohammed Mursis verlor die MB ihren prominentesten Vertreter. Dass die Reaktionen der MB-Anhänger in Hessen verhalten ausfielen, zeugt von der Diskrepanz zwischen ihrer Sympathie für Mursi und dem Wunsch, nicht öffentlich mit einer Galionsfigur des legalistischen Islamismus in Verbindung gebracht zu werden. In Ägypten gab es keine nennenswerten öffentlichen Demonstrationen anlässlich Mursis Todes, da MB-Sympathisanten mit drakonischen Strafen und massiven Menschenrechtsverletzungen rechnen mussten. Aufgrund der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der ägyptischen MB dürfte sich die Bedeutung anderer nationaler MB-Ableger – darunter auch des deutschen Zweigs – sowie der europäischen MB-Gremien erhöhen.

Unter diesen Vorzeichen sind die Vernetzungsbestrebungen der MB in Europa zu sehen. Dies betrifft sowohl die Konferenz „Zukunft der Muslime in Europa“ unter der Schirmherrschaft der staatlichen türkischen Religionsbehörde DİTİB in Köln (Nordrhein-Westfalen), an der unter anderem Vertreter der MB und IGMG teilnahmen, als auch die Gründung des Europäischen Rates der Imame: Einerseits suchen MB-Funktionäre den europaweiten Schulterschluss, um sich zu vernetzen und politisch-religiösen Positionen mehr Gewicht zu verleihen; andererseits können sie sich auf diese Weise als Vertreter der muslimischen Gemeinde gegenüber der übrigen Gesellschaft inszenieren, obwohl die dahinterstehenden Organisationen nur einen kleinen Teil der Muslime repräsentieren. Auffällig war zudem, dass in der Abschlusserklärung der Konferenz „Zukunft der Muslime in Europa“ der Islam zwar als eine „Religion des Friedens“ bezeichnet und die Bedeutung der islamischen „Prinzipien Gerechtigkeit, Frieden und Toleranz“ unterstrichen wurden, in dem Dokument aber ein explizites Bekenntnis zur Demokratie und ihren Werten in Europa bzw. in Deutschland fehlte.

Angehörige der MB in Hessen führten unterdessen im Berichtsjahr ihre legalistische, dialogorientierte Unterwanderungsstrategie konsequent fort. So suchten sie gezielt den Kontakt zu Repräsentanten des politischen Lebens sowie zu anderen Religionsgemeinschaften, denen sie sich als Dialogpartner anboten. Auf diese Weise bemühten sich MB-Anhänger und der MB nahestehende Organisationen, ihre Ideologie gesellschaftsfähig zu machen und ihr breite Akzeptanz zu verschaffen. Da die MB nicht unter ihrem Namen auftrat, sondern aus einem weitverzweigten Netzwerk von Organisationen und Vereinen operierte, fiel es ihr oft leicht, als unbefangener Partner von Politik und Zivilgesellschaft aufzutreten.

Allerdings steht die DMG als wichtigste Organisation des deutschen MB-Netzwerks inzwischen unter Druck. Mit ihrer Umbenennung, neuem Auftreten und ihrer Klage gegen ihre Nennung im vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat herausgegebenen Verfassungsschutzbericht wollte die DMG ihre belastete IGD-Vergangenheit hinter sich lassen, ohne tatsächlich Änderungen an ihrer Ideologie, ihrem Personal und ihren Zielen vorzunehmen. Ihr faktischer Ausschluss aus dem ZMD ist ein schwerer Rückschlag für die DMG. Die Entscheidung des ZMD entfaltet eine beachtliche Signalwirkung, da die DMG Gründungsmitglied des ZMD ist und bisher als einflussreichste Organisation in dem Gremium galt.

Ob die DMG in der Lage sein wird, ihre Reputation innerhalb der islamischen Verbandslandschaft zu rehabilitieren, wird maßgeblich vom Ausgang der Klage gegen das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat abhängen. Sollte dieses zu Ungunsten der Organisation ausgehen, dürfte die „Marke“ DMG beschädigt sein. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die in der DMG organisierten Personen und Vereine auch in diesem Fall weiterhin im Sinn der MB tätig sein werden.

Dass die DMG etliche Kinder- und Jugendcamps durchführte und „Bildungsangebote“, die Gemeinschaftsaktivitäten mit religiösen Inhalten verbanden, an Erwachsene richtete, ermöglichte der DMG weiterhin, Einfluss insbesondere auf Jugendliche zu nehmen und diese an sich zu binden. Auch das EIHW führte sein Bildungsangebot fort, es gelang ihm jedoch nicht, sein Kursangebot wie angekündigt zu erweitern. Mit dem Sieg bei dem europäischen Debattierwettbewerb von QatarDebate erzielte das EIHW einen prestigeträchtigen Erfolg und profilierte sich international als in diesem speziellen Rahmen ernst zu nehmendes Bildungsinstitut.

Millî-Görüş-Bewegung

Definition/Kerndaten

Unter der Bezeichnung Millî-Görüş-Bewegung fasst das LfV bestimmte islamistische Bestrebungen türkischen Ursprungs zusammen. Ihr verbindendes Element liegt in der grundlegenden Orientierung an der Ideologie der türkischen Bewegung Millî Görüş (dt. nationale Sicht). Diese geht im Wesentlichen auf den Politiker Necmettin Erbakan (1926 – 2011) zurück. Dieser wollte den Laizismus in der Türkei zugunsten einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung auf dem Fundament von Koran, Sunna und Scharia überwinden. Außerdem war es Erbakans Vision, eine „Großtürkei“ nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches zu errichten. Zur Millî-Görüş-Bewegung (etwa 1.450 Anhänger in Hessen, bundesweit etwa 10.000) gehörten

  • die Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) – in Hessen repräsentiert durch den Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. und im Folgenden als SP Hessen bezeichnet,
  • die Ismail Agâ Cemaati (IAC),
  • Teile der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG),
  • die Erbakan Vakfi Hessen (Erbakan-Stiftung) und
  • die Millî Gazete (Nationale Zeitung)
Ereignisse/Entwicklungen

Die Erinnerung an Necmettin Erbakan sowie die Würdigung seines Lebens und Wirkens besaßen auch acht Jahre nach dessen Tod große Bedeutung für die Anhänger der Millî-Görüş-Bewegung. Nach wie vor wurde Erbakan als geistiger Führer der Bewegung verehrt. Die umfassenden und weitreichenden Angebote der SP Hessen banden im Berichtsjahr sowohl langjährige Mitglieder  als auch den Nachwuchs weiterhin fest an die Organisation. Dabei deuteten die regelmäßigen Gastauftritte und -vorträge hochrangiger außerhessischer bzw. türkischer SP-Funktionäre auf den unverändert hohen Stellenwert der SP Hessen – repräsentiert durch den Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. – hin. Das wurde nicht zuletzt durch die Beförderung einzelner Vertreter der SP Hessen auf die Funktionärsebene der europäischen SP deutlich. Darüber hinaus erweiterte die SP Hessen ihr Informationsangebot und zielte damit vereinzelt auch auf die Öffentlichkeit ab. Die Aktivitäten der IAC und ihrer Anhänger in Hessen blieben weitestgehend konstant. Nach wie vor kehrte ihr 2015 aus Deutschlands ausgewiesenes Oberhaupt nicht aus der Türkei zurück.

Auf einen Blick
  • Necmettin Erbakan: „Lehrer und Vorbild“
  • Fastenbrechen in Frankfurt am Main
  • Aktivitäten der Jugendorganisation der SP Hessen
  • Zentrale der SP Hessen in Hanau
  • Personalveränderungen
  • Millî Gazete als Sprachrohr der Millî-Görüş-Bewegung
  • Ismail Aĝa Cemaati (IAC)

Necmettin Erbakan: „Lehrer und Vorbild“ | Anlässlich des achten Todestags Necmettin Erbakans am 27. Februar organisierte die SP sowohl in der Türkei als auch in Europa eine sogenannte Erbakan-Woche (24. Februar bis 2. März), um dem „Hodscha Erbakan“ ein „ehrendes Gedenken“ zu bewahren und sein politisches Wirken zu würdigen. Ein Kolumnist der Millî Gazete berichtete, dass Erbakan seinen Anhängern beigebracht habe, wie man sich mit dem Zionismus, dem „Feind der Menschheit“, auseinandersetzen müsse. Die Millî Gazete informierte ausgiebig über die „Erbakan-Woche“, während in den Tagen vor und nach dem Todestag in der Türkei und in Europa zahlreiche Veranstaltungen zum Gedenken an Erbakan stattfanden.

Der IGMG-Landesverband Hessen veranstaltete am 23. Februar in Kelsterbach (Kreis Groß-Gerau) eine Gedenkveranstaltung für bedeutende islamische „Vorreiter“, von deren Erfahrungen man profitieren wolle und derer man gedenke. Zu diesen bedeutenden Vorreitern zählte die IGMG, neben anderen zum wiederholten Male auch Necmettin Erbakan. Im Rahmen der Gedenkveranstaltung wurden Druckerzeugnisse und Waren mit eindeutigen Bezügen zu Erbakan vertrieben. Am eigentlichen Todestag beschränkte sich das Gedenken im IGMG-Landesverband Hessen auf einzelne Beiträge in den sozialen Medien.

Auch die SP Hessen gedachte des „verstorbenen Hodschas“. Am 2. März betrieb sie in Frankfurt am Main einen Informationsstand unter dem Motto „Höflichkeit und Aufrichtigkeit“ und bot Schriften von und über Erbakan an. Dabei wurden die Aktivisten von einem hochrangigen Vertreter der SP aus der Türkei unterstützt. Am 10. März fanden sich in Frankfurt am Main Anhänger, Funktionäre und Gäste der SP Hessen generationenübergreifend zu einer Gedenkveranstaltung unter demselben Motto zusammen, um an das Leben und Wirken Erbakans zu erinnern, Kontakte zu pflegen und auszubauen. Dabei kamen – neben Funktionären der SP Hessen – Abgesandte der europäischen SP-Vertretung sowie ein türkischer Autor, der Bücher über Erbakan veröffentlicht hatte, als Redner zu Wort. Bei dieser Veranstaltung wurde den Teilnehmern, abgesehen von Ausgaben der Millî Gazete, ein breites Literaturangebot mit Titeln von und über Necmettin Erbakan und weitere, ideologisch einschlägige Druckerzeugnissen präsentiert.

Darüber hinaus betrieben Anfang Dezember SP-Aktivisten einen Informationsstand in Dietzenbach (Landkreis Offenbach), um mit Interessierten in Kontakt zu kommen, weiteres Anhängerpotenzial zu gewinnen und Literatur über Erbakan zu verbreiten.

Fastenbrechen in Frankfurt am Main | Im Mai veranstaltete die SP Hessen in Frankfurt am Main ihr traditionelles Fastenbrechen im Rahmen des Ramadans. Hochrangige Vertreter der SP Hessen, der europäischen sowie der türkischen SP waren als Referenten geladen, darunter der Jugendvorsitzende der türkischen SP, der nach den Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März als Abgeordneter in das Parlament der Provinz Konya eingezogen war.

Aktivitäten der Jugendorganisation der SP Hessen | Unverändert setzte die Jugendorganisation der SP Hessen ihre Bemühungen fort, Nachwuchs für die Organisation zu gewinnen. So fanden entsprechende Besuche im häuslichen Umfeld statt, um interessierte Jugendliche frühzeitig mit religiösen und ideologischen Inhalten bekanntzumachen.

Im Februar fanden sich Angehörige der SP-Hessen-Jugendorganisation in einer Jugendeinrichtung in Montabaur (Rheinland-Pfalz) zu einem Wochenendseminar ein, wobei hochrangige Funktionäre der europäischen SP- und der türkischen SP-Jugendorganisation als Referenten auftraten. Mitte September richteten Vertreter der SP-Hessen-Jugendorganisation in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) ein mehrtägiges überregionales Bildungsseminar für die Funktionäre der SP-Jugendorganisationen innerhalb der anderen europäischen SP-Vertretungen aus.

Zentrale der SP Hessen in Hanau | Die im Jahr 2018 neu bezogenen Räumlichkeiten etablierten sich im Berichtsjahr als Anlaufstelle und fester Versammlungsort für die Mitglieder und Anhänger der SP Hessen. Auch die Funktionäre kamen zu ihren Sitzungen in der sogenannten Zentrale zusammen, vereinzelt sogar auf Ebene der europäischen SP-Vertretung und der europäischen SP-Jugendorganisation. Außerdem führte die SP Hessen dort regelmäßig Vortrags- und Bildungsveranstaltungen zu verschiedenen Themen und häufig mit hochrangigen SP-Vertretern aus der Türkei als Referenten durch.

Personalveränderungen | Im Verlauf des Berichtsjahrs gab es bedeutende Personalveränderungen bei den Funktionären der SP Hessen. So übertrug der Vorsitzende der europäischen SP-Jugendorganisation im März den Vorsitz über die Jugendorganisation der SP Hessen an einen neuen Verantwortlichen. Ende Juni entband der Vorsitzende der europäischen SP auch den Vorsitzenden der SP Hessen von seinem Amt. Beide Funktionäre der SP Hessen konzentrierten sich fortan auf ihre Aufgaben innerhalb der europäischen SP-Vertretung, blieben der SP Hessen aber weiterhin eng verbunden.

Millî Gazete als Sprachrohr der Millî-Görüş-Bewegung | Zusammen mit der türkischen Ausgabe entwickelte sich die ebenfalls türkischsprachige Europaausgabe der Millî Gazete im Berichtsjahr weiter zu einem bevorzugten Medium der SP. Anlässlich ihres 46-jährigen Jubiläums zitierte die Millî Gazete einen hohen Funktionär der türkischen SP mit den Worten, sie sei „die Zeitung der ‚Millî Görüş‘-Bewegung“. Neben Beiträgen zum Kommunalwahlkampf der SP in der Türkei enthielten die Ausgaben der Millî Gazete Berichte über Veranstaltungen mit Beteiligung hoher SP-Funktionäre und -Vertreter.

Im Februar berichtete die Millî Gazete über ein Symposium anlässlich des 40. Jahrestags der Islamischen Revolution im Iran und die Rede eines SP-Funktionärs, der gesagt habe, dass das Ende der Juden, der Imperialisten und der Zionisten bald kommen werde. In Bezug auf den im Juli 2016 in der Türkei gescheiterten Putsch erklärte der stellvertretende SP-Vorsitzende, so ein Bericht der Millî Gazete, dass dahinter die USA, das „zionistische“ Israel und der „rassistische Imperialismus“ steckten.

Nachdem die SP im Rahmen der Kommunalwahlen bei den Wahlen zu den Provinzparlamenten drei und zu den Gemeinderäten 295 Sitze (= 2,47% bzw. 3% der Stimmen) gewonnen hatte sowie 21 Bürgermeister (= 2,91%) stellte, veröffentlichte die Millî Gazete eine Erklärung des SP-Vorsitzenden. Danach sei die SP als die politisch relevanteste Partei der Türkei nunmehr zu einer „Schlüsselpartei“ geworden. Man werde die Ideale „eine neue Welt“ und „erneut eine Großtürkei“ realisieren.

Gelegentlich standen in der Millî Gazete Beiträge zu der – in der Perspektive der Millî-Görüş-Bewegung – „richtigen“ Auslegung des Islams. So hieß es Anfang Juli im Zusammenhang mit der „Widerstandslehre“ im Islam, dass deren erste Pflicht darin bestehe, „Imperialismus“, Amerika, Israel und „alle Tyrannen und alle arroganten Menschen“ zu verabscheuen. Die Gläubigen sollten sich nicht mit Ungläubigen, sondern nur mit Gläubigen befreunden.

Ismail Aĝa Cemaati (IAC) | Seit seiner Ausweisung aus Deutschland im Jahr 2015 hielt sich das selbsternannte Oberhaupt der europäischen IAC-Gemeinde unverändert in der Türkei auf und kehrte bislang nicht nach Deutschland zurück. Die fortwährende Abwesenheit des „Hodschas“ beeinträchtigte jedoch nicht dessen Anziehungskraft, da noch immer teilweise mehrere hundert Personen seine Predigten regelmäßig per Live-Schaltung aus der Türkei in einer Moschee im Raum Frankfurt am Main verfolgten. Die Inhalte waren von einem dualistischen Weltbild, beständiger Kritik an der „westlichen“ Lebensweise, Verherrlichung der Scharia, Äußerungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung sowie antidemokratischen und auch antisemitischen Aussagen geprägt. Vereinzelt warb der Prediger auch für die SP.

Entstehung/Geschichte

1969 gründete Necmettin Erbakan in der Türkei die Millî-Görüş-Bewegung und stellte sich damit gegen die vom Gründer der modernen Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), eingeführte Trennung von Staat und Religion. Auf diese Weise wollte Erbakan die Säkularisierung des Landes rückgängig machen und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben erneut islamisieren.

Auf einen Blick
  • Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei
  • Millî-Görüş-Bewegung in Deutschland
  • SP als Repräsentantin der Millî-Görüş-Bewegung
  • Rolle der IAC in der Türkei

Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei | 1970 wurde als politische Vertretung der Millî-Görüş-Bewegung die Millî Nizam Partisi (MNP, Nationale Ordnungspartei) gegründet. 1973 verfasste Erbakan das für die Ideologie der Bewegung noch immer wegweisende Buch „Millî Görüş“. Über Parteiverbote und Parteineugründungen sowie ein zweimal verhängtes Politikverbot für Erbakan führte der Weg der Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei bis zur 2001 gegründeten und noch heute existenten SP. Erbakan war in der Türkei mehrere Male stellvertretender Ministerpräsident und bekleidete 1996/97 das Amt des Ministerpräsidenten.

Millî-Görüş-Bewegung in Deutschland | 1976 entstand in Köln (Nordrhein-Westfalen) als Ableger der Millî-Görüş-Bewegung die Türkische Union Europa e. V. Sie benannte sich 1982 in Islamische Union Europa e. V. (IUE) um. 1984 kam es innerhalb der IUE zu Auseinandersetzungen über die politische Ausrichtung des Vereins. Als Folge gründete sich 1985 in Köln die Avrupa Millî Görüş Teşkilatları (AMGT, Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V.) als Nachfolgeorganisation der mittlerweile bedeutungslos gewordenen IUE.

Aus der AMGT gingen 1995 die Europäische Moscheebau und Unterstützungsgemeinschaft (EMUG) und die IGMG hervor. Organisatorisch waren beide in einen wirtschaftlichen und einen ideellen Bereich getrennt. Aufgabe der EMUG war die umfangreiche Grundstücksverwaltung und Betreuung der AMGT- und IGMG-Vereine. Die IGMG war auf die religiösen Belange ihrer Mitgliedsvereine ausgerichtet. Viele Moscheevereine änderten in der Folge den Namenszusatz AMGT in IGMG. Die Zugehörigkeit zur Millî-Görüş-Bewegung blieb jedoch teilweise bis in die Gegenwart erhalten und zeigte sich oftmals auch in personellen Überschneidungen von AMGT und IGMG.

SP als Repräsentantin der Millî-Görüş-Bewegung | Auf politischer Ebene vertritt die von Necmettin Erbakan im Jahr 2001 gegründete SP die Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei. Die SP ging aus der verbotenen Fazilet Partisi (FP, Tugendpartei) Erbakans hervor, aus der damals auch die jetzige türkische Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) entstand. Der Einfluss der SP auf die politische Willensbildung in der Türkei ist aufgrund ihres geringen Wählerpotenzials kaum wahrnehmbar. Obwohl sich die AKP mit der Zeit von der ursprünglichen Ideologie der Millî-Görüş-Bewegung distanzierte, verbindet sie mit der SP dieselben konservativen Wurzeln.

Rolle der IAC in der Türkei | Die IAC ist der Bruderschaft der Naqshbandiya zuzuordnen, die im 14. Jahrhundert in Zentralasien entstand. Ihr Gründer, Baha‘ ad-Dîn Naqshbandî (1318–1389) aus Buchara (heutiges Usbekistan), steht in einer Reihe sogenannter Meister in Zentralasien, die mystische Gemeinschaften gründeten. Die sunnitische Naqshbandiya entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten zur bedeutendsten Bruderschaft und ist heute weltweit verbreitet. Ihr Handeln beruht auf einer religiös geprägten Lebensführung, wobei eine enge emotionale Bindung zwischen Schüler und Meister besteht. Unter anderem durch spezielle Meditationstechniken sucht der Schüler die unmittelbare mystische Gotteserfahrung. So versucht der Schüler durch schweigendes Denken an Allah (arab. dhikr ) diesem so nahe wie möglich zu kommen.

Obwohl 1925 durch Atatürk verboten, spielte die Naqshbandiya-Bruderschaft im religiösen Leben in der Türkei eine bedeutende Rolle. Necmettin Erbakan und das in der Türkei lebende spirituelle Oberhaupt der Bruderschaft, Scheich Mahmud Ustaosmanoğlu, pflegten engen Kontakt zu dem einflussreichen türkisch-sunnitischen Naqshbandiya-Scheich Mehmet Zaid Kotku (1897–1980) und wurden durch ihn geprägt. Kotku war eine der führenden Personen des Naqshbandiya-Ordens.

Ideologie/Ziele

Ebenso wie andere islamistische Bewegungen will die Millî-Görüş-Bewegung eine auf den Rechtsvorschriften der Scharia beruhende islamische Ordnung realisieren. Da in der früher streng laizistisch orientierten Türkei das Propagieren eines entsprechenden Konzepts gravierende rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte, führte Erbakan neue Begrifflichkeiten ein.

Auf einen Blick
  • „Gerechte“ und „nichtige“ Ordnung
  • „Neue Welt für die gesamte Menschheit“
  • Alleinvertretungsanspruch und Antisemitismus in der Millî-Görüş-Bewegung

„Gerechte“ und „nichtige“ Ordnung | Gemäß Erbakans Grundsätzen gibt es in der Welt eine gerechte (türk. adil düzen ) und eine nichtige Ordnung (türk. batıl düzen ). Ziel müsse es sein, die schlechte, tyrannische, auf menschlicher Willkür sich gründende und daher vergängliche Ordnung durch die gute, von Allah vorgegebene und angeblich auf Wahrheit fußende Ordnung zu überwinden. Dies sei allein durch die Millî Görüş zu erreichen.

„Neue Welt für die gesamte Menschheit“ | Die Verwirklichung dieser Gedanken propagiert die Millî-Görüş-Bewegung insbesondere in der Türkei, wo eine islamische Staats- und Gesellschaftsordnung nach den Grundlagen von Koran und Sunna geschaffen werden soll. Die Millî-Görüş-Bewegung verbindet in ihrer Gesamtheit einen universalen türkisch-nationalistischen mit einem islamistischen Ansatz. So hielt der Generalsekretär der türkischen SP im Januar einen Vortrag in Dortmund (Nordrhein-Westfalen), wobei er laut der Milli Gazette sagte, dass es die Partei für ihre Aufgabe halte, sich um die Probleme der Landsleute zu kümmern sowie eine „lebenswerte Türkei“, eine „neue Großtürkei“ und eine „neue Welt für die gesamte Menschheit“ zu schaffen.

Alleinvertretungsanspruch und Antisemitismus in der Millî-Görüş-Bewegung | In einem Interview nahm Erbakan im Jahr 2010 für sich und die SP in Anspruch: „Wir sind das Volk, deswegen verändern wir die Türkei“. Darüber hinaus erklärte er:

„Wir werden eine neue Welt schaffen, auf der Basis von Wissenschaft und Vernunft, auf den Grundlagen der gerechten Ordnung, die uns die Osmanen hinterließen. Darin bekommt jeder sein Recht, auf den ihm angemessenen Platz. Auch den Juden und Christen würde so Recht zuteil, auch sie würden befreit“.

Offen artikulierte Erbakan in Bezug auf Juden und die territoriale Integrität des Staats Israel:

„Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen. Sehen Sie sich diese Ein-Dollar-Note an. Darauf ist ein Symbol, eine Pyramide von 13 Stufen, mit einem Auge in der Spitze. Es ist das Symbol der zionistischen Weltherrschaft. Die Stufen stellen vier ,offene‘ und andere geheime Gesellschaften dar, dahinter gibt es ein ,Parlament der 300‘ und 33 Rabbinerparlamente, und dahinter noch andere, unsichtbare Lenker. Sie regieren die Welt über die kapitalistische Weltordnung. […] Wenn die Israelis in Frieden leben wollen, wäre es vielleicht besser, wenn sie zum Beispiel in Amerika lebten“.
Strukturen

Die Millî-Görüş-Bewegung setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen, deren gemeinsame Grundlage die ideologisch-religiöse Orientierung an den Vorstellungen Necmettin Erbakans bildet.

Auf einen Blick
  • SP
  • IGMG
  • Millî Gazete
  • Erbakan Vakfı (Erbakan Stiftung)
  • IAC

SP | Seit einigen Jahren etablieren sich deutschlandweit Ableger der europäischen SP-Vertretung, die Anhänger und Wählerpotenzial in Deutschland aktivieren, um die Politik der Mutterpartei in der Türkei zu unterstützen. Dabei vertraten die SP-Strukturen in Deutschland die politische Ausrichtung der Ideologie Necmettin Erbakans innerhalb der Millî-Görüş-Bewegung, in Hessen war dies der Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V.

IGMG | Die IGMG war laut ihrer Selbstdarstellung eine staatenübergreifend vernetzte Religionsgemeinschaft, die in Regionalverbände, Moscheegemeinden und weitere Zweigstellen aufgegliedert war. Die IGMG war nicht in der Gesamtheit ihrer Mitglieder der islamistischen Millî-Görüş-Bewegung zuzurechnen. Teile der IGMG befanden sich in einem bereits seit Jahren andauernden Prozess des Abwendens von der islamistischen Ideologie Erbakans. Es lagen jedoch tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass einige Strukturen der IGMG in Hessen weiterhin der Ideologie Erbakans folgten und bestrebt waren, dessen Ziele perspektivisch umzusetzen. In Hessen gehörten der IGMG-Landesverband mit seinen angegliederten Verbänden der Frauen, Jugend und Studierenden sowie einzelne IGMG-Ortsvereine der Millî-Görüş-Bewegung an.

Millî Gazete | Die türkische Tageszeitung Millî Gazete, deren Verlag für die Europaausgabe sich in Frankfurt am Main befindet, informierte in der Vergangenheit vorrangig über die IGMG, berichtete mittlerweile aber in wachsendem Maße über die Aktivitäten der SP im In- und Ausland. In ihrem Selbstverständnis sah sich die Millî Gazete als einzige und konstante Vertreterin der Millî-Görüş-Ideologie unter den Printmedien. In ihrem Namen führte die Millî Gazete – hier in deutscher Übersetzung – den von Erbakan geprägten Zusatz „die gerechte Ordnung wird kommen“. Immer wieder hob die Zeitung in ihren Artikeln Erbakan als den Retter der Welt hervor und rühmte dessen Ideologie der Errichtung einer neuen Welt, in welcher der Islam wiederbelebt werde und über allen anderen Ordnungen stehe. Damit bildete die Millî Gazete ein wichtiges Bindeglied zwischen den einzelnen Elementen der Millî-Görüş-Bewegung.

IAC | Feste Vereinsstrukturen der IAC gab es in Hessen nicht, sie war lediglich im Rahmen regelmäßig stattfindender Veranstaltungen aktiv.

Erbakan Vakfı (Erbakan Stiftung) | Das Ziel der laut eigenen Angaben 2013 unter Beteiligung von Vertretern der türkischen Millî-Görüş-Bewegung, Angehörigen der SP sowie von Weggefährten Necmettin Erbakans in der Türkei gegründeten Stiftung ist es, Erbakans Ideologie zu vertreten und die Erinnerung an ihn aufrechtzuerhalten. Dabei sollen sich die Aktivitäten der Stiftung weltweit entfalten und auf den Prinzipien der Millî Görüş beruhen. Vorsitzender der Erbakan Vakfı ist der Sohn Necmettin Erbakans, Fatih Erbakan. Ebenso wurde in Deutschland 2013 eine Europavertretung der Stiftung gegründet; einige Zeit danach gab es Hinweise auf Strukturen der Erbakan Vakfı in Hessen, die bisher jedoch kaum in Erscheinung traten.

Bewertung/Ausblick

Der Aufstieg von maßgeblichen Angehörigen der SP Hessen auf die Funktionärsebene der SP Avrupa und die regelmäßigen Besuche hochrangiger Vertreter und Referenten vor allem aus den Reihen der türkischen SP betonen den unverändert hohen Stellenwert des hiesigen Landesverbands. Neu war im Berichtsjahr, das sich die SP mit einzelnen Aktivitäten stärker in der Öffentlichkeit und somit außerhalb ihres bisher eher nach innen gerichteten Aktionsraums zeigte. Dabei war die SP für ihre Mitglieder und Anhänger in gewohnter Weise mittels zahlreicher Angebote präsent. Mit einer weiteren Steigerung der Aktivitäten der SP Hessen ist mittelfristig zu rechnen.

Türkische Hizbullah (TH)

Definition/Kerndaten

Nachdem Angehörige der TH in den 1990er Jahren zahlreiche Morde und andere Gewalttaten begangen hatten, zerschlug der türkische Staat die Terrorgruppe 1999/2000. Dabei wurde der TH-Anführer Hüseyin Velioǧlu in einem Feuergefecht mit der Polizei getötet. Durch Flucht nach Westeuropa (unter anderem nach Deutschland, Österreich, Italien und in die Schweiz) entzogen sich TH-Aktivisten den staatlichen Maßnahmen in der Türkei. Einzelne Führungsaktivisten sollen sich in den Iran abgesetzt haben. TH-Angehörige nutzen Deutschland seitdem als Rückzugsraum, um sich personell und logistisch zu reorganisieren. Die Aktivisten sammeln hier vor allem Spenden und vertreiben Publikationen. Die letzte bekannt gewordene Gewalttat der TH in der Türkei, bei der sechs Polizisten getötet wurden, ereignete sich 2001. Nicht zu verwechseln ist die sunnitische TH mit der schiitisch orientierten Hizb Allah (Partei Gottes) im Libanon.

Anhänger/Mitglieder: In Hessen etwa 140, bundesweit etwa 400
Medien (Auswahl): Doğru Haber (Wahre Nachricht), İnzar (Warnung) und das Kindermagazin

Çocuk (Kind)

Abgebildet ist das Logo der Türkischen Hizbullah mit dem entsprechenden arabischen Schriftzug, unter dem im Original in türkischer Sprache in Großbuchstaben steht: Hizbullah Gemeinschaft.
Ereignisse/Entwicklungen

Die Vahdet Moschee in Wiesbaden benannte sich Anfang 2019 in Westend Moschee um. Auch der Moscheevorstand wurde ausgetauscht. Hierbei handelte es sich jedoch lediglich um eine äußere Veränderung, denn ideologisch hielt die Westend Moschee weiterhin an ihren Verbindungen zur TH fest. So beschäftigte die Moschee im Berichtsjahr mehrere Monate lang erneut einen hochrangigen TH-Funktionär als Imam.

Auf einen Blick
  • Schwerpunkt Wiesbaden
  • Rückgang der öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten

Schwerpunkt Wiesbaden | Obwohl im Berichtsjahr 2018 der damalige Imam maßgeblich wegen seiner Bezüge zur TH abgeschoben wurde, stellte die Westend Moschee wenige Monate später erneut einen bedeutsamen Akteur der TH als Imam ein.

Rückgang der öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten | Größere Ereignisse wie die Kutlu-Doğum-Veranstaltungen, die bis 2017 in Hessen mit großem Aufwand durchgeführt worden waren, fanden nicht mehr statt. Offenbar wurden die Veranstaltungen in den süddeutschen Raum verlagert.

Entstehung/Geschichte

Im Raum Diyarbakır, der Hochburg der Partiya Karkerên Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans), entstand in der Stadt Batman im Südosten der Türkei die TH, als sich in den 1980er Jahren muslimische Kurden zu einer Organisation zusammenschlossen.

Auf einen Blick
  • Islamistischer Gegenentwurf zur PKK
  • Aktivisten im Untergrund

Islamistischer Gegenentwurf zur PKK | Als islamistischer Gegenentwurf zur PKK kämpfte die TH zwischen Ende der 1980er und Mitte der 1990er Jahre gewaltsam sowohl gegen die damals säkular-linksextremistisch ausgerichtete kurdische Terrororganisation als auch gegen den türkischen Staat. Dabei folterten und töteten TH-Angehörige mehrere hundert Menschen. Intern bekämpften sich zwei miteinander verfeindete Lager der TH mit Gewalt, wobei die mit der ägyptischen MB sympathisierende Ilim-Gruppe schließlich die Oberhand gewann. Insgesamt werden der TH eine Vielzahl von Morden – unter anderem an liberalen türkischen Journalisten, Staatsvertretern und „Verrätern“ aus den eigenen Reihen – sowie Folterungen zur Last gelegt.

Aktivisten im Untergrund | Im Verlauf umfassender Exekutivmaßnahmen des türkischen Staats gegen die TH wurde im Jahr 2000 in Istanbul der TH-Anführer Hüseyin Velioǧlu getötet. Funktionäre wurden festgenommen und seitdem mehrere tausend TH-Angehörige verhaftet. 2011 wurden in der Türkei aufgrund einer Gesetzesänderung zahlreiche TH-Funktionäre unter gerichtlichen Meldeauflagen aus der Haft entlassen. Der größte Teil ist seitdem untergetaucht. Ihren militärischen Flügel baute die TH mittlerweile neu auf, sie bildete neue Kämpfer aus und beschaffte sich erneut Waffen und Sprengstoff.

Ideologie/Ziele

In der 2004 veröffentlichten Schrift Kendi dilinden Hizbullah (dt. Die Hizbullah in eigenen Worten) sind die ideologischen Leitlinien der TH dargelegt. Danach seien Differenzen in der islamischen Welt und die Herrschaft nichtislamischer Regierungen die Ursache aller Probleme. Laut einer Erklärung aus dem Jahr 2012 soll das politische System in der Türkei legal und gewaltfrei überwunden und eine islamische Herrschaft errichtet werden.

Auf einen Blick
  • Schaffung eines islamischen Gottesstaats
  • Strategiewechsel seit 2000
  • Antisemitische und antiwestliche Propaganda in TH-Publikationen
  • „Aufwecken“ des Jihad-Gedankens

Schaffung eines islamischen Gottesstaats | Ziel der TH ist es, in der Türkei einen islamischen Gottesstaat zu errichten und diesen auf die gesamte Welt auszudehnen. Die „westliche“ Welt, insbesondere die USA und der Staat Israel, zählen zu den Feindbildern der TH. In der im Jahr 2004 veröffentlichten Schrift Kendi Dilinden Hizbullah beschreibt die TH ihre Ziele wie folgt:

„Tausendfacher Dank an Gott, der uns die Hizbullah-Gemeinde und die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde geschenkt hat, die sich auf das Kampffeld begeben hat, um die Herrschaft des Islam überall zu verbreiten. […] Mit dem Wunsch eine vereinte islamische Umma zu gründen, in der […] die göttliche Gerechtigkeit herrscht und die Hadd-Strafen gelten, haben wir das Kämpfen für diesen Glauben und dieses Ziel als unser islamisches Bekenntnis und als eine Notwendigkeit des Islam nach dem Verständnis des Propheten betrachtet. Für solch eine heilige Mission zu kämpfen, Schmerz und Folter zu erdulden und sogar als Märtyrer zu sterben, haben wir als eine Ehre empfunden. Auch in der Zukunft werden wir dieser heiligen Mission und diesen Werten verbunden bleiben und es als Ehre und Würde empfinden, dafür zu kämpfen“.

Strategiewechsel seit 2000 | Neue Gewalttaten macht die TH von dem „Erfolg“ ihres Strategiewechsels abhängig: In der Türkei will sie sich als einflussreiche gesellschaftliche Organisation etablieren und sich hierdurch steigende politische Unterstützung sichern. Hierfür intensiviert sie – ähnlich wie die HAMAS im Nahen Osten – ihre Anstrengungen unter anderem im sozialen Bereich und verzichtet in ihrer Außendarstellung auf Gewalt. Mit Spendenkampagnen im Rahmen von Notsituationen versuchte die TH Einfluss zu gewinnen.

Antisemitische und antiwestliche Propaganda in TH-Publikationen | Die ideologischen Leitlinien der TH, insbesondere antisemitische und antidemokratische Äußerungen, finden regelmäßig Eingang in Magazine, die der TH nahestehen oder dieser zuzurechnen sind. So ist zum Beispiel in der Zeitschrift Doǧru Haber zu lesen:

„Sie [i. e. die Götzendiener] beschimpften uns mit den Worten wie Demokratie, Laizismus, Freiheit und Menschenrechte. […] Sie wollten den Juden dienen sonst gar nichts! Komm, Scharia, komm und zerschlage alle diese falschen Götter!“

„Aufwecken“ des Jihad-Gedankens | In dem von einem ehemaligen Imam der Vahdet Moschee in Wiesbaden herausgegebenen Magazin İnzar (Warnung) hieß es mit Bezug auf eine Sure im Koran:

„Der palästinensische Staat gehört den Palästinensern. Der islamische Boden, auch wenn es nur ein Fußbreit sein sollte, ist den Ungläubigen verboten. Denn Gott sagt: ,Und kämpft um Gottes Willen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen… (Bakara, 2/190). Und tötet Sie, wo ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben! Der Versuch[, Gläubige zum Abfall vom Islam] zu verführen, ist schlimmer als Töten“.

(Schreibweise wie im Original.)

Ebenso wurde in einem İnzar-Artikel der MB-Angehörige Izz al-Din al-Qassam (1882–1935) zitiert. Während des von Großbritannien ausgeübten Völkerbundmandats für Palästina (1920–1947) hatte er als militanter Verfechter des Jihads sowohl die Briten als auch die dortige zionistische Bewegung bekämpft und war im heutigen Westjordanland von britischen Soldaten erschossen worden:

„Es ist nicht unbedingt bedeutsam, dass wir diesen Krieg gewinnen. Wichtiger ist es, dass wir der islamischen Gemeinschaft und den zukünftigen Generationen eine Lehre zuteilwerden lassen, so dass der Jihad-Gedanke in ihnen auferweckt wird“.
Strukturen

Strukturen der TH bestanden außerhalb der Türkei in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Belgien, den Niederlanden und Frankreich. Deutschland diente dabei als Rückzugsraum zum finanziellen und personellen Aufbau der TH. Die Organisation unterhielt in Deutschland – ebenso wie im Ausland – einige Moscheevereine, wobei die TH insgesamt straff organisiert war. In Hessen bildete Wiesbaden den Schwerpunkt der Aktivitäten der TH.

Bewertung/Ausblick

Ihre sich seit 2018 abzeichnende Strategie setzte die TH im Berichtsjahr fort: Öffentliche Veranstaltungen und Aktivitäten mit größerer Außenwirkung wurden eingestellt. Dabei hielt die Westend Moschee in Wiesbaden weiter an der Ideologie der TH fest und arbeitete gezielt mit wichtigen TH-Aktivisten zusammen. Da die Moschee stark im Wiesbadener Stadtteil Westend verwurzelt ist, ist es wahrscheinlich, dass ihre Anhängerschaft die entsprechenden Bestrebungen mitträgt.

Sonstige Beobachtungsobjekte

Im Folgenden wird ein Ableger von al-Qaida in Ostafrika als weitere relevante islamistische Gruppierung aufgeführt. Die Auflistung ist nicht abschließend.

Harakat al-Shabaab al-Mujahidin (al-Shabaab, Bewegung der Mujahidin-Jugend) | Im Februar 2012 schwor al-Shabaab dem Nachfolger Osama bin Ladens, Dr. Aiman al-Zawahiri, die Gefolgschaft und gilt seitdem als regionaler al-Qaida-Ableger. Ziele al-Shabaabs sind die Errichtung eines islamischen Gottesstaats am Horn von Afrika, der Sturz der somalischen Regierung sowie die Beteiligung am weltweiten gewaltsamen Jihad. Die Terrormiliz kontrollierte Teile Süd- somalias und setzte dort die Scharia in strenger Form durch. Aufgrund des militärischen Engagements der Afrikanischen Union (AU) wurde al-Shabaab mithilfe des internationalen Truppenkontingents African Mission in Somalia (AMISOM) zwar im Jahr 2012 aus Mogadischu und weiteren Gebieten verdrängt, dennoch verübte die Terrormiliz in den vergangenen Jahren in Somalia und im Nachbarland Kenia schwere Anschläge, die zahlreichen Menschen das Leben kosteten.

Im Berichtsjahr kamen durch Selbstmordattentäter, die Autobomben und Schusswaffen verwendeten, mehr als 1.000 Menschen um, das heißt 700 mehr als im Jahr zuvor. Bevorzugte Anschlagsziele waren Hotelgebäude, Militärstützpunkte und Regierungsgebäude. So starb der Bürgermeister Mogadischus nach einem Anschlag auf sein Büro durch das Selbstmordattentat einer von al-Shabaab rekrutierten Mitarbeiterin. Zum 18. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 rief al-Zawahiri seine Anhänger per Videobotschaft zu neuen Attacken auf, wobei der Fokus auf amerikanische, europäische, israelische und russische Ziele gelegt werden solle. In der deutschsprachigen al-Qaida-Unterstützerszene rief der Aufruf jedoch keine Reaktion hervor. In Deutschland verfügte al-Shabaab über keine organisierte Unterstützungsstruktur, einzelne Sympathisanten und ehemalige Mitglieder der Terrormiliz gab es jedoch auch in Hessen.

Der im Oktober 2018 vor dem OLG Frankfurt am Main gegen einen somalischen Staatsangehörigen begonnene Prozess endete im Januar 2019 mit einem Freispruch. Die Tatvorwürfe des versuchten Mords, der Beihilfe zum Mord sowie die Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung al-Shabaab waren dem somalischen Staatsangehörigen nicht nachzuweisen.

Islamistische Straf- und Gewalttaten

Im Vergleich zu 2018 erhöhte sich die Anzahl der islamistischen Straf- und Gewalttaten im Berichtsjahr – auf niedrigem Niveau – um  ein Drittel. Mit lediglich einer Körperverletzung war die Zahl der Gewalttaten in dem Fünfjahreszeitraum 2015 bis 2019 dagegen konstant.

Insgesamt war der überwiegende Teil der Straftaten dem Bereich Jihadismus zuzuordnen. Hier fielen die meisten Taten in die Kategorie „andere Straftaten (insbesondere Propagandadelikte), wobei im Berichtsjahr vermehrt Fälle von Terrorismusfinanzierung und gegen das Vereinsgesetz gerichtete Verstöße zu verzeichnen waren. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität zur Erfassung politisch motivierter Straf- und Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.)

2019 2018 2017 2016 2015
Deliktart
Tötung
Versuchte Tötung
Körperverletzung 1 1
Brandstiftung/Sprengstoffdelikte 1
Landfriedensbruch
Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs, Luft- und Straßenverkehr
Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte 1
Gewalttaten insgesamt 1 1 1 1
Sonstige Straftaten
Sachbeschädigung 3 1 1 3
Nötigung/Bedrohung 1 3 5 10
Andere Straftaten
(insbesondere Propagandadelikte) 34 20 92 51 50
Straf- und Gewalttaten insgesamt 36 27 99 62 54
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