Salafismus
Der Salafismus setzt sich ideologisch aus einer politischen und einer jihadistischen Bewegung zusammen. Politische wie jihadistische Salafisten weichen in ihrem ideologischen Kern nicht von anderen islamischen Erweckungsbewegungen ab. Auch Anhänger eines salafistischen Islamverständnisses streben abseits theologischer Auslegungen und ideologischer Ausprägungen nach der Rückkehr zu den angeblich einzig gültigen Glaubensprinzipien, wie sie Überlieferungen zufolge in der Frühzeit um den Propheten entstanden waren und praktiziert wurden.
Anstatt ihre Religionsauffassung und -praxis an die Gegenwart anzupassen, propagieren Salafisten die idealisierte Re-Islamisierung gemäß angeblich unverfälschter Werte im Einklang mit den Geboten Allahs. Das salafistische Ziel liegt in der Wiederentdeckung des reinen Islams, seiner Erhaltung und universellen Ausdehnung. Im Diesseits ist nach salafistischer Auffassung eine gottgefällige Lebensweise nur in einer muslimischen Sozialstruktur möglich, die ungehindert für das Nachahmen der Lebensweise des Propheten bei gleichzeitiger Beachtung der hierfür zeitlos gültigen Regeln sorgt. Ein Kalifat nach historischem Vorbild wird in diesem Zusammenhang häufig als geeignete Option für ein solches Gesellschaftsmodell angesehen.
Darüber hinaus sind politische Salafisten missionarisch aktiv, indem sie die Bekehrung zum Islam und die Verbreitung des islamischen Glaubens (arab. da’wa ) betreiben. Jihadistische Salafisten rücken hingegen den gewaltsamen Kampf, den sie mit der Einhaltung göttlicher Regeln und Prinzipien rechtfertigen, in das Zentrum ihrer ideologischen Auffassung der islamischen Theologie und bilden damit den Ausgangspunkt für ihre islamistischen Bestrebungen.
Der Übergang zwischen beiden Strömungen im Salafismus kann fließend sein. In Hessen war der Großteil der Salafisten dem Spektrum des politischen Salafismus zuzurechnen. Mit einem Personenpotenzial von etwa 1.650 blieb in Hessen die Zahl der Salafisten im Vergleich zu den Vorjahren konstant und damit weiterhin besorgniserregend hoch.
Die jihadistische Terrororganisation Islamischer Staat (IS) büßte im März die letzten der von ihr besetzten Gebiete in Syrien und im Irak ein, schuf jedoch in ihren ehemaligen Einflussgebieten Untergrundstrukturen, die sie für Anschläge auf lokale Machthaber und staatliche Strukturen nutzte. Somit agierte der IS wieder als jene terroristische Untergrundorganisation, wie vor seinen gewalttätigen Eroberungen und der Ausrufung des „Kalifats“ im Juni 2014.
In Nord- und Westafrika sowie in Asien etablierten sich Ableger des IS, deren Anhängerzahlen sich von Region zu Region zum Teil erheblich unterschieden. In Europa verübten Einzeltäter jihadistisch motivierte Anschläge, wobei sie – wenn auch nicht immer eindeutig verifizierbar – entweder im Auftrag des IS oder eigeninitiativ handelten. Die hohe Anschlagsgefahr blieb auch im Berichtsjahr bestehen. So kam es unter anderem in Hessen zu etlichen Exekutivmaßnahmen, wodurch die Anschlagsplanungen einzelner Personengruppen frühzeitig erkannt und vereitelt wurden.
Auf einen Blick
- Festnahmen und Verurteilungen
- Resonanz im jihadistischen und politischen Salafismus auf weltweite jihadistische Entwicklungen
- Bundesweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle
- Hessenweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle
- Rückkehrer-Problematik Frauen und Kinder
- Weiterhin bestehendes Anschlagspotenzial des IS – Maßnahmen der Sicherheitsbehörden
- Jihadistisch motivierte Anschläge auf Sri Lanka und in Europa
- Abu Bakr al-Baghdadi getötet
Festnahmen und Verurteilungen | Im Rahmen von Exekutivmaßnahmen unter Leitung des HLKA nahm die Polizei im März in Hessen und Rheinland-Pfalz mehrere Personen fest. Drei von ihnen sollen einen Anschlag mittels eines Fahrzeugs und Schusswaffen vorbereitet haben; weiterhin werden die Festgenommenen der Terrorismusfinanzierung verdächtigt. Bei den drei Beschuldigten handelt es sich um einen 21-Jährigen aus Offenbach am Main und zwei 31-jährige Brüder aus Wiesbaden, die alle die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und sich nunmehr in Untersuchungshaft befinden. Zur Vorbereitung des Anschlags sollen sie Kontakt zu Waffenhändlern aufgenommen, ein größeres Fahrzeug angemietet und Geld gesammelt haben. Bei den Durchsuchungen beschlagnahmte die Polizei umfangreiches Beweismaterial, unter anderem elektronische Datenträger, schriftliche Unterlagen, Bargeld und mehrere Messer.
Im Februar 2019 verurteilte das Jugendschöffengericht Friedberg einen zum Tatzeitpunkt 17-jährigen Jugendlichen aus Florstadt (Wetteraukreis) wegen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem Jugendlichen war vorgeworfen worden, einen islamistisch motivierten Sprengstoffanschlag im Rhein-Main-Gebiet geplant und die hierfür erforderlichen Vorbereitungen begonnen zu haben. In diesem Zusammenhang hatte sich der Angeklagte eine Anleitung zum Bau einer Sprengvorrichtung verschafft und versucht, über einen Online-Versandhändler Chemikalien zu erwerben, um Triacetontriperoxid (TATP) herzustellen. Allerdings reichten die im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung aufgefundenen Chemikalien hierzu nicht aus. Ziel war eine „Schwulenbar“ oder ein Shia-Tempel in Frankfurt am Main, um „Ungläubige“ zu töten. Die Tatplanungen waren durch nachrichtendienstlich gewonnene Erkenntnisse bekannt geworden. Im Zuge ihrer Ermittlungen stellte die Polizei fest, dass der Jugendliche sich über das Internet radikalisiert hatte und Sympathien für den IS hegte. Das Urteil ist rechtskräftig.
Im August verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen syrischen Staatsangehörigen wegen Mitgliedschaft und Beteiligung in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Der als Kriegsflüchtling 2015 in die Bundesrepublik Deutschland Eingereiste hatte von 2013 bis 2014 bei der ausländischen terroristischen Vereinigung Harakat Ahrar al-Sham al-Islamya (Ahrar al-Sham, Islamische Bewegung der Freien Männer Großsyriens) als Mitglied mitgewirkt, in diesem Zusammenhang mittels Kriegswaffen Gewalt ausgeübt und sich an Kampfhandlungen gegen die syrische Regierung und den Machthaber Baschar al-Assad beteiligt. Im Dezember wurde der Syrier nach Verbüßung seiner Haftstrafe – unter Anrechnung der Untersuchungshaft – mit Auflagen aus dem Strafvollzug entlassen. Die vorgesehene Abschiebung nach Syrien war aufgrund der dortigen Kriegsverhältnisse vorerst ausgesetzt.
Im September verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen 20-jährigen irakischen Staatsangehörigen rechtskräftig wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, des Werbens für den IS und der Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und setzte die Vollstreckung zur Bewährung aus. Die Polizei hatte den Beschuldigten im Februar 2018 in Eschwege (Werra-Meißner-Kreis) festgenommen; er hatte spätestens seit Dezember 2017 einen nicht näher konkretisierten Selbstmordanschlag in Deutschland oder Großbritannien vorbereitet, indem er sich Schwarzpulver in Form von Chinaböllern verschafft und in der elterlichen Wohnung aufbewahrt hatte. Er wollte einen Sprengsatz herstellen und zu einem nicht bekannten Zeitpunkt an einem unbekannten Ort zünden, um Personen nichtmuslimischen Glaubens zu töten oder zu verletzen. Im Laufe des Verfahrens stellte sich heraus, dass der Angeklagte tatsächlich, nicht wie von ihm angegeben 18, sondern zwei Jahre älter ist. Das OLG wandte dennoch Jugendstrafrecht an. Der Verurteilte wurde im November in den Irak abgeschoben.
Im September verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen 32-jährigen deutschen Staatsangehörigen wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Der Angeklagte war Anfang November 2013 in die an der türkisch-syrischen Grenze gelegene Stadt Reyhanli gereist, von wo er sich von Schleppern nach Syrien in ein sogenanntes Safehouse des IS bringen ließ (Safehouses dienten dem IS der Überprüfung der Zuverlässigkeit von Neuankömmlingen, insbesondere, ob es sich um Spione handeln könnte). Bei der Registrierung durch den IS erklärte der Angeklagte, sich der terroristischen Vereinigung als Kämpfer anschließen zu wollen. Nachdem der Angeklagte Ende November vom Tod seines Vaters erfahren hatte, verließ er das Safehouse mit Erlaubnis des IS und reiste über die Türkei und Frankfurt am Main nach Kassel zurück. Für die Bereitschaft des Angeklagten, sich dem IS als Kämpfer anzuschließen, erkannte das OLG eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten an. Da der Angeklagte bereits 2015 vom Landgericht (LG) Kassel wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und wegen Waffendelikten zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden und diese Strafe einzubeziehen war, wurde er zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig.
Das LG Frankfurt am Main verurteilte im November einen 18-jährigen deutschen sowie einen 25-jährigen türkischen Staatsangehörigen aus Offenbach am Main wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Beide hatten geplant, mit einem One-Way-Ticket vom Flughafen Köln/Bonn aus über Bangkok (Thailand) auf die Philippinen zu reisen und sich dort im Umgang mit Waffen und Sprengstoff ausbilden zu lassen. Einen der Angeklagten nahm die Bundespolizei vor dem Abflug fest, dem anderen gelang die Ausreise nach Bangkok, wo er bei seiner Ankunft festgenommen und nach Deutschland zurückgebracht wurde. Der 18-Jährige wurde auf drei Jahre Bewährung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten und der 25-Jährige zu zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Urteile sind rechtskräftig. Im Januar 2020 wurde der 25-Jährige in die Türkei abgeschoben.
Darüber hinaus verurteilte das LG Frankfurt am Main im November einen 19-jährigen deutschen Schüler aus Gießen (Landkreis Gießen) wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und eines Verstoßes gegen das Vereinsgesetz zu zweieinhalb Jahren Haft. Der Deutsche ägyptischer Herkunft war im Dezember 2018 mit dem Ziel nach Luxor (Ägypten) geflogen, sich auf der Halbinsel Sinai im bewaffneten Kampf für den IS ausbilden zu lassen. Nachdem ihn die ägyptischen Sicherheitsbehörden am Flughafen verhaftet und in Gewahrsam genommen hatten, war er einen Monat später nach Deutschland abgeschoben worden. Das Urteil ist rechtskräftig.
Ebenfalls im November kam es in Offenbach am Main unter der Leitung des HLKA zu Festnahmen und Durchsuchungen dreier Personen wegen des Verdachts von Anschlagsplanungen. Gegen den Hauptbeschuldigten, einen 24-jährigen Deutsch-Mazedonier, wurde Haftbefehl erlassen. Die beiden 21- und 22-jährigen mitbeschuldigten türkischen Staatsbürger wurden, da kein dringender Tatverdacht mehr bestand, aus der Untersuchungshaft entlassen. Dem Hauptbeschuldigten wird vorgeworfen, Vorbereitungen getroffen zu haben, um im Rhein-Main-Gebiet mittels Sprengstoff oder Schusswaffen einen islamistisch motivierten Anschlag zu verüben. Er soll dabei beabsichtigt haben, möglichst viele „Ungläubige“ zu töten. Bei den Durchsuchungen fand die Polizei zur Herstellung von Sprengstoff geeignete Chemikalien. Darüber hinaus soll der Beschuldigte im Internet nach Möglichkeiten zum Kauf von Schusswaffen gesucht haben.
Resonanz im jihadistischen und politischen Salafismus auf weltweite jihadistische Entwicklungen | Wie im Vorjahr verfolgte die Szene in Hessen weiterhin die Entwicklungen der global agierenden jihadistischen Gruppierungen und Organisationen, insbesondere in Syrien und im Irak. An der Frage, ob der IS und das „Kalifat“ theologisch zu legitimieren seien, entzündeten sich in der Szene weiterhin Auseinandersetzungen. Bereits bestehende ideologische Konflikte intensivierten sich, neue kamen hinzu. In der Szene überwog die Einsicht, dass der IS mit der territorialen Bildung eines islamischen Staatsgebildes gescheitert ist.
Bundesweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle | Zum Jahresende 2019 lagen zu insgesamt 1.050 deutschen Islamisten und Islamisten aus Deutschland, die in Richtung Syrien/Irak gereist waren, Erkenntnisse vor. Zu etwa der Hälfte der gereisten Personen lagen konkrete Anhaltspunkte vor, dass sie auf Seiten des IS und der Terrororganisation al-Qaida oder diesen nahestehenden Gruppierungen und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilgenommen hatten oder diese in sonstiger Weise unterstützt hatten. Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich.
Der überwiegende Teil der insgesamt 1.050 Ausgereisten war jünger als 30 Jahre. Etwa ein Drittel dieser Personen kehrte wieder nach Deutschland zurück. Zu über 110 der bislang zurückgekehrten Personen lagen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, wonach diese sich aktiv und jihadistisch motiviert an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten.
Nachdem der IS seine territoriale Basis verloren hat, liegen Erkenntnisse zu aus Deutschland ausgereisten Personen im unteren dreistelligen Bereich vor, die aus Syrien bzw. dem Irak ausreisen möchten und/oder die sich dort in Haft bzw. Gewahrsam befinden. Zur Mehrheit dieser Personen liegen Erkenntnisse vor, dass sie beabsichtigen unter anderem nach Deutschland zurückzukehren.
Hessenweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle | Den hessischen Sicherheitsbehörden lagen im Berichtszeitraum Erkenntnisse zu etwa 150 Islamisten aus Hessen vor, die in Richtung Syrien oder Irak reisten, um dort auf Seiten des IS und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese in sonstiger Weise zu unterstützen. Einzelne Ausreisesachverhalte wurden unverändert erst nachträglich bekannt. Neue Ausreisen in Richtung Syrien/Irak wurden nur noch sehr vereinzelt registriert.
Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich. Dem Bundestrend entsprechend war der überwiegende Teil der insgesamt 150 ausgereisten Personen jünger als 30 Jahre. Nicht in allen Fällen lagen Erkenntnisse vor, dass sich diese Personen tatsächlich in Syrien bzw. im Irak aufhalten oder aufhielten. Etwa ein Viertel der Ausgereisten kehrte bis Ende 2019 nach Hessen zurück.
Darüber hinaus lagen Erkenntnisse zu aus Hessen ausgereisten Personen im niedrigen zweistelligen Bereich vor, die sich in Syrien bzw. im Irak in Haft bzw. in Gewahrsam befanden. Mehrheitlich handelte es sich um weibliche Personen. Ein Großteil der Frauen war in Begleitung von Kindern, wobei sich eine verstärkte Rückreisetendenz abzeichnete. Etwa ein Viertel der Ausgereisten kehrte bis Ende 2019 nach Hessen zurück.
In Bezug auf die Hälfte der Rückkehrer lagen den Behörden keine belastbaren Informationen vor, dass sich diese aktiv an Kampfhandlungen in der Region Syrien/Irak beteiligten. Als Ergebnis der kontinuierlichen Aus- und Bewertung der Erkenntnislage zu den Rückkehrern lagen den Sicherheitsbehörden in Hessen zu etwa 20 Personen Informationen vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten. Ferner lagen zu rund 50 Personen Hinweise vor, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit in Syrien oder im Irak ums Leben kamen. Die hessischen Sicherheitsbehörden sind bestrebt, extremistisch motivierte Ausreiseplanungen frühzeitig wahrzunehmen, um deren Verwirklichung zu unterbinden.
Rückkehrer-Problematik Frauen und Kinder | Zahlreiche Kinder und Jugendliche, die zum Teil in damaligen Herrschaftsgebieten des IS geboren wurden oder dorthin mit ihren Eltern ausgereist waren, gerieten im Zuge der Zerschlagung des territorialen „Kalifats“ des IS in Gefangenschaft der Anti-IS-Allianz. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche dieser Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit Traumatisierungen erlitten bzw. psychisch belastende Erfahrungen mit Krieg und Gewalt gemacht haben und unverändert durch die Ideologie des IS indoktriniert sind. Da diese Personengruppe bei einer Rückkehr nach Deutschland eine potenzielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, beschäftigt sich der Verfassungsschutzverbund intensiv mit der Rückkehrer-Problematik von jihadistischen Frauen und deren Kindern, die sich in Gefangenschaft befinden.
Im Laufe des Berichtsjahrs kehrten fünf Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit – unter Beteiligung deutscher Sicherheitsbehörden – in Begleitung von insgesamt sieben Kindern nach Hessen zurück. Die Frauen waren zwischen 2014 und 2016 in das Krisengebiet Syrien/ Irak ausgereist. Eine der insgesamt zwischen 21 und 30 Jahre alten Frauen wurde aufgrund eines Haftbefehls wegen Mitgliedschaft und Beteiligung in einer ausländischen terroristischen Vereinigung bei ihrer Rückkehr in Untersuchungshaft genommen. Im Fall einer 30-jährigen Deutschen sahen die zuständigen Behörden die Notwendigkeit, deren drei Kinder in eine andere Obhut zu geben.
Weiterhin bestehendes Anschlagspotenzial des IS – Maßnahmen der Sicherheitsbehörden | Trotz der militärischen Offensiven der Anti-IS-Allianz war es der Terrororganisation möglich, jihadistische Propaganda über die sozialen Medien zu verbreiten und jihadistisch motivierte Anschläge anzuleiten. Nachdem im Rahmen der Gebietsverluste in Syrien und im Irak die Anzahl der Anschläge des IS zurückgegangen war, nahmen aufgrund dessen Konsolidierung im Untergrund sowohl die Anschlagsquantität als auch die -qualität wieder zu.
Obwohl sich hinsichtlich der IS-Propaganda Qualität und Quantität spürbar verringerten, drang die Kernbotschaft des IS zu (potenziellen) Anhängern und Sympathisanten durch. Von nicht unerheblicher Bedeutung war dabei die Vervielfältigung der Propaganda durch IS-Sympathisanten, die ohne Verbindung zu der Terrororganisation jihadistische Inhalte individuell verfassten und aus eigenem Antrieb über das Internet verbreiteten. Hierbei wurden Nachrichten über den IS sowie dessen Verlautbarungen emotional kommentiert. Insbesondere die Reaktionen auf Kämpfe in Baghuz (Syrien), der letzten Hochburg des IS, und auf die im September veröffentlichte erste Videobotschaft al-Baghdadis seit über fünf Jahren stachen dabei heraus. Verstärkt wurde der gewaltsame Jihad gegen diejenigen „Feinde“ des „Kalifats“ propagandiert, die sich an Anti-Terror-Operationen gegen den IS beteiligten oder der Anti-IS-Allianz anschlossen.
Die intensivierten Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden in Deutschland sowie des Militärs in der Konfliktregion erschwerten offensichtlich bestehende oder geplante Anschlagsbemühungen von IS-Terrorzellen erheblich. Vor diesem Hintergrund sowie angesichts der jihadistischen IS-Propaganda und -Anleitung zu entsprechend motivierten Angriffen verlagerte sich der Trend hin zu Einzelakteuren, die Terroraufrufe aufgriffen und – ohne Einbindung in Zellenstrukturen – versuchten, Anschläge vorzubereiten.
Für die Sicherheitsbehörden war es eine große Herausforderung, diese vom IS oft unabhängig agierenden Personen vor der Umsetzung eines Anschlags zu identifizieren. Nur in seltenen Fällen lagen zu den Akteuren bereits über einen längeren Zeitraum auf Tatsachen basierende Erkenntnisse vor, die eindeutig auf die Absicht hinwiesen, dass ein Anschlag unmittelbar bevorstand. Oftmals handelte es sich um IS-Sympathisanten, die nur mittelbar in Kontakt mit der Terrororganisation standen oder erst ab einem gewissen Zeitpunkt ihrer jihadistischen Radikalisierung und bei Konkretisierung ihrer Anschlagspläne den direkten Kontakt zum IS herstellten.
Jihadistisch motivierte Anschläge auf Sri Lanka und in Europa | Im Vergleich zu den Vorjahren ging die Zahl der Anschläge mit jihadistischem Hintergrund zurück. Die folgende Kurzdarstellung beschränkt sich auf besonders schwerwiegende Taten:
- Colombo, Negombo und Batticaloa (Sri Lanka), 21. April: Am Ostersonntag begingen sieben IS-Angehörige koordinierte Bombenanschläge auf Kirchen und Hotels, wobei es ihr Ziel war, möglichst viele Menschen zu töten. So wurden die Kirchen während der Ostergottesdienste und die Hotels während der Frühstückszeit angegriffen. Die Anschläge kosteten 253 Menschen das Leben, mehr als 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Der IS veröffentlichte im Anschluss ein Video, in dem die Attentäter ihm die Treue schworen und diesem die Anschläge widmeten.
- Lyon (Frankreich), 24. Mai: In der Fußgängerzone explodierte ein Sprengsatz, der 13 Menschen leicht verletzte. Drei Tage nach dem Anschlag nahm die französische Polizei den mutmaßlichen Täter fest. Er gestand die Tat und bekannte sich zum IS.
- Paris (Frankreich), 3. Oktober: Mit einem Messer tötete ein Mitarbeiter der Pariser Polizeidirektion vier Kollegen und verletzte einen fünften schwer, bevor er selbst von einem Polizisten erschossen wurde. Der Täter war ein langjähriger Mitarbeiter der Präfektur, war zum Islam konvertiert und hatte unter anderem das islamistisch motivierte Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Jahr 2015 gerechtfertigt.
Abu Bakr al-Baghdadi getötet | Im Rahmen einer Militäroperation der amerikanischen Streitkräfte wurde al-Baghdadi, der Anführer des IS, am 26. Oktober getötet. Nach dem Verlust des territorialen „Kalifats“ setzte dies die Terrororganisation noch weiter unter Druck. Vier Tage später bestätigte die IS-Führung den Tod al-Baghdadis und rief mit Abi Ibrahim al-Hashimi al-Quraschi einen neuen „Kalifen“ aus. Einzelne IS-„Provinzen“ veröffentlichten anschließend Videos, in denen Anhänger dem neuen „Kalifen“ ihre Treue bekundeten.
So wie es sich seit dem Sommer 2018 angekündigt hatte, waren im Berichtsjahr keine Aktivitäten des „We-Love-Muhammad“-Projekts mehr zu verzeichnen. Die Betreiber des Projekts hatten nur wenige Akteure zu akquirieren vermocht und es war ihnen nicht gelungen, die Strukturen in Hessen über das Rhein-Main-Gebiet hinaus dauerhaft auszubauen. Im Moscheeverein Dar al Salam e. V. fanden weiterhin Aktivitäten und Predigten im Rahmen des politischen Salafismus statt.
Aktivitäten des Moscheevereins dar al Salem e. V. | Der 2015 in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) gegründete Moscheeverein Dar al Salem e. V. betrieb eine Moschee im Marburger Stadtteil Richtsberg und unterhielt mehrere Auftritte in den sozialen Medien. Dass der Moscheeverein politisch-salafistische Bestrebungen verfolgte, war anhand der Predigten des Imams erkennbar.
Mittels der Predigten wird die Umsetzung und Verwirklichung von Predigtinhalten forciert, die sich gegen die Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten. Das Islamverständnis des Dar al Salem e.V. ist exklusivistisch-salafistischer Prägung. In den Predigten wird ein dualistisches Weltbild vermittelt, in dem sich Muslime und Nichtmuslime in Feindschaft gegenüberstehen. Diese Zweiteilung der Welt wird dogmatisch zugespitzt, indem suggeriert wird, dass man dem in den Predigten normativ vorgeschriebenen Islamverständnis folgen müsse, um als Muslim gelten zu können.
In den Predigten wird betont, dass man ausschließlich der Prophetentradition (arab. sunna ) des Propheten Muhammad und den frommen Altvorderen im Islam folgen solle, da dies den „wahren“ Islam ausmache. Dabei würden das Handeln und die Taten des Propheten Muhammad und der frommen Altvorderen nicht nur als historisches Vorbild dienen, sondern müssten als Handlungsanweisung für die gegenwärtige Situation interpretiert werden. Gemäß den Predigtinhalten des Dar al Salem e. V. seien Neuerungen im Islam generell verboten und würden ins Höllenfeuer führen.
Die Forderung nach ausschließlicher Ausrichtung an dem Propheten und den frommen Altvorderen im Islam und die Ablehnung jeglicher Neuerung im Islam stehen bei dem Dar al Salem e. V. für ein salafistisches Islamverständnis.
Salafismus als Bezeichnung für die Anhänger einer islamistischen Strömung ist erst seit Anfang der 2000er Jahre verstärkt in das Interesse der Forschung und Sicherheitsbehörden gerückt. Die Wortbedeutung leitet sich aus dem arabischen Begriff salaf (dt. Altvorderer) ab und prägt den Terminus bis heute. Salafisten glorifizieren die islamische Ära (etwa 610 bis 850) der Altvorderen, die das Leben des Propheten Muhammad und seiner Anhängerschaft in drei Generationen fasst, als Zeitalter des unverfälschten Islams („goldene Epoche“). In rigider Form stellen Salafisten Allah als Ursprung und Zentrum aller rechtlichen wie moralischen Fragen in den Mittelpunkt ihres Glaubens. Die genaue Herkunft des Begriffs Salafismus in der Bedeutung einer religiösen wie sozialen Bewegung lässt sich nicht eindeutig zurückverfolgen. Ideengeschichtlich hat der Begriff seit dem 14. Jahrhundert verschiedene Entwicklungen durchlaufen. Aktuell fasst das Phänomen Salafismus das Personenpotenzial einer im Islamismus aktiven Strömung zusammen, die sich durch zum Teil erhebliche Differenzen im Auslegen und Ausleben ihres Islamverständnisses kennzeichnet.
Auf einen Blick
- Vorbildfunktion der islamischen Frühgeschichte
- Homogene Überzeugung – heterogene Zusammensetzung
- Salafismus in Deutschland
Vorbildfunktion der islamischen Frühgeschichte | Salafisten gehören konfessionell dem sunnitischen Islam an und richten ihre Glaubenslehre nahezu wortwörtlich am Koran und den überlieferten Bräuchen und Traditionen (arab. sunna ) des Propheten Muhammad aus. Salafisten entwickeln in Anlehnung an die islamrechtliche Methodologie der Religionspraxis eine eigene Methode (arab. manhaj ), die sie aus ihrer Glaubenslehre ableiten und im Einklang mit ihr praktizieren. Im Gegensatz zu der übrigen islamischen Glaubenstradition sind Salafisten davon überzeugt, dass ausschließlich in der Epoche der frommen Altvorderen (arab. as-salaf as-salih ) im 7. Jahrhundert die reine und unverfälschte Form des Islams praktiziert worden sei. Die drei ersten Generationen um den Propheten Muhammad nehmen im sunnitischen Islam wegen ihrer Nähe zu ihm und seiner Lebensweise generell eine hohe Bedeutung ein. Im Salafismus wird dieses Zeitalter theologisch überhöht und ideologisch als vorbildliches Lebensmodell propagiert.
Da es sich bei den frommen Altvorderen nicht um eine Bewegung oder ein klar definiertes Konzept handelte, gestaltete sich dieser Rückgriff auf sie – je nach historischen, politischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Umständen – sehr unterschiedlich und führte in der Moderne zu stark divergierenden Interpretationen und verschiedenen – teils widersprüchlichen – Strömungen innerhalb des Salafismus.
Homogene Überzeugung – heterogene Zusammensetzung | Obwohl das salafistische Islamverständnis grundsätzlich eine klare Doktrin entwickelte, bildeten sich im Verlauf der Zeit unterschiedliche Auslegungen und Praktiken heraus. Gerade die in bewusster Ablehnung der vier anerkannten sunnitischen Rechtsschulen (arab. im Singular madhab ) angewandte individuelle Interpretation (arab. ijtihad ) der islamischen Primärquellen führte wiederholt zu einer ideologischen Fragmentierung salafistischer Sichtweisen. Dies hemmte gleichzeitig die Verschmelzung zu einer homogenen – in ihrer Theologie vereinten – globalen religiösen Bewegung. Sowohl die Anhänger des Salafismus als auch des Wahhabismus berufen sich abseits der islamischen Hauptquellen im Wesentlichen auf bestimmte Werke der historischen Islamgelehrten Ahmad Ibn Hanbal (780–855), Taqi al-Din Ahmad Ibn Taimiya (1263–1328) und Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703–1792). Die Schriften dieser Gelehrten und ihrer Zirkel ziehen Salafisten bis heute als Legitimationshilfe für ihr Islamverständnis heran. Dabei ignorieren sie die kultische und kulturelle Mehrdimensionalität des Islams. Die bewusste Abgrenzung von islamrechtlich etablierten Meinungen sowie die theologische Maxime der individuellen Auslegung ließen zudem salafistische Lehrzirkel entstehen, die oftmals nur aus wenigen Schülern und einem Mentor bestehen.
Salafismus in Deutschland | In Deutschland wurden salafistische Prediger etwa seit 2002 aktiv und begannen, überregionale Missionierungsnetzwerke aufzubauen. Einige Prediger dieser ersten Generation erhielten ihre religiöse Ausbildung an Universitäten in Saudi-Arabien, was sich in ihrer Interpretation der islamischen Glaubenslehre nach wahhabitischer Lesart widerspiegelt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie die Loyalität gegenüber dem saudischen Königshaus teilen, die traditionelle wahhabitische Gelehrte auszeichnet. Da es auch innerhalb des Wahhabismus heterogene Lehrmeinungen gibt, berufen sich salafistische Akteure in Deutschland auf unterschiedliche Gelehrte und vertreten daher unterschiedliche Positionen, etwa in Bezug auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gewalt erlaubt ist. Anders als die Prediger der ersten Generation hat die wachsende Anzahl der gegenwärtigen Unterstützer und Sympathisanten des Salafismus oftmals keine religiöse Ausbildung an Universitäten erhalten, sondern schöpft ihr „Wissen“ aus Islamseminaren in Deutschland, Internetpredigten und privaten Lerngruppen.
Der Salafismus stellt innerhalb des Islamismus eine Strömung dar, die sich insbesondere durch ihre doktrinäre Auffassung des Islams hervorhebt. Die regional verhaftete, streng konservative sunnitische Islamauslegung des Wahhabismus beeinflusste die zeitgenössische salafistische Doktrin nachhaltig. Die salafistische Glaubenslehre (arab. ’aqida ) absorbierte einzelne wahhabitische Glaubensgrundsätze und ergänzte diese um eigene theologische Elemente.
Auf einen Blick
- Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams
- Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin
- Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre
- Politischer Salafismus
- Jihadistischer Salafismus
Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams | Kulturelle Einflüsse, die den Islam seit seiner Verbreitung im 8. Jahrhundert fortwährend geprägt haben, werden in der salafistischen Islamauslegung als schädigende und gleichermaßen als unerlaubte Neuerung (arab. bid’a ) stigmatisiert, da sie nicht der normativen bzw. islamrechtlich verbindlichen Vorbildfunktion der Prophetentradition entsprächen. Im Salafismus ist der Handlungsspielraum menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten genau auf die „Goldene Epoche“, das heißt die ersten drei Generationen der Muslime nach dem Propheten Muhammad, begrenzt. Er begreift sich gleichzeitig als ewige Bastion gegen verschiedene theologische und kulturelle Entwicklungen im Islam. Das Zeitalter der Prophetentradition bildet für Salafisten somit den theologisch verbindlichen Bezugspunkt zum uneingeschränkten Monotheismus (arab. tauhid ), den es unter allen Umständen vor Unglauben (arab. kufr ) und Polytheismus (arab. shirk ) zu schützen gelte. Dieses Zeitalter ist gleichzeitig auch der moralische und rechtliche Maßstab für das menschliche Dasein und Handeln in der Gegenwart zur Erfüllung des göttlichen Willens. Selbst in traditionellen islamischen Verehrungsriten sehen Salafisten die Universalität und Einmaligkeit Allahs angegriffen. Auch weltliche Institutionen wie Gerichtsbarkeiten, die nicht vollständig der salafistischen Auslegung der islamischen Rechts- und Verhaltensnormen (arab. shari’a ) unterworfen sind, werden als Götzendienst (arab. taghut ) abgelehnt.
Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin | Im Mittelpunkt der salafistischen Glaubenslehre steht das unerschütterliche Bekenntnis zu einem Gott. Nahezu identisch mit wahhabitischen Auslegungen fassen Salafisten die in den islamischen Glaubensquellen benannten Attribute Allahs wortwörtlich und nicht metaphorisch auf. Der salafistischen Glaubenslehre zufolge kategorisiert sich die Unterwerfung unter Allah in drei Bereiche der Huldigung. Zu ihnen zählt die universale Herrschaft Allahs, die göttliche Einzigartigkeit sowie die Einmaligkeit der Namen und Attribute Allahs. Den Wesenskern der salafistischen Doktrin bildet dieses tauhid -Verständnis, das es unter allen Umständen vor inneren wie äußeren Verzerrungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schützen gelte.
Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre | Das salafistische Selbstverständnis zeichnet das Bild eines frommen Muslims, der – in Bescheidenheit und Zurückgezogenheit – sein Leben der ewigen Suche nach der Wahrheit im Islam widmet. Salafisten verstehen sich als Bestandteil der sogenannten erretteten bzw. auserwählten Gruppe (arab. at-ta’ifa-al-mansura und al-firqa-an-najiya ). Einzig die Anhänger des wahren Islams sollen laut einer Überlieferung (arab. hadith ) der islamischen Heilslehre am Tag des Jüngsten Gerichts vor Allah bestehen. Aus der Überzeugung, einer elitären Gruppe wahrer Muslime anzugehören, resultiert das moralische Überlegenheitsgefühl der Salafisten gegenüber Andersdenkenden. Aus diesem Grund fühlen sich Salafisten dazu berufen, das soziale Umfeld gemäß ihrer Überzeugung zu erziehen und nachhaltig zu verändern.
Besonders deutlich wird der soziale Verhaltenskodex im Salafismus anhand der Forderung der Einhaltung islamischer Prinzipien, die gemäß der salafistischen Doktrin einen Leitmotivcharakter aufweisen. Salafisten streben danach, den Islam von vorgeblich schädigendem Einfluss zu bereinigen. Dementsprechend versuchen sie sowohl die theologische Lehre im Islam als auch die Gesellschaft als Ganzes gemäß ihrer Doktrin zu gestalten. Indem anderen Muslimen das Rechte geboten und das Schlechte verboten (arab. al-amr bi-l-ma’ruf wa nahy ’an al-munkar ) wird, können Salafisten neben der theologischen Lehre somit auch erheblichen sozialen Einfluss ausüben. Salafisten folgen dem Prinzip der Loyalität und Lossagung (arab. al-wala‘-wa-l-bara‘ ), um sich durch das klare Bekenntnis zu ihrer Glaubensauslegung demonstrativ von allen anderen Glaubensformen oder vermeintlich Ungläubigen zu distanzieren. In der Nähe zu anderen Glaubensgemeinschaften sehen Salafisten die Gefahr, den eigenen Glauben im engeren Sinne zu verzerren und den Islam im weiteren Sinne zu verderben.
Das Abgrenzungsprinzip al-wala‘-wa-l-bara‘ bietet somit den Platzhalter für viele Formen der Fremdenfeindlichkeit und mündet oftmals in der islamtheologisch umstrittenen Praxis, einen Muslim für ungläubig zu erklären (arab. takfir ), wenn Salafisten andere Muslime aufgrund angeblich frevelhafter Religionsausübung oder anderer Verfehlungen als Nichtmuslime brandmarken. Darüber hinaus vertieft das Prinzip der offensiven Lossagung den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, wobei Salafisten letztere den Makel angeblich unwürdiger Muslime zusprechen.
Aus dem bedingungslosen Befolgen der salafistischen Doktrin können somit verfassungsfeindliche Bestrebungen gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung resultieren. Der Bestrebungscharakter im Salafismus ist prinzipiell totalitär, da das Diesseits nach seinen normativen Maßstäben zur Ehrung und Wahrung des Islams zu formen ist. Diese salafistische Doktrin enthält die idealisierte Vorstellung einer Welt, die den Anforderungen des „wahren Islams“ vollumfänglich gerecht werden will: gesamtgesellschaftlich, global und konsequent gelebt bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Jedoch lässt sich innerhalb des Salafismus keine synchronisierte, homogene Bestrebung zu diesem Ziel hin feststellen. Idealvorstellung und reale Verhältnisse unterliegen Wechselwirkungen, die sich stets auf das salafistische Islamverständnis in Abhängigkeit von Zeit und Ort ausgewirkt haben. Somit ist die salafistische Doktrin in unzählige „Etappenziele“ unterteilt, die ihrerseits dem Wandel veränderter religiöser Prioritäten im Bezug zur Gegenwart unterliegen.
Dies setzt entsprechende Bestrebungen im Sinne eines sozial-reformistischen bis hin zu revolutionären Umbruchs voraus, die jedoch aufgrund der verschiedenen weltweiten Erscheinungsformen des Salafismus nicht pauschal bei jedem Anhänger in gleicher Weise ausgeprägt sind. Ungeachtet dessen würde die Implementierung einer salafistischen Gesellschaftsordnung in Deutschland am ehesten mit einem Gottesstaat vergleichbar sein und gleichzeitig die Abschaffung bzw. Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bedeuten.
Politischer Salafismus | Der politische Salafismus ist in der Regel von gewaltlosen Aktivitäten gekennzeichnet. Das salafistische Islamverständnis verlangt, die Reinheit des Islams zu bewahren und seine Authentizität wiederherzustellen, wo es notwendig erscheint. Salafisten sehen sich dazu berufen, das im Laufe der Jahrhunderte angereicherte islamische (Gelehrten-)Wissen zu bereinigen (arab. tasfiya ), um daraus auch Konsequenzen abzuleiten, so etwa bei der Verbreitung der bereinigten Botschaften in Erziehung und Kultivierung (arab. tarbiya ) gegenüber anderen Personen.
Daher nutzen politische Salafisten überwiegend gewaltlose Formen der religiösen Erziehung und der im Hintergrund – ohne politisches Aufsehen erregenden – tätigen Beratung (arab. nasiha ). Auf diese Weise wollen sie ihr Umfeld auf den angeblich wahren Weg Allahs zurückführen und zum Übertritt zum Islam nach ihrem Verständnis bekehren (arab. da’wa ). Grundsätzlich meiden Salafisten das politische Engagement, um die Reinheit der Doktrin des tauhid zu erhalten und vor angeblich islamfremden Einflüssen zu schützen. Salafisten sind daher weder parteipolitisch noch in vergleichbarer Form im öffentlichen Diskurs für gesamtgesellschaftliche Gestaltungsprozesse aktiv. Dennoch kann die salafistische Doktrin auf gesamtgesellschaftliche Bereiche einwirken und somit politischen Einfluss entwickeln. Der Einsatz von Gewalt ist bei politischen Salafisten nicht kategorisch auszuschließen, stellt jedoch im Kontrast zu den Anhängern des globalen Jihadismus nicht per se ihr islamrechtlich bevorzugtes Mittel zur Veränderung der Verhältnisse dar.
Jihadistischer Salafismus | Jihadistische Salafisten teilen zentrale Glaubensprinzipien des politischen Salafismus, bilden daraus jedoch Legitimationen für eigene Handlungsmuster. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal ergibt sich aus dem Verhältnis zur Gewalt. Der Anstrengung für Allah (arab. jihad ) messen Jihadisten eine gewaltorientierte, aktiv-kämpferische Komponente bei, die zur individuellen Glaubenspflicht erhoben wird und dadurch in ihrer Perspektive die Durchsetzung revolutionärer und umstürzlerischer Zwecke rechtfertigt. Entgegen der politisch-salafistischen Agenda sehen Jihadisten primär in der Gewaltanwendung die Möglichkeit, „Tyrannen“ und „Ungläubige“ zu bekämpfen. Verhaftet in den islamischen Überlieferungen vom Tag des Jüngsten Gerichts, streben Jihadisten nach der Auslöschung aller unislamischen, ungläubigen Elemente, die sie in Regierungen, anderen Religionen und auch islamischen Glaubensgemeinschaften verkörpert sehen. Der gewaltsame sogenannte kleine jihad nimmt in den ideologischen Auffassungen der verschiedenen Gruppen, die insgesamt den globalen Jihadismus bilden, unterschiedliche Formen an und wird entsprechend vielfältig legitimiert und angewendet. Somit zielen jihadistische Salafisten im Gegensatz zum politischen Salafismus auf die gewaltsame Beseitigung bzw. Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder nehmen bewusst deren Schädigung in Kauf.
Politischer Salafismus | In der Öffentlichkeit gingen die Aktivitäten im Bereich des politischen Salafismus seit 2015 kontinuierlich zurück. So kam etwa das Werben für das Projekt „We Love Muhammad“ vollends zum Erliegen. Eine ähnliche Entwicklung ließ sich in Bezug auf öffentliche salafistische Predigten und damit verbundene hoch frequentierte Zusammenkünfte der entsprechenden Sympathisanten und Anhänger feststellen. Zunehmend wichen salafistische Gelehrte und Prediger auf private Bereiche aus und nutzten weiterhin die sozialen Medien für ihre Aktivitäten. Insgesamt verschwanden islamistische Aktivitäten, die dem Bereich des politischen Salafismus zuzurechnen sind, nahezu vollständig aus dem öffentlichen Raum in Hessen. Die stark rückläufige Anzahl öffentlicher Auftritte von Salafisten ist jedoch nicht mit einem Rückgang der Anhängerzahl gleichzusetzen. Unverändert hält die politisch-salafistische Szene die Anhänger in ihren Reihen.
Jihadistischer Salafismus | Die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags war in Deutschland unvermindert hoch. Solange es dem IS und anderen jihadistischen Gruppierungen weiterhin gelingt, ihre Botschaften und Ideologien insbesondere über die sozialen Medien weltweit zu verbreiten, ist nicht mit einer abnehmenden Anschlagsgefahr zu rechnen.
Da jihadistische Gruppierungen weiterhin danach streben, eine islamische Gesellschaft – häufig als „Emirat“ oder „Kalifat“ bezeichnet – zu etablieren, haben für sie Syrien und weite Teile der Levante (Länder am östlichen Mittelmeer) eine unvermindert große ideologische Bedeutung. Nach jihadistischer Lesart erfüllen sich hier die apokalyptischen Verheißungen und Voraussagen islamischer Überlieferungen, das heißt die Voraussagen in Bezug auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der Akteure des weltweiten Jihadismus müssen auch in Zukunft sehr genau beobachtet und analysiert werden, um entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Der weltweite Jihadismus besticht in den Augen seiner Anhänger in erster Linie durch seine klare Ideologie, die einerseits die freie Religionsausübung des Islams garantiert und andererseits sowohl moralische als auch politische Feinde zum Schutz des Islams gnadenlos bekämpft. Das Gros der Gefolgschaft bildet sich letztlich aus ideologisierten Anhängern; die Idee einer gemäß salafistischen Prinzipien konzipierten Welt bietet aber auch Nischen für Menschen, die glauben, in diesen Strukturen besser zurechtkommen zu können, als andernorts, wo sie sich unterdrückt fühlen. Es sind daher nicht nur Organisationen oder Gruppen, die den Jihadismus entstehen lassen, sondern vor allem dessen propagandistische ideologische Überzeugungskraft formiert diese Gruppen und wird weiterhin eine breite Anhängerschaft anziehen.
Das Zerschlagen von jihadistischen Terrorzellen und -netzwerken hemmt kurz- bis mittelfristig den Aufbau jihadistischer Strukturen, kann jedoch nicht die dahinterstehende Ideologie zerstören. Eine maßgebliche Aufgabe des LfV ist es, Radikalisierungs- und daraus entstehende Gefahrenpotenziale sowie die entsprechenden Akteure rechtzeitig zu erkennen. Darüber hinaus ist es das Ziel des LfV, mittels seiner Präventionsarbeit der Verbreitung des salafistischen/jihadis-tischen Gedankenguts entgegenzuwirken.