Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2019

Extremismus in Hessen

Wesentliche Eckpunkte

Extremistisches Personenpotenzial in Hessen | Im Vergleich zum vorangegangenen Berichtsjahr blieb das extremistische Personenpotenzial in Hessen 2019 mit etwa 13.400 Personen unverändert.

Allerdings erhöhte sich in Hessen das rechtsextremistische Personenpotenzial im parteiunabhängigen/-ungebundenen sowie im weitgehend unstrukturierten Bereich. Hierzu zählten vor allem Neonazis und Anhänger der subkulturellen rechtsextremistischen Musikszene.

In den Phänomenbereichen Islamismus sowie Reichsbürger und Selbstverwalter blieb das Personenpotenzial unverändert, im Linksextremismus nahm es kaum merklich zu, während es im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug vor allem wegen der Einstellung der Beobachtung der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) etwas abnahm.

Insbesondere mit Blick auf den Rechtsextremismus bestätigte sich die bereits im Berichtsjahr 2018 getroffene Einschätzung, dass der Extremismus in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Schattierungen eine zunehmende Anziehungskraft in der Gesellschaft besitzt.

Signifikante Zunahme der Gesamtzahl der extremistischen Straf- und Gewalttaten | Gegenüber dem Vorjahr nahm im Berichtszeitraum auch die Gesamtzahl der extremistischen Straf- und Gewalttaten zu. Sie erhöhte sich signifikant von 698 (2018) auf 1.060, was einer Steigerung von etwa 52 Prozent entspricht. Von den 1.060 im Jahr 2019 insgesamt verübten Delikten nahmen die rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten (886) deutlich den weitaus größten Teil ein, das heißt nahezu 84 Prozent.

Erhöhte sich gegenüber dem Vorjahr 2018 ebenso der prozentuale Anteil der rechtsextremistischen Delikte an der Gesamtzahl der extremistischen Straf- und Gewalttaten, so ist – neben dem signifikanten Zuwachs im Phänomenbereich Rechtsextremismus (plus 347 Delikte) zweierlei überaus besorgniserregend:

  • Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland befand sich unter den rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten ein mutmaßlich rechtsextremistisch motiviertes Morddelikt, bei dem ein Politiker getötet wurde. So wurde der Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke Anfang Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses mutmaßlich von einem Rechtsextremisten gezielt erschossen.
  • Darüber hinaus nahmen die rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten gegenüber dem Vorjahr um etwa 64 Prozent zu. Innerhalb des zurückliegenden Fünf-Jahreszeitraums (2015 bis 2019) wurde damit im Phänomenbereich Rechtsextremismus 2019 der höchste Wert erreicht (siehe unten die Tabelle Rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten in Hessen, 2015 bis 2019).

Diese Entwicklung ist besorgniserregend, sie ist in ihrer Bewertung auch nicht durch den Umstand abzuschwächen, dass die Gesamtzahl aller extremistischen Gewalttaten von 51 (2018) auf 41 und damit um fast etwa 20 Prozent sank. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten innerhalb des oben erwähnten Fünf-Jahreszeitraums kontinuierlich von 20 (2015) auf 31 (2019) stieg, lediglich unterbrochen von einem Rückgang im Jahr 2017 (16).

Vor dem Hintergrund des gestiegenen rechtsextremistischen Personenpotenzials sowie der signifikant erhöhten rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten bildet die dezidierte Beobachtung des Rechtsextremismus die wesentliche Kernaufgabe des LfV. Allerdings wird daneben nicht vernachlässigt, dass die Gefahr eines jihadistisch motivierten Terroranschlags nach wie vor unvermindert hoch ist und es seitens des LfV gilt, insbesondere von Einzelpersonen aus- gehende schwerwiegende Gefahren (ebenso wie im Rechtsextremismus) frühzeitig zu erkennen. Auch beobachtet das LfV genau, ob bzw. in welchem Maße gewaltorientierte Radikalisierungstendenzen in der bundesweiten linksextremistischen autonomen Szene möglicherweise in Hessen ihren Niederschlag finden. So war es in Hamburg zu einem Angriff auf das Fahrzeug des Senators für Inneres und Sport gekommen.

Rechtsextremismus

Personenpotenzial | Die rechtsextremistische Szene in Hessen gestaltete sich äußerst heterogen und deckte die gesamte Bandbreite des Spektrums ab: von einzeln agierenden Personen über lose strukturierte Kameradschaften und völkische Gruppen bis hin zu fest strukturierten Parteien und Gruppierungen der Neuen Rechten. Insbesondere im Bereich des Neonazismus gab es Einzelpersonen, die mit überregionalen rechtsextremistischen Strukturen vernetzt waren. Dabei verteilte sich in Hessen das rechtsextremistische Personenpotenzial relativ gleichmäßig auf die Regionen. Mit einem Anteil von etwa 80 Prozent dominierten Männer die Szene.

Insgesamt stieg das rechtsextremistische Personenpotenzial (2019:1.620) in Hessen mit einer Zunahme von etwa 145 Personen um etwa neun Prozent an (2018: 1.475). Ursache war insbesondere die Zunahme des Personenpotenzials im parteiunabhängigen/-ungebundenen sowie im weitgehend unstrukturierten Bereich.

Lose strukturierter Rechtsextremismus: Neonazis und subkulturell orientierte Rechtsextremisten | Der lose strukturierte Rechtsextremismus setzte sich aus dem neonazistischen Spektrum und subkulturell orientierten Rechtsextremisten zusammen, wobei beide Bereiche eine Schnittmenge aus den Kategorien parteiunabhängige/parteiungebundene Strukturen und weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial bildeten (siehe Kapitel Rechtsextremistisches Personenpotenzial). Bei beiden Bereichen gab es personelle Über- schneidungen, wobei über mehrere Jahre hinweg aktive Gruppierungen nur in Einzelfällen bestanden.

Ist der Bereich Neonazismus im engeren Sinne mit dem Bekenntnis zum Nationalsozialismus und dessen maßgeblichen Protagonisten gleichzusetzen, so werden ihm darüber hinaus Personen und Gruppierungen zugerechnet, die insbesondere rassistische und nationalistische Positionen vertreten, ohne dass sie dem legalistischen Rechtsextremismus angehören. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Neonazis ihre Freizeit eher wie subkulturell orientierte Rechtsextremisten verbringen oder teilweise gemeinsam mit ihnen bei Demonstrationen auftreten.

Die Aktivitäten neonazistischer Gruppierungen unterschieden sich hinsichtlich ihrer Art und ihres Ausmaßes voneinander und gingen in den letzten Jahren deutlich zurück. Die Gründe hierfür dürften im Bekanntwerden der rechtsextremistischen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) sowie in den sich daran anknüpfenden umfassenden staatlichen Maßnahmen und einer hieraus resultierenden Verunsicherung der Szene liegen. Einzelne neonazistische Gruppierungen versuchten, sich durch Satzungen und Aufnahmeprüfungen von anderen Gruppierungen des rechtsextremistischen Spektrums als elitär abzugrenzen. Nicht wenige der in solchen Gruppen agierenden Personen waren während der gesamten Dauer ihrer Szenezugehörigkeit in Straftaten verwickelt und wiesen ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft auf.

Nach wie vor versuchten neonazistische Gruppierungen in Hessen, sich im rechtsextremistischen Spektrum zu vernetzen und ihr Kontaktumfeld zu erweitern, um auf diese Weise Synergieeffekte zu erzeugen. Dabei fungierten das Internet und verschiedene Messenger-Dienste sowohl als bevorzugtes Vernetzungsmedium als auch als zentrales Instrument der Agitation.

Im Rahmen des Ziels der Sicherheitsbehörden in Hessen, das Begehen rechtsextremistischer – insbesondere gewalttätiger (neonazistischer) – Straftaten durch Einzelpersonen und/oder Gruppierungen zu verhindern, befand sich auch die Szene der subkulturell orientierten Rechtsextremisten im besonderen Fokus des LfV. Sobald bekannt wurde, dass eine rechtsextremistische Musikveranstaltung geplant war, wurden alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, um eine solche zu verhindern oder aufzulösen.

Aufgrund ihres Erlebnischarakters bietet Musik für Jugendliche verschiedene Identifikationsmöglichkeiten: das Pflegen eines stark emotionalisierten Gemeinschaftsverständnisses, das Beschwören von Feindbildern („Migranten“, „Juden“, „Staat“ und dessen Repräsentanten), das Verherrlichen von Gewalt sowie das Verharmlosen und Glorifizieren des Nationalsozialismus. Hinzu kommen die Lust der Provokation und der Reiz, Verbotenes zu tun. So gab es in Hessen im Berichtszeitraum vier rechtsextremistische Musikveranstaltungen.

Bei der Verhinderung solcher Veranstaltungen kommt dem Zusammenwirken der Sicherheitsbehörden sowie mit den örtlich zuständigen Behörden eine besondere Bedeutung zu. So nimmt etwa das LfV – in der Regel gemeinsam mit der Polizei – im Einzelfall Kontakt mit den jeweiligen Bürgermeistern der betroffenen Gemeinden auf und weist unter anderem im Rahmen des kommunalen Newsletters auf Handlungsmöglichkeiten hin.

Gewaltaffinität und Radikalisierung | Die hohe Gewaltaffinität insbesondere der neonazistischen und subkulturell orientierten Szene reichte von der grundsätzlichen Bejahung von Gewalt bis hin zu Gewalttaten gegen Personen, die Rechtsextremisten in ihre Feindbilder einordnen. Dieses Gewaltpotenzial ist eine stets virulente Gefahr. Dies spiegelt sich in den schrecklichen rechtsextremistisch motivierten Ereignissen in Hessen im Berichtszeitraum wider, so der mutmaßlich rechtsextremistisch motivierte Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke in Wolfhagen (Landkreis Kassel), die versuchte Tötung eines eritreischen Staatsangehörigen in Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis) und der Angriff auf einen Syrer in Taunusstein (Rheingau-Taunus-Kreis). Aufgrund ihrer persönlichen Situation, ihres sozialen Umfelds, ihrer Beeinflussung durch außen und ihres Radikalisierungsgrads können einzelne Szeneangehörige zu Kurzschlusshandlungen neigen, die in Gewalt münden. In den meisten Fällen sind diese Taten nicht vorherzusehen und daher für die Sicherheitsbehörden nur äußerst schwer zu verhindern.

Von den insgesamt etwa 1.620 Rechtsextremisten in Hessen stufte das LfV 840 als gewaltorientiert ein, wobei unter diesen Begriff gewalttätige, gewaltbereite, gewaltunterstützende und gewaltbefürwortende Rechtsextremisten fallen. Das entspricht einem Anteil von etwa 52 Prozent. Unter gewaltorientiert werden nicht nur Personen erfasst, die bereits mit Gewalttaten in Erscheinung getreten sind, sondern auch solche, die Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ansehen.

Eine wichtige Rolle für diese zu Gewalt führenden Entwicklungen spielt die fortschreitende Digitalisierung. Aus dem Internet und den sozialen Medien schöpfen Rechtsextremisten nicht nur ihre Informationen, die von sachgerechter Berichterstattung, (verzerrenden) Kommentaren und „Fake News“ bis zu kruden Verschwörungstheorien reichen, sondern sie nutzen diese Medien, um offen für ihre Ideen und Aktivitäten zu werben und um Gleichgesinnte auf sich aufmerksam zu machen und zu werben. Hierbei besteht die Gefahr, dass sich Menschen in „Echokammern“ bzw. „Filterblasen“ radikalisieren bzw. sich gegenseitig in der Radikalisierung bestärken, ohne dass sie noch einen relevanten und ihre Rezeption relativierenden Zugang zu der „Realwelt” haben.

Vor diesem Hintergrund ist es seitens des LfV unerlässlich, weiterhin in verstärktem Maß präventive Maßnahmen anzubieten und durchzuführen (siehe oben das Kapitel Öffentlichkeits- und Präventionsarbeit), aber auch die Internetbearbeitung zu intensivieren, um vor allem sich radikalisierende gewaltorientierte Gruppierungen und Einzeltäter sowie deren Kennverhältnisse und Kommunikationswege frühzeitig zu identifizieren.

Sonderauswertungsgruppe (SAW) | Umgehend nach der Festnahme des dringend Tatverdächtigen Stephan E. im Mordfall Dr. Walter Lübcke wurde im LfV eine Sonderauswertungsgruppe (SAW) gebildet, deren zentrale Aufgabe darin bestand, nachrichtendienstliche Ermittlungen hinsichtlich der Existenz möglicher rechtsextremistischer/-terroristischer Bestrebungen durchzuführen. Dabei hatte die SAW auch die Reaktionen der rechtsextremistischen Szene auf den Mord sowie auf die Inhaftierung der Tatverdächtigen im Blick.

Aufgabe der SAW war es, die Ermittlungen des zuständigen Generalbundesanwalts am Bundesgerichtshof bestmöglich zu unterstützen. Hierfür stand das LfV im stetigen und engen Austausch mit dem Generalbundesanwalt. In diesem Kontext wurden die im LfV vorhandenen Erkenntnisse zu den Tatverdächtigen dem Generalbundesanwalt vollumfänglich übermittelt. Darüber hinaus fungierte die SAW im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts als Informationsschnittstelle zwischen der hessischen Polizei und dem Verfassungsschutzverbund. Am 29. April 2020 erhob der Generalbundesanwalt beim Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main Anklage gegen die Tatverdächtigen. Der Prozess wurde am 16. Juni 2020 eröffnet.

Bearbeitung integrierter bzw. abgekühlter Rechtsextremisten (BIAREX) | In Anbetracht der Erkenntnisse im Mordfall Dr. Lübcke wurde am 23. Juli 2019 in der Abteilung 2 des LfV (Rechtsextremismus/-terrorismus) die Organisationseinheit BIAREX geschaffen. Sie unterzieht sogenannte abgekühlte Rechtsextremisten, die in der Vergangenheit zwar einschlägig rechtsextremistisch in Erscheinung getreten sind, in der Gegenwart aber – womöglich bereits seit vielen Jahren – eine unauffällige Biographie aufweisen, sukzessive einer wiederkehrenden Prüfung. Dabei wird insbesondere überprüft, ob die unterstellte Loslösung von der rechtsextremistischen Szene plausibel ist. Durch die fokussierte Analyse von Einzelpersonen sollen außerdem Radikalisierungsprozesse und hieraus entstehende Gefährdungspotenziale frühzeitig erkannt werden, sodass Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können.

Der Anspruch von BIAREX ist, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse der angewandten Kriminologie sowie der Gewalt- und Extremismusforschung ein eigenes Analyseschema zu entwickeln. Es soll sowohl individuelle Gefährdungseinschätzungen als auch Szenarien ermöglichen, um prognostisch zu analysieren, unter welchen Bedingungen sich das von einem Rechtsextremisten ausgehende Gefährdungsrisiko erhöht oder verringert. Neben der Erarbeitung extremismusspezifischer Analysekriterien bereitet BIAREX vor allem die vorhandenen Erkenntnisse über eine Person auf, um ein möglichst umfassendes Bild über relevante Lebensbereiche, insbesondere auch der Gewaltorientierung, zu erhalten. Von besonderem Interesse ist dabei, einen Eindruck vom individuellen Verhalten einer Person zu gewinnen. Die Analyse verfolgt das Ziel, diejenigen Einflüsse im biographischen Längs- und Querschnitt zu identifizieren, die einen Rückschluss auf potenzielle rechtsextremistisch motivierte Verhaltensweisen zulassen. Die Erkenntnisse werden durch andere geeignete Informationen ergänzt (etwa durch staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten und Gerichtsurteile).

Darüber hinaus ist BIAREX Bestandteil einer weitreichenden datenschutzrechtlichen Sonderprüfung. Sie hat das Ziel, die beim LfV aufgrund des seit Juli 2012 bestehenden „Lösch-Moratoriums“ gesperrten Datensätze aus dem Phänomenbereich Rechtsextremismus einer kritischen Nachprüfung zu unterziehen. Dabei werden die gesperrten Datensätze in Bezug auf ein erhöhtes Gefahrenpotenzial analysiert.

Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD)/Identitäre Bewegung Hessen (IBH) | Wie im Jahr 2018 gingen die Aktivitäten der IBH zurück, im Berichtsjahr reduzierte sich nunmehr aber auch die Anzahl der Mitglieder der IBH von 80 auf 60. Beide Entwicklungen resultierten unter anderem aus der vermehrt negativen öffentlichen Berichterstattung über die Identitäre Bewegung im Zusammenhang mit den Anschlägen in Christchurch (Neuseeland), wobei sich die IBD sogar mit Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert sah. Ihr „modernes“ und „intellektuell“ anmutendes Auftreten versuchte die IBD/IBH gleichwohl beizubehalten, wobei die Asyl- und Migrationspolitik nach wie vor in ihrem Agitationsmittelpunkt stand. So fragte die IBH am Hauptbahnhof in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) die Passanten mittels Werbetafeln „Fühlst du dich wirklich sicher?“ und warnte am Frankfurter Hauptbahnhof vor angeblich „multikulturellen Bahnsteigen“. Dort hatte kurz zuvor ein Staatsbürger aus Eritrea ein Kind vor einen einfahrenden Zug gestoßen. Über ihre Aktionen veröffentlichte die IBH Berichte mit Fotos auf ihrer Homepage, ihrem Twitter-Profil oder ihrem Telegram-Kanal.

Der Flügel – Junge Alternative (JA) | Am 15. Januar 2019 erklärte das BfV, dass es den Flügel und die JA als Teilorganisationen der AfD als Verdachtsfälle bewertet und systematisch beobachtet. (Die Gesamtpartei AfD wird bislang nicht als rechtsextremistisch bewertet und somit auch nicht beobachtet.) Die Bearbeitung einer Gruppierung als Verdachtsfall seitens des BfV entspricht der Bearbeitung einer Gruppierung als Beobachtungsobjekt durch das LfV. Das LfV schloss sich gemäß der Zusammenarbeitsrichtlinie des Verfassungsschutzverbundes am 31. Januar 2019 der Beobachtung des Flügels und der JA an.

Aufgrund seiner in Hessen nur gering ausgeprägten Strukturen und seiner fehlenden Präsenzen in den sozialen Medien war der Flügel in seiner Außenwirkung stark begrenzt. Veranstaltungen, die explizit dem Flügel zuzurechnen waren, wurden im Berichtszeitraum nicht festgestellt. Jedoch beteiligten sich Anhänger des Flügels an entsprechenden überregionalen Veranstaltungen oder nahmen an Veranstaltungen der JA Hessen teil. Der Flügel vertrat rassistische und völkische Positionen, um diese im parlamentarischen Diskurs mehrheitsfähig zu machen. Dazu sollte der steuernde Einfluss des Flügels auf die Gesamtpartei AfD ausgebaut und entsprechend genutzt werden.

Strukturen der JA waren in Hessen ebenfalls kaum vorhanden, einzelne Aktivisten beteiligten sich allerdings an Veranstaltungen des Flügels wie etwa dem sogenannten Kyffhäusertreffen. Ähnlich wie die IBD/IBH bemühte die JA das rechtsextremistische Narrativ vom „großen Austausch“ und sprach in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund von einer „herangezüchteten neuen Mehrheitsbevölkerung“. Dieser lastete die JA eine „um sich greifende Eroberer-Mentalität“, die „gesundheitliche Gefährdung unserer Kinder“ sowie eine Steigerung von Infektionskrankheiten an.

Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) | Die NPD zog im Berichtsjahr vor allem mit zwei Ereignissen Aufmerksamkeit auf sich: Im Anschluss an ihre Jahresauftaktveranstaltung in Büdingen (Wetteraukreis) unter dem Motto „Festung Europa – Schutzzone Deutschland“ fand in der Willi-Zinnkann-Halle eine Musikveranstaltung mit szenebekannten rechtsextremistischen Bands statt. Nachdem Versuche der Stadt Büdingen gerichtlich gescheitert waren, die Vermietung der Stadthalle an die NPD rückgängig zu machen, beschloss die Stadtverordnetenversammlung, die Örtlichkeit grundsätzlich nicht mehr für Veranstaltungen politischer Parteien zur Verfügung zu stellen.

Anfang September wurde der stellvertretende Vorsitzende des NPD-Landesverbands Hessen, Stefan Jagsch, in Altenstadt (Ortsteil Waldsiedlung, Wetteraukreis) mit den Stimmen der nichtextremistischen Ortsbeiratsmitglieder zum Ortsvorsteher gewählt. Als die Medien bundesweit und international hierüber berichten und sich eine – auch politische – Debatte über die Gründe für diese Wahl entspann, wurde Jagsch vom Ortsbeirat abgewählt und eine neue Ortsvorsteherin einer demokratischen Partei gewählt. Trotz dieser „Korrektur“ verdeutlicht die Wahl Jagschs, dass Nichtextremisten verschiedener politischer Couleur sich nicht scheuten, einen Rechtsextremisten in ein politisches Amt zu wählen und hierfür „gewichtige“ Gründe hatten; andererseits war es einem Rechtsextremisten offensichtlich gelungen, Nichtextremisten für sich einzunehmen.

Bei der Europawahl verlor die NPD in Hessen 9.025 Stimmen und erreichte einen Stimmenanteil von 0,2% (= 4.844 Stimmen). Dieses Wahlergebnis in Hessen sollte jedoch über die Schwere des „Tabubruchs“ in Altenstadt nicht hinwegtäuschen, zumal die Partei versuchte, sich zusammen mit ihrer Jugendorganisation Junge Nationalisten (JN) in der Öffentlichkeit als „Kümmererin“ (Kampagne „Schafft Schutzzonen!“) zu profilieren. Parteiintern erfuhr die NPD Hessen Aufwertung, da es ihr bei dem Bundesparteitag gelang, mit Daniel Lachmann und Ingo Helge nunmehr zwei Personen in den Bundesvorstand zu entsenden.

Der Dritte Weg/Der III. Weg | Einen Agitationsschwerpunkt der neonazistischen Partei bildeten wie in der Vergangenheit die Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie der Geschichtsrevisionismus. So forderte der Dritte Weg einen „zentralen Gedenktag“ für die Opfer der alliierten Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs und führte in Fulda (Landkreis Fulda) und in Darmstadt entsprechende „Gedenkveranstaltungen“ durch. Auch versuchte die Partei, die bundesweit bei der Europawahl lediglich 12.756 Stimmen (= 0,0%) gewann, das gesamtgesellschaftlich virulente Thema „Umwelt- und Klimaschutz“ für sich zu nutzen, indem sie es in die Parole „Umweltschutz ist Heimatschutz“ ummünzte. In diesen Kontext bezog der Dritte Weg den „Bauernstand als Ernährer unseres Volkes“ ein und forderte „Schutz der Natur und Umwelt als Lebensraum unseres Volkes“ sowie „Achtung dem Tier als Ausdruck unserer Volksseele“.

Flüchtlinge im Visier von Rechtsextremisten | Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten (40) im Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik nahm gegenüber dem Vorjahr (2018: 38) leicht zu. Dabei erhöhte sich die Zahl der gegen Asylbewerber/Flüchtlinge gerichteten Straftaten um zehn Delikte (2018: 26). Besonders schwer wog hierbei die versuchte Tötung eines Migranten aus Eritrea in Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis). Im Unterschied zum Vorjahr kam es zu keinen gegen Hilfsorganisationen und Helfer gerichteten Straftaten. Da nur eine Straftat in den Gesamtbereich der Politisch Motivierten Kriminalität fiel (41, davon 40 – siehe oben – rechtsextremistisch motiviert), bleibt die Einschätzung des Vorjahres bestehen, dass Fremdenfeindlichkeit ein unabdingbarer Bestandteil des Rechtsextremismus ist, aber auch in Teilen der nichtextremistischen Bevölkerung vorhanden ist, wenn etwa (in der Wahrnehmung der Täter) die sozialökonomischen und politischen Verhältnisse massiven Änderungen unterworfen sind.

Reichsbürger und Selbstverwalter

Angebliches Fortbestehen eines Deutschen Reichs – Fantasiestaaten | Mit etwa 1.000 Personen, unter denen sich rund 150 Rechtsextremisten befanden, blieb das Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter in den letzten drei Berichtsjahren konstant. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen eines historischen Deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Insgesamt erkennen Reichsbürger und Selbstverwalter die Bundesrepublik nicht als Staat an. Sie verstehen sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, geltendes Recht nicht anzuwenden. Diese Verweigerungshaltung kommt durch entsprechende verbale Äußerungen gegenüber Polizisten und anderen Behördenmitarbeitern zum Ausdruck; außerdem leisten Reichsbürger und Selbstverwalter mitunter Widerstand gegen gerichtlich angeordnete Zwangsvollstreckungen oder die Rückgabe von amtlichen Identitätsnachweisen. Das Gros der Szene wendet sich jedoch mit schriftlichen Eingaben an Behörden und deren Mitarbeiter, um etwa die eigene Weltsicht – oft in pseudojuristischer Sprache und Argumentation – als die einzig richtige kundzutun.

Das Internet dient Reichsbürgern und Selbstverwaltern als bevorzugtes Medium zur Verbreitung ihrer Weltanschauung sowie zu ihrer Kommunikation und Vernetzung. Mittels Webseiten, YouTube-Kanälen oder Präsenzen auf Social-Media-Plattformen prangert die Szene angebliche Missstände an und diskutiert bzw. verbreitet vermeintliche Lösungs- und Argumentationshilfen.

Affinität zu Waffen – Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse | Da der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene eine hohe Waffenaffinität zu eigen ist, gilt für sie seitens der hessischen Behörden in Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz – wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche – eine Nulltoleranzstrategie. Zahlreichen Reichsbürgern und Selbstverwaltern wurden bislang die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und Schusswaffen sichergestellt. Zum Ende des Berichtsjahrs lag die Anzahl entsprechender personenbezogener waffenrechtlicher Erlaubnisse im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich.

Linksextremismus

Personenpotenzial | Das Personenpotenzial im Phänomenbereich Linksextremismus erhöhte sich im Berichtszeitraum gegenüber dem Vorjahr geringfügig um etwa 30 Personen, wobei der Zulauf aus dem autonomen und anarchistischen Bereich kam. Unverändert bildete Frankfurt am Main sowohl personell als auch strukturell den Schwerpunkt der autonomen Szene in Hessen, allerdings zeigte sich mit den autonomen Protesten gegen die Schließung der Kneipe Havanna 8 in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), dass die Szene auch dort fest verankert war.

Szenebeherrschende Themen | Vor allem im Kontext des Mordes an Dr. Walter Lübcke rückte die autonome Szene das Thema „Antifaschismus“ in ihren Fokus, um auf den „fortschreitenden Rechtsruck“ der Gesellschaft aufmerksam zu machen und sich mit den Opfern „rechter“ Gewalt zu solidarisieren. Entsprechende Veranstaltungen fanden vor allem in Frankfurt am Main und in Kassel statt. Einen Grund für den „Rechtsruck“ sahen Autonome in „extrem rechten Burschenschaften“ als „Rückgrat der ,Neuen Rechten‘“ in deren Funktion als „Bindeglied zwischen verschiedenen extrem rechten Organisationen“. Darüber hinaus glaubte die Gruppe kritik&praxis – radikale Linke [f]frankfurt eine „Tendenz der antidemokratischen Verselbständigung“ bei den Sicherheitsbehörden zu erkennen. Als Ursache hierfür machte die autonome Gruppierung insgesamt den „Kapitalismus“ aus.

Ebenso bildete der „Kapitalismus“ für Autonome bzw. Linksextremisten den Dreh- und Angelpunkt, um verstärkt Einfluss auf die Klima- und Umweltbewegung zu nehmen. Die entsprechende und im Rahmen von Veranstaltungen (vor allem Demonstrationen) verwendete Parole lautete „system change not climate change“, wobei eine linksextremistische Jugendorganisation erklärte, dass die „Kritik am kapitalistischen System“ zwingend zu einer „kämpferischen Umweltbewegung“ gehöre. Offensichtlich versuchten Linksextremisten, die Klima- und Umweltbewegung in ihrem Kampf gegen den „Kapitalismus“ und damit gegen die gesamte gesellschaftliche und staatliche Ordnung zu instrumentalisieren. Ziel war die „Überwindung von Kapital, Staat und Patriarchat als den dominanten Herrschaftsformen“. Versuche der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) und ihres Jugendverbands REBELL, im Rahmen von Schülerprotesten Einfluss auf die Klima- und Umweltbewegung zu nehmen, stießen dagegen meistens auf Ablehnung.

Vor dem Hintergrund der militärischen Operationen der türkischen Armee in von Kurden besiedelten Gebieten in Syrien („Rojava“) solidarisierten sich deutsche Linksextremisten mit Anhängern der Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans). Dies ging so weit, dass die Solidarität mit „Kurdistan“ bzw. „Rojava“ mit klima- und umweltpolitischen Zielen verknüpft wurde. So hieß es auf einer von Linksextremisten genutzten Internetseite, dass es sowohl die Kampagne „Make Rojava Green Again“ als auch eine Fridays-for-Future-Ortsgruppe in „Rojava“ gebe. Dort finde ein gesellschaftlicher Wandel statt, der als Vorbild zu befürworten sei: „Auch wir stehen für einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch und sehen dies als Lösung der Klimakrise. ,Make Rojava green again‘“.

Straf- und Gewalttaten | Unter anderem im Rahmen dieser miteinander verzahnten Themen kam es zu einer Erhöhung der linksextremistischen Straf- und Gewalttaten (vorrangig im Bereich der Sachbeschädigungen und Propagandadelikte) um etwa 35 Prozent von 48 auf 65 Delikte. Allerdings war die im Berichtsjahr aktuelle Zahl weit entfernt von dem Spitzenpunkt innerhalb des zurückliegenden Fünf-Jahreszeitraums im Jahr 2015 (278). Dass nach fünf Jahren eines kontinuierlichen Rückgangs der linksextremistischen Straf- und Gewalttaten diese im Jahr 2019 in Hessen um mehr als ein Drittel stiegen, muss sorgfältig beobachtet werden; die Zahl der Gewalttaten sank von 13 (2018) auf fünf (innerhalb des Fünf-Jahreszeitraums 2015 bis 2019 lag sie zusammen mit der Zahl für das Jahr 2017 auf dem niedrigsten Niveau).

In einigen autonomen Brennpunkten außerhalb Hessens nahmen die Angriffe auf „systemrelevante“ Personen zu, was offenbar Ausdruck eines teilweisen Radikalisierungsprozesses unter Autonomen war. In Hessen zeichnete sich eine solche Entwicklung im Berichtsjahr nicht ab, es ist jedoch denkbar, dass diese infolge der Polarisierung zwischen Links- und Rechtsextremisten, aber auch der gesellschaftlichen Polarisierung insgesamt, eine andere Richtung nimmt. Freilich verfügte die autonome Szene in Hessen, trotz der Schließung einer Szenekneipe in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), insbesondere in Frankfurt am Main über feste Anlaufpunkte, die sie wegen mit einer Radikalisierung verbundenen „Repressalien“ nicht aufs Spiel setzen will.

Deutsche Kommunistische Partei (DKP) | Bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai verlor die DKP sowohl bundes- als auch hessenweit Stimmen, was in Anbetracht von insgesamt 20.396 Stimmen (= 0,1%) innerparteiliche Kritik am Wahlprogramm nach sich zog. So kritisierte die DKP Gießen – auch mit Blick auf den damals vorzubereitenden 23. Parteitag 2020 – dass es zu viele „reformistische Illusionen“ und zu wenige revolutionäre „kommunistische Grundsätze“ in der Partei gebe. Leitlinien für eine eigene Klima- und Umweltpolitik wollte die DKP nach ihrem Parteitag entwickeln.

Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) | Die eng mit der DKP verbundene SDAJ versuchte ihre Ziele vor allem mittels der Zusammenarbeit mit extremistischen und nichtextremistischen Organisationen zu verwirklichen, um hierdurch eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Hierzu thematisierte die SDAJ vor allem den „Antikapitalismus“ und den „Antimilitarismus“ und bemühte sich mittels Flugblattverteilungen an einigen Schulen in Hessen vor allem Jugendliche für ihre Ziele zu interessieren. Ebenso wie die autonome Szene thematisierte die SDAJ die „Kurdistan-Solidarität“ und die Notwendigkeit des Klima- und Umweltschutzes. Insgesamt lautete das Motto der SDAJ: „Es ist Zeit für Widerstand, es ist Zeit, dass wir uns wehren!“

Rote Hilfe e. V. (RH) | Die RH beschäftigte sich vor allem mit „Polizeigesetzverschärfungen“, die sie als „drohende Gefahr“ darstellte und dies in einem in Kassel vorgeführten Film über die G20-Proteste in Hamburg im Jahr 2017 zu beweisen versuchte. Eine entsprechende Veranstaltung fand auch in Frankfurt am Main statt, wobei ein Redner trotz des angeblichen „Eskalationskurses der Polizeiführung“ kritische Worte für die „militanten Auseinandersetzungen“ in Hamburg fand: Es gebe keinen Grund, „Geschäfte, über denen Menschen wohnen, anzuzünden“.

Islamismus

Jihadistischer und politischer Salafismus | Im Berichtsjahr kam es in Hessen zu einer Reihe von Festnahmen und Verurteilungen im Bereich des jihadistischen Salafismus, wobei die entsprechenden Personen grundsätzlich in Anschlagsplanungen involviert und/oder aktives Mitglied in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gewesen waren. In seinen „Stammterritorien“ (Syrien und Irak) büßte der terroristische sogenannte Islamische Staat (IS) seine letzten ihm verbliebenen Gebiete ein, sodass seine Anhänger dort zunehmend Strukturen im Untergrund schufen.

Gingen vor diesem Hintergrund zwar die jihadistisch motivierten Anschläge in Europa im Vergleich zu den früheren Berichtsjahren deutlich zurück, so war die Gefahr eines Terroranschlags aber nach wie vor unvermindert hoch. Trotz der erfolgreichen Militäroperationen der Anti-IS-Allianz – im Oktober 2019 töteten amerikanische Einheiten den IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi – gelang es der Terrororganisation, in den sozialen Medien jihadistische Propaganda und Anleitungen zum Begehen von Anschlägen zu verbreiten. So ist nach wie vor mit Anschlägen von Einzelakteuren zu rechnen, die sich durch die virulente jihadistische Propaganda zu Attentaten aufgerufen glauben.

Im Bereich des politischen Salafismus gingen die in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Aktivitäten stark zurück. Allerdings blieb das salafistische Personenpotenzial in Hessen im Vergleich zu den letzten Berichtsjahren konstant (1.650 Personen). Auch das islamistische Personenpotenzial insgesamt verharrte auf dem – im Vergleich zu anderen Extremismusbereichen – hohen Niveau von 4.170 Personen.

Straf- und Gewalttaten | Nachdem im vergangenen Berichtsjahr die Anzahl der Straftaten mit einem Minus von 73 Prozent deutlich auf 27 Delikte zurückgegangen war, stieg die Zahl nunmehr wieder auf 36 an. Wie in den Jahren zuvor gab es in Hessen 2019 lediglich eine islamistisch motivierte Gewalttat.

Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Befreiung) – Realität Islam (RI) | Die der HuT zuzurechnende Gruppierung RI führte in ihren Räumen in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) Themenabende durch, um Interessierte kennenzulernen („Sorgen und Anliegen aus erster Hand“ erfahren) und für sich zu gewinnen. In Flugblattaktionen thematisierte RI unter anderem die gezielt gegen Muslime gerichteten Anschläge in Neuseeland und Norwegen und beklagte in diesem Zusammenhang die angeblich „totalitäre Integrationspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte, welche die weltanschauliche Unterschiedlichkeit der Muslime als vermeintliches Problem identifiziert“ habe. Alles sei darauf ausgerichtet, so RI, die „islamische Identität“ zu zerstören und den Druck auf die Muslime in Deutschland zu erhöhen.

Gleichzeitig empfahl RI muslimischen Eltern in Hessen, der Teilnahme ihrer Kinder am schulischen Islamunterricht eine Absage zu erteilen, da dieser „staatliche Islamunterricht den Anstrich eines reinen Staatsislams, eines Wunschislams der Behörden“ habe.

Muslimbruderschaft (MB) | In Hessen führten Angehörige der MB ihre legalistische, dialogorientierte Unterwanderungsstrategie konsequent fort. Sie suchten Kontakt zu Repräsentanten des politischen Lebens sowie zu anderen Religionsgemeinschaften, denen sie sich als Dialogpartner anboten. Auf diese Weise bemühten sich Anhänger der MB und ihr nahestehende Organisationen, ihre Ideologie gesellschaftsfähig zu machen und ihr breite Akzeptanz zu verschaffen. Da die MB nicht unter ihrem Namen auftrat, sondern aus einem weitverzweigten Netzwerk von Organisationen und Vereinen heraus operierte, fiel es ihr oft leicht, als unbefangene Partnerin von Politik und Zivilgesellschaft aufzutreten.

Nachdem die der MB nahestehende Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) ihre Umbenennung in Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) Ende 2018 formal beendet hatte, beschloss der Verein, seinen Sitz von Köln (Nordrhein-Westfalen) nach Berlin zu verlegen. Offenkundig bemühte sich die DMG um ein neues Image, das durch Medienberichterstattung über Verbindungen der IGD zur MB Schaden erlitten hatte. So forderte auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) die DMG auf, ihre Mitgliedschaft im ZMD ruhen zu lassen.

Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) | Auch acht Jahre nach dem Tod Necmettin Erbakans nahmen die Erinnerung und die Würdigung seines Lebens und Wirkens großen Raum in der Millî-Görüş-Bewegung ein. Nach wie vor wurde Erbakan als geistiger Führer und Gründer der Bewegung verehrt. Regelmäßig hielten sich außerhessische bzw. türkische Funktionäre bei dem Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. (SP Hessen) auf, was auf dessen nach wie vor hohen Stellenwert in der Bewegung hindeutet. Außerdem stiegen Vertreter der SP Hessen auf die Funktionärsebene der europäischen SP auf. Insgesamt erweiterte die SP Hessen ihr Informationsangebot und zielte damit vereinzelt auch auf die Öffentlichkeit ab. Das in die Türkei ausgewiesene Oberhaupt der Ismail Aĝa Cemaati (IAC) kehrte weiterhin nicht nach Deutschland zurück.

Extremismus mit Auslandsbezug

Personenpotenzial | Dass das Personenpotenzial im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug um mehr als hundert Personen abnahm, resultierte vor allem aus der Einstellung der Beobachtung der in der Vergangenheit auf Sri Lanka kämpfenden LTTE durch den Verfassungsschutz. Die LTTE hatten auch in Deutschland über eine große Anhängerschaft verfügt. Darüber hinaus sind seit mehreren Jahren die legalistischen Strukturen bei Gruppierungen kurdischen und türkischen Ursprungs relativ stabil, sodass das Personen- potenzial im türkischen Bereich kaum merklich abnahm.

Partiya Karkerên Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) | Die Anhänger der PKK sahen sich im Berichtsjahr mit einer komplexen Lage konfrontiert: Aufgrund der türkischen Militäroperation „Quelle des Friedens“ geriet das kurdische Siedlungsgebiet in Nordsyrien („Rojava“) unter massiven Druck, während die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) ihre Zusammenarbeit mit der syrischen Schwesterpartei der PKK immer wieder in Frage stellten. Darüber hinaus bestand für die PKK-Anhänger erneut Unklarheit in Bezug auf den Gesundheitszustand des in der Türkei inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan. Unter anderem vor diesem Hintergrund versuchten PKK-Anhänger in Deutschland die öffentliche Wahrnehmung bzw. die staatliche Einstufung der PKK als Terrororganisation in eine Anerkennung als militärisch und politisch verfolgte Freiheitsbewegung umzumünzen. Entsprechende Demonstrationen verliefen im Unterschied zum Jahr 2018 weitestgehend friedlich. Dabei kam es insbesondere mit Unterstützung deutscher Linksextremisten, die vereinzelt Gewalttaten begingen, zu zahlreichen Demonstrationen.

Bemerkenswert war, dass deutsche Linksextremisten – wie bereits oben thematisiert – „Rojava“ als Modell der „antikapitalistischen Kräfte der Fridays-for-Future-Bewegung“ inszenierten und hiermit einen weiten Bogen von der linksextremistischen Szene über die Klima- und Umweltbewegung bis zur PKK zu spannen versuchten. Dies diente offensichtlich dem Zweck, einen breiten und gesellschaftlich anschlussfähigen Konsens herzustellen.

Straf- und Gewalttaten | Die Anzahl der Delikte im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug ging gegenüber 2018 (84) um 13 Prozent auf 73 im Berichtsjahr zurück, wobei sich die Zahl der Gewalttaten um ein Drittel von zwölf auf vier verringerte. Was sich im vergangenen Berichtsjahr 2018 als eine tendenziell bedenkliche Entwicklung im Bereich der Gewalttaten angekündigt hatte – Zunahme von einem Delikt (2017) auf zwölf Taten –, bewahrheitete sich 2019 nicht. Die große Anzahl von Demonstrationen und das damit verbundene Ziel, Unterstützung für die „kurdische Sache“ zu erhalten, wirkte sich nicht nachteilig auf die Zahl der Gewalttaten im Bereich Extremismus mit Auslandsbezug aus.

Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) | Nachdem die Polizei in der Türkei zwei Mitglieder der Musikgruppe Grup Yorum, die der DHKP-C nahesteht, festgenommen hatte, traten diese – ebenso wie bereits andere Angehörige des Musikerkollektivs – in einen unbefristeten Hungerstreik. Vor diesem Hintergrund kam es bundesweit und in Hessen zu Solidaritätsveranstaltungen. Ein im Juni unter anderem mit Grup Yorum in Frankfurt am Main geplantes Konzert sagten die Veranstalter ab, da sie in einem anderen Bundesland einen Veranstaltungsort gefunden hatten. Einzelne Personen spielten lediglich im September auf einem Grillplatz in Roßdorf (Landkreis Darmstadt-Dieburg) Lieder von Grup Yorum. Insgesamt hatte die Musik von Grup Yorum nach wie vor eine identitätsstiftende Funktion für die DHKP-C-Anhänger.

Organisierte Kriminalität (OK)

Mögliche Einflussnahmen | Das LfV beobachtet weiterhin Versuche von OK-Gruppen, die möglicherweise darauf ausgerichtet sind, Einfluss auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien und Wirtschaft zu erlangen. Die vom LfV überwiegend mit nachrichtendienstlichen Mitteln und im Rahmen der Zusammenarbeit mit anderen Verfassungsschutzbehörden sowie ausländischen Nachrichtendiensten gesammelten Erkenntnisse eignen sich jedoch selten für eine öffentliche Darstellung.

Schwerpunkte | Im Bereich der Rockerkriminalität lag der Schwerpunkt der Beobachtung seitens des LfV auf dem Rhein-Main-Gebiet, was ebenso für die russische und italienische OK galt.

Spionage- und Cyberabwehr

Ausspähung – Cyberangriffe – Proliferation | Wie in den letzten Jahren versuchten ausländische Nachrichtendienste vor allem die Bereiche Politik, Wirtschaft, Militär und Forschung auszuspähen. Dies betraf unverändert auch in Deutschland ansässige Organisationen und Menschen, die im Herkunftsland politisch verfolgt und ausgespäht wurden.

Nach wie vor kam es zu Cyberangriffen auf Unternehmen mit mutmaßlich chinesischem, iranischem und russischen Hintergrund, wobei die Aktivitäten mit vermutlich staatlicher chinesischer Urheberschaft zunahmen. Hierbei stand vor allem Frankfurt am Main mit etlichen in der Finanzwelt relevanten Institutionen im Fokus.

Ein besonderes Augenmerk legte das LfV nach wie vor auf vom Iran sowie von Nordkorea, Pakistan und Syrien ausgehende Proliferationsversuche, das heißt die Weiterverbreitung bzw. Weitergabe von Massenvernichtungswaffen.

Versuch der Einflussnahme | Ein weiteres Ziel ausländischer Nachrichtendienste bestand in dem Versuch, Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland zu nehmen. Vor diesem Hintergrund beobachtete das LfV Desinformationskampagnen im Vorfeld der Europawahl und informierte die zuständigen Stellen hierüber.

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