Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2019

Reichsbürger und Selbstverwalter

Reichsbürger und Selbstverwalter

Unter der Bezeichnung Reichsbürger und Selbstverwalter fasst der Verfassungsschutz Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch gewählten Repräsentanten nicht anerkennen und ihnen die Legitimation absprechen. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen eines historischen Deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Insgesamt erkennen Reichsbürger und Selbstverwalter die Bundesrepublik nicht als Staat an. Sie verstehen sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, geltendes Recht nicht anzuwenden.

Darüber hinaus können sich Bestrebungen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern auch gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. Wenn solche Aktivitäten mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, steht dies nicht mit dem Gedanken der Völkerverständigung in Einklang. Insgesamt sind Reichsbürger und Selbstverwalter in hohem Maße bereit, gegen Gesetze zu verstoßen. Um die eigene Weltanschauung zu verbreiten, sich auszutauschen und sich in Einzelfällen auch zu vernetzen, ist das Internet das vornehmliche Medium der Reichsbürger und Selbstverwalter. Mittels Webseiten, YouTube-Kanälen oder Präsenzen auf Social-Media-Plattformen prangert die Szene angebliche Missstände sowie deren angebliche Verursacher an sowie verbreitet, teilt und diskutiert vermeintliche Lösungs- und Argumentationshilfen. Auch außerhalb des virtuellen Raumes versucht die Szene ihre Ideologie in die Öffentlichkeit zu tragen und hier Stellung zu einzelnen Sachverhalten zu beziehen, etwa durch Demonstrationen, Kundgebungen oder Rundschreiben. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachten die Reichsbürger und Selbstverwalter seit dem 22. November 2016 in Gänze.

Angehörige: In Hessen etwa 1.000, bundesweit etwa 19.000
Medien: Internetpräsenzen
Auf einen Blick
  • Heterogene Szene
  • Rechtsextremistische Positionen innerhalb der Szene
  • Personenpotenzial
  • Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse
  • Widerstand gegen Staat und Verwaltung
  • „Malta-Masche“
  • Deliktfelder
  • Gefährdungsbewertung

Heterogene Szene | Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter weist einen hohen Grad an Heterogenität auf, die sich sowohl in einer Vielzahl an Gruppierungen und Einzelpersonen als auch in einem breiten Spektrum an Weltanschauungen widerspiegelt. So umfasst die Szene Verschwörungstheoretiker, ideologisierte Rechtsextremisten, Leichtgläubige sowie finanziell Gescheiterte.

Verschwörungstheoretiker sind davon überzeugt, dass die Bundesrepublik Deutschland kein souveräner Staat, sondern lediglich eine fremdbestimmte Kolonie respektive ein kommerziell ausgerichtetes Wirtschaftsunternehmen sei. Kontrolliert würden diese Gebilde von den Alliierten, Einzelpersonen oder Geheimlogen. Neben verschwörungstheoretischen Positionen finden sich auch geschichtsrevisionistische, fremdenfeindliche, rassistische, antisemitische sowie fundamentalistisch-christliche und esoterische Positionen wieder. Personen, die durch den Vertrieb von Fantasiedokumenten oder durch das Anbieten von Rechtsberatungen, Seminaren und Schulungen versuchen, aus der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter finanziellen Profit zu schlagen, werden innerhalb des Phänomenbereichs den sogenannten Milieumanagern zugerechnet.

Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansichten und Beweggründe ist die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter als strukturarm zu bezeichnen. Zwar gab es vereinzelt Sympathiebekundungen für überregional aktive Szenegruppierungen, allerdings keine innerhalb der Szene allgemein anerkannten Strukturen oder Organisationen. Auch regional ließen sich in Hessen keine Schwerpunkte feststellen.

Rechtsextremistische Positionen innerhalb der Szene | In der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter wird sichtbar, wie verschiedene Versatzstücke einzelner Verschwörungstheorien für die eigene Weltsicht herangezogen und nutzbar gemacht werden. Zwar ist die Szene ihrem Wesen nach nicht originär rechtsextremistisch, dort, wo jedoch antisemitische, rassistische und nationalistische Argumentationsmuster aufeinandertreffen, sind die Anhänger entsprechender Positionen als rechtsextremistisch zu bewerten. Für Hessen ist eine untere dreistellige Anzahl an Personen bekannt, die sowohl als Reichsbürger als auch als Rechtsextremisten eingestuft werden.

Personenpotenzial | Das mit Stand zum 31. Dezember 2019 den Sicherheitsbehörden bekannte Personenpotenzial von rund 1.000 Reichsbürgern und Selbstverwaltern in Hessen unterschied sich von dem anderer extremistischer Phänomenbereiche auch durch seine Zusammensetzung. Waren andere Extremisten häufig junge Erwachsene oder befanden sie sich im Übergang zum Erwachsenenalter, lag das Durchschnittsalter bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern zwischen 45 und 60 Jahren. Knapp 75 Prozent der Szeneangehörigen waren männlich. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wies die Szene zudem einen unterdurchschnittlichen Anteil an Akademikern auf.

Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse | Der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter ist eine hohe Waffenaffinität zu eigen. In Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz gilt für Reichsbürger und Selbstverwalter – wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche – eine Nulltoleranzstrategie der hessischen Sicherheitsbehörden. So wurden durch die enge Zusammenarbeit der hessischen Sicherheits- und Waffenbehörden zahlreichen Reichsbürgern und Selbstverwaltern die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und deren Schusswaffen sichergestellt. Zum Ende des Berichtsjahrs 2019 lag die Anzahl der Personen, die dem Spektrum der Reichsbürger und Selbstverwalter zugerechnet wurden und über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügten, im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich.

Auch in Zukunft ist es das ausgewiesene Ziel der Hessischen Landesregierung und der Sicherheitsbehörden in Hessen, dass kein ihnen bekannter Reichsbürger oder Selbstverwalter waffenrechtliche Erlaubnisse oder Legalwaffen besitzt bzw. Legalwaffen im Fall des Besitzes entzogen werden.

Widerstand gegen Staat und Verwaltung | Reichsbürger und Selbstverwalter bringen ihre Gesinnung auf unterschiedlichste Art und Weise zum Ausdruck: verbale Äußerungen gegenüber Polizisten und anderen Behördenmitarbeitern, sich einer Personenkontrolle entziehen, Widerstand gegen gerichtlich angeordnete Zwangsvollstreckungen oder etwa die Rückgabe von amtlichen Identitätsnachweisen.

Das Gros der Reichsbürger und Selbstverwalter wendet sich aber mit schriftlichen Eingaben an Behörden und deren Mitarbeiter, um die eigene Weltsicht argumentativ zu verdeutlichen, etwaige Strafen zu vermeiden und Ämter an ihrem rechtmäßigen Handeln zu hindern. Dieses Vorgehen ist auch unter dem Begriff „paper terrorism“ bekannt. Der hohe Grad der Heterogenität der Szene spiegelt sich auch in der Art und in dem Umfang solcher Eingaben wider. Während ein Teil auf Vordrucke aus dem Internet zurückgreift, verfasst ein anderer Teil der Szene mitunter umfangreiche Schriftstücke, Pamphlete oder „Rechtsgutachten“. Die folgenden Auszüge sind exemplarisch für Schreiben, mit denen sich Reichsbürger und Selbstverwalter an Behörden wenden:

„Sehr geehrte Frau …,
ich bin der Mensch … aus der Familie …, autorisierter Repräsentant …ohne Präjudize gemäß UCC – alle Rechte vorbehalten ohne Ausnahme.
Aufgrund offener ungeklärter Fragen kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Treuhandverhältnis für …, welches der Bund zurzeit inne hat nicht übernehmen.
Am oben genannten Datum hat die Person … ein Angebotsschreiben der vorgenannten Firma Amtsgericht mit D-U-N-S Nr. 341 832 633 (laut internationalem Firmenregister) zugesandt bekommen.
In dem Angebotsschreiben geht es um eine nicht schriftliche nachgewiesene sogenannte Forderung der Firma Regierungspräsidium … mit der D-U-N-S Nr. 341 832 633 (laut internationalem Firmenregister).
Ein über den von Ihnen aufgeführten Gesamtbetrag schriftlicher Leistungsbescheid mit einer detaillierten Aufstellung des geforderten Betrages der o.g. Firma liegt bis zum heutigen Tag nicht vor.
Sie drohen über ihre Firma in rechtswidriger Weise ohne hierfür legitimiert zu sein, mit mehreren Zwangsmitteln, sollte der geforderte Geldbetrag nicht innerhalb zwei Wochen auf Ihrem Firmenkonto verbucht sein.
Hierzu ist anzumerken, sollten Sie dazu legitimiert sein, dass das Drohen mit mehreren Zwangsmitteln rechtswidrig ist … .
Des Weiteren drohen Sie noch mit der Vollstreckung durch einen Gerichtsvollzieher, der seit 2012 lt. Gerichtsvollzieherverordnung nur noch privater Handelsvertreter ist und daher auch nicht legitimiert ist, die von Ihnen aufgezählten rechtswidrigen Handlungen durchzuführen“.

(Schreibweise wie im Original, Auslassungen wurden gekennzeichnet.)

Dieses Zitat verdeutlicht, dass der Verfasser das entsprechende Amtsgericht bzw. das Regierungspräsidium als Firmen und deren Schreiben als Angebote wahrnimmt, die nach eigenem Ermessen angenommen oder abgelehnt werden können. Dabei werden den Mitarbeitern der Behörden die Legitimation und die Rechtmäßigkeit ihres Handelns abgesprochen. Häufig fügen Reichsbürger und Selbstverwalter ihren Schreiben sogenannte Lebenderklärungen bei, mittels derer sich Szeneangehörige außerhalb der geltenden Rechtsordnung stehend definieren:

„Privat – Streng vertraulich! Ausserhalb des öffentlichen Protokolls!
Sehr geehrter … in der Tätigkeit als [Präsident], Sie erhalten heute als [Leiter] bzw. [Präsident] des … folgende Unterlagen zur Kenntnisnahme, Registrierung und Weiterleitung an die verantwortlichen Stellen innerhalb des Verwaltungskonstrukts Bundesrepublik Deutschland bzw. Bund:
Lebenderklärung von …: aus der Familie … .
Als einzig beitragender Begünstigter der vom Bund geschöpften/geborenen juristischen Person … (Geburtenbond) [EStA Registereintrag …] muß ich mich, … aus der Familie … alle sieben Jahre für lebend erklären, da ich ansonsten gemäß House Joint Resolution (HJR 192) als einzig beitragender Begünstigter der Person nach dem Cestui Que Vie Act von 1666 für tot erklärt werde und meine Ansprüche an diesem Geburtenbond verliere. Dies war mir bis dato vollkommen unbekannt, da den Menschen in Deutschland solche verborgenen Bestimmungen nicht bekannt gemacht werden“.

(Schreibweise wie im Original, Auslassungen wurden gekennzeichnet)

Reichsbürger und Selbstverwalter reichern ihre „Argumentationsketten“ häufig mit tatsächlich bestehenden Rechtsnormen an. Dadurch sollen ihre Schreiben eine juristische Anmutung erhalten und die Behörden beschäftigt sowie die Adressaten eingeschüchtert werden. Klassische Szeneschreiben entfalten allerdings keine Rechtsgültigkeit, da die aufgeführten Rechtsnormen zum überwiegenden Teil aus dem Zusammenhang gerissen sind und in Verbindung mit fiktiven oder mittlerweile historischen Gesetzen verwendet werden.

„Guten Tag …,
das Schreiben vom … [- Ordnungswidrigkeit am … mit dem PKW … -] ist nicht rechtsichere ausgestellt und wird wegen offenkundigen Mangel und Verstoß nicht nur gegen Artikel 23 Erster Hauptteil Ziffer II HV, Artikel 17 Abs. Erster Hauptteil 1. Abschnitt Verf RP, Artikel 77 Abs. 2 Zweiter Hauptteil I. Abschnitt VErf RP und Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, sowie Artikel 126 Satz 2 Zweiter Hauptteil Ziffer VII HV, Artikel 121 Zweiter Hauptteil V. Abschnitt Verf RP und 97 (1) GG für die Bundesrepublik Deutschland, sowie Artikel Artikel 20 Satz 1, 2 und 3 Erster Hauptteil Ziffer II HV, Artikel 6 Erster Hauptteil Ziffer 1 … vollumfänglich und unwiderruflich sowie kostenpflichtig zurückgewiesen. …
Des Weiteren haben Sie, die Grundrechtverpflichteten, sich an Artikel 46 HLKO [Schutz des Einzelnen und des Privateigentums] und Artikel 47 HLKO [Plünderungsverbot] zu halten. Das Plündern ist Ihnen ausdrücklich untersagt. Es wird hiermit offiziell und öffentlich Haus-, sowie Wohnungsbetretungs-, und darüber hinausgehende Kontaktverbot erteilt. Von weiteren die rechtsstaatliche Grundordnung der Bundes- republik Deutschland in Deutschland rechtsmissbräuchlich strafbewehrt unterwanderten Offerten wollen Sie bitte Abstand nehmen“.

(Schreibweise wie im Original, Auslassungen wurden gekennzeichnet.)

„Malta-Masche“ | Reichsbürger und Selbstverwalter versuchten mitunter, sich nicht nur dem behördlichen Zugriff zu entziehen, sondern ihrerseits Behördenmitarbeiter widerrechtlich zu belangen. Hierfür erfanden Reichsbürger und Selbstverwalter im Zuge der „Malta- Masche“ Schulden eines Behördenmitarbeiters und trugen diese in das amerikanische Online-Register Uniform Commercial Code (UCC) ein. Anschließend wurden die Forderungen an ein maltesisches Inkassounternehmen abgetreten, um einen vollstreckbaren Titel nach dem europäischen Mahnverfahren zu erreichen. Nach Ansicht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und des Auswärtigen Amts stellt dieses missbräuchliche Verfahren einen Betrugsversuch dar. Eine Durchsetzung ihrer erfundenen Forderungen gelang Szeneangehörigen bislang nicht.

Deliktfelder | Zu den szenetypischen strafrechtlich relevanten Deliktfeldern gehören insbesondere Betrug, Hausfriedensbruch, Nötigung und Sachbeschädigung, aber auch Gewaltdelikte. Da Reichsbürger und Selbstverwalter beanspruchen, Repräsentanten eines wie auch immer gearteten Deutschen Reiches bzw. einer eigenen Staatlichkeit zu sein, kommt es regelmäßig zu Amtsanmaßungen, Urheberrechtsverletzungen sowie Urkunden- und Kfz-Kennzeichenfälschungen.

Gefährdungsbewertung | Aufgrund der hohen Heterogenität der Szene der Reichbürger und Selbstverwalter ist eine pauschale Gefährdungsbewertung nur eingeschränkt möglich. Gemein ist der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter jedoch die Negierung der Bundesrepublik Deutschland. Dies führt zur generellen Ablehnung jeglicher hoheitlicher Handlungen, von denen die Szene betroffen ist. Staatliche Maßnahmen nimmt sie als illegitim wahr, weshalb sich aus ihrer Sicht ein selbstdeklariertes, vermeintliches „Recht auf Notwehr“ ergibt. Reichsbürger und Selbstverwalter sind bereit, dieses „Recht auf Notwehr“ auch gegenüber Gerichtsvollziehern oder Polizisten durchzusetzen. In diesem Kontext kommt es immer wieder zu Widerstandshandlungen, in einigen Fällen sogar zum Gebrauch von Schusswaffen. Verbunden mit der Waffenaffinität der Reichsbürger und Selbstverwalter, ist das der Szene immanente Gewaltpotenzial daher nach wie vor als hoch zu bewerten.

 

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