Glossar & Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis extremistischer
Personenzusammenschlüsse

Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2017

Reichsbürger und Selbstverwalter

Reichsbürger und Selbstverwalter

Unter der Bezeichnung Reichsbürger und Selbstverwalter fasst der Verfassungsschutz Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch gewählten Repräsentanten nicht anerkennen und ihnen die Legitimation absprechen. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen eines historischen Deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Reichsbürger und Selbstverwalter erkennen die Bundesrepublik nicht als Staat an. Sie verstehen sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, geltendes Recht nicht anzuwenden. Darüber hinaus können sich Bestrebungen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern auch gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. Wenn solche Aktivitäten mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, steht dies nicht mit dem Gedanken der Völkerverständigung in Einklang. Insgesamt sind Reichsbürger und Selbstverwalter in hohem Maße bereit, gegen Gesetze zu verstoßen. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachten die Reichsbürger und Selbstverwalter seit dem 22. November 2016 in Gänze.

Angehörige: In Hessen etwa 1.000, bundesweit etwa 16.500
Medien: Internetpräsenzen

Heterogene Szene | Das Spektrum der Reichsbürger und Selbstverwalter besteht aus einer Vielzahl verschiedener Gruppierungen und Einzelpersonen. Die Szene ist vielschichtig, unübersichtlich und umfasst Verschwörungstheoretiker und Rechtsextremisten ebenso wie Leichtgläubige und finanziell Gescheiterte.

Verschwörungstheoretiker glauben, dass die Bundesrepublik Deutschland eine fremdbestimmte Kolonie sei, die zum Beispiel von den Alliierten oder Geheimlogen kontrolliert wird. Bei Rechtsextremisten dagegen steht die Behauptung im Mittelpunkt, das Deutsche Kaiserreich oder die nationalsozialistische Regierung würden fortexistieren. Damit einher geht bei Rechtsextremisten eine völkische Abstammungslehre. Demnach sei nur deutsch, wer über mindestens drei Generationen einen „rein deutschen“ Stammbaum vorweise.

Aufgrund der unterschiedlichen Ansichten und Überzeugungen gibt es innerhalb der Szene keine allgemein anerkannten Strukturen oder Organisationen. Typisch für das Milieu ist daher eine Zersplitterung der Szene. Einzig in der fundamentalen Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesetze und Repräsentanten besteht Einigkeit.

Personenpotenzial | Das mit Stand 31. Dezember 2017 den Sicherheitsbehörden bekannte Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter unterscheidet sich von dem anderer extremistischer Phänomenbereiche auch durch seine Zusammensetzung. Während andere Extremisten häufig junge Erwachsene sind oder im Übergang zum Erwachsenenalter stehen, liegt das Durchschnittsalter bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern bei 45 bis 60 Jahren. Darüber hinaus ist die Szene zu knapp 75 Prozent männlich und im Vergleich zur Gesamtbevölkerung durch einen unterdurchschnittlichen Anteil von Akademikern gekennzeichnet.

Gebietsrevisionismus | Mit der Forderung nach der Wiederherstellung eines Deutschen Reichs berufen sich Reichsbürger oft willkürlich auf unterschiedliche historische und völkerrechtliche Situationen, in denen sich Deutschland zum Beispiel in seinen Grenzen von 1871, 1918, 1933 und 1937 befand. Diese völkerrechtswidrigen und gebietsrevisionistischen Vorstellungen und Bestrebungen richten sich gegen die territoriale Integrität von Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland und verstoßen damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung.

Beispielhaft hierfür steht folgende Aussage auf der Internetseite der rechtsextremistischen Exil-Regierung Deutsches Reich:

„Der Begriff Wiedervereinigung ist […] irreführend, da nur zwei Teile Deutschlands, die Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) und die Deutsche Demokratische Republik (Mitteldeutschland), vereinigt wurden, Ostdeutschland aber noch immer besetzt ist und deutsche Staaten wie Österreich, Luxemburg oder Liechtenstein immer noch eigene Kleinstaaten sind. Hinzu kommt, daß der Begriff ,Wiedervereinigung‘ falsch ist, da es zuvor keinen deutschen Staat in den aktuellen Grenzen gab, zudem mit der ,Wiedervereinigung‘ auf die ostdeutschen Gebiete des Deutschen Reiches und das Sudetenland durch die BRD kein Anspruch erhoben wurde.“ (Schreibweise wie im Original.)

Reichsbürger und Selbstverwalter führen eine Vielzahl von verschwörungstheoretischen Argumenten an, in denen sie sich abwegig und pseudojuristisch auf verschiedene Gesetze und internationale Normen berufen. So ist die Bundesrepublik in ihrer Sicht lediglich ein „Besatzungskonstrukt“: Deutschland sei seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein souveräner Staat, sondern ein von den alliierten Streitkräften militärisch besetztes Gebiet. Entsprechend behauptet die Szene, die Bundesrepublik Deutschland existiere nicht, sei nicht souverän, sondern lediglich eine Art Firma. So agitierten und polemisierten Reichsbürger und Selbstverwalter gegen eine angebliche „BRD-GmbH“ sowie gegen Parlament und Regierung, Justiz und Polizei. Obwohl Reichsbürger und Selbstverwalter das Grundgesetz, die Rechtsordnung, Gerichtsurteile und behördliche Bescheide nicht anerkannten, zitierten sie diese jedoch, wenn sie glaubten, sie für sich instrumentalisieren zu können. Stattdessen beanspruchten Reichsbürger und Selbstverwalter, eine eigene Staatsgewalt auszuüben: Sie vergaben „staatstragende“ Ämter, verkauften „Reichsausweise“ und selbstgefertigte „Reichsführerscheine“, die keinerlei Gültigkeit besitzen.

Widerstand gegen Staat und Verwaltung | Das Agieren gegen Behörden mit absurden Eingaben stellte das Hauptbetätigungsfeld der Reichsbürger und Selbstverwalter dar. Damit versuchte die Szene, die Ämter an ihrem rechtmäßigen Handeln zu hindern. So wird etwa die Entrichtung von Bußgeldern wegen angeblich fehlender Legitimation der Bescheide verweigert. Reichsbürger und Selbstverwalter begründeten dies in umfangreichen Schriftsätzen, in denen sie sich etwa auf die Haager Landkriegsordnung von 1907 oder selbst erdachte Allgemeine Geschäftsbedingungen beriefen. Mitunter verschickten Szeneangehörige selbstformulierte „Schadensersatzforderungen“ – zahlbar in Silber oder Gold – auf der Grundlage selbst gefällter „Urteile“ an die in Behörden zuständigen Sachbearbeiter.

Exemplarisch und das Agieren der Reichsbürger erhellend ist folgendes, in Auszügen abgedrucktes Telefax, das ein „Reichspolizeiamt“ der Gruppierung Deutsches Reich im Berichtsjahr an den Hessischen Landespolizeipräsidenten versandte:

„Betrifft: Rechtsmittel der Beschwerde nach geltendem Reichsrecht, unter dem Tatbestand von StGB §§ 81 Absatz 2u.4, 84, 87, 88, 89, 90 Absatz 3,5 und 6, zum rechtsstaatlichen Schutz der Amtsträger des Deutschen Reichs, Generalkonsul des Deutschen Reichs für die russische Föderation Herrn […] und Staatssekretär für Verfassungsschutz […].
Sofortige Beschwerde […] wegen Verweigerung der Ausweispflicht, fehlender Legitimation, Plünderung im vorgetäuschtem Amt, Bildung einer bandenmäßigen kriminellen Vereinigung unter UKIP333571359 sog. Ministerium des Inneren Hessen, Verstoß gegen HLKO, Beihilfe – und schwere Nötigung, fehlender Nachweis einer staatsrechtlichen Waffenbesitzgenehmigung, staatsrechtlich nicht nachweisbare Zulassung zum Polizeidienst, nichtamtliche Handlung mit Gefahr für Leib und Leben, Verstoß gegen die EMRK, räuberische Erpressung, Menschenraub, erzwungene vorsätzliche Verhaftung mit kriminellen Charakter, Vorteilsnahme im vorgetäuschten Amt ,illegale Beschlagnahmung bzw. Raub amtlicher Dokumente des Deutschen Reiches […]
Die Reichsverfassung von 1871 (Stand: 28.10.1918) ist die staatsrechtliche Grundlage. Aus allem Vorgetragenen, resultiert eine damit verbundene Strafanzeige mit Schadenersatzklage gegen jeden Einzelnen des genannten Personenkreis, die nicht verjährt oder verwirkt, es gilt das Reichsrecht, das Völkerstrafgesetzbuch, das Besatzungsrecht, die SHAEF-Gesetze und SMAD-Befehle. […]
Leiter des Stabes im Reichspolizeiamt
Deutsches Reich
Sie sollten in Ihrem Interesse auch unseren Verteiler beachten Dieses Schreiben geht als Kopie mit Strafverfolgungsantrag an den Ober-Reichsanwalt, an das Reichsgericht Strafsenat, an den Reichsverband Deutscher-Rechtskonsulenten, an das Beweissicherungsamt, an die Justizabteilung Justitia Deutschland und an das Reichsamt zur Bereinigung von Staatsterrorismus.“ (Schreibweise wie im Original.)

„Malta-Masche“ | Reichsbürger und Selbstverwalter versuchen mitunter, sich nicht nur behördlichem Zugriff zu entziehen, sondern Behördenmitarbeiter widerrechtlich zu belangen. Hierfür erfinden Reichsbürger und Selbstverwalter im Rahmen der sogenannten Malta-Masche Schulden eines Behördenmitarbeiters, die sie in das amerikanische Online-Schuldnerregister Uniform Commercial Code (UCC) eintragen lassen. Anschließend werden die Forderungen an ein maltesisches Inkassounternehmen abgetreten, um einen vollstreckbaren Titel nach dem Europäischen Mahnverfahren zu erreichen. Eine Durchsetzung ihrer erfundenen Forderungen mittels dieses missbräuchlichen Verfahrens ist der Szene nicht gelungen.

Deliktfelder der Reichsbürger und Selbstverwalter | Zu etlichen Reichsbürgern lagen der Polizei Erkenntnisse zu Gewaltdelikten (Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) vor. Außerdem begingen Reichsbürger Betrug, Hausfriedensbruch, Nötigung, Sachbeschädigung, Amtsanmaßung, Urkunden- und Kfz-Kennzeichenfälschung, Beleidigung und Verleumdung. Manche verstießen gegen das Kunsturheber- sowie das Kriegswaffenkontroll-, Waffen- und Betäubungsmittelgesetz.

Gefahr der Gewaltanwendung | Rechtsansprüche gegenüber Reichsbürgern und Selbstverwaltern mussten die Behörden oft mittels Zwangsvollstreckung durchsetzen. Hierbei besteht die Gefahr, dass sich Reichsbürger mit Gewalt einer Maßnahme widersetzen. Ihre teilweise erhebliche Gewalt richtete sich vornehmlich gegen Gerichtsvollzieher und Polizeibeamte. Deren Einsätze bezeichneten Reichsbürger als „Plünderung“ oder „Raub“, gegen die angeblich „Notwehr“ geboten sei. Dabei schossen Angehörige der Reichsbürger und Selbstverwalter sogar auf Beamte, so etwa im August 2016 in Reuden (Sachsen-Anhalt) und im Oktober 2016 in Georgensgemünd (Bayern), wo ein Polizeibeamter seinen schweren Verletzungen erlag.

Die Verfassungsschutzbehörden übermittelten bundesweit bis zum Stichtag 31. Dezember 2017 bereits zu rund 600 Reichsbürgern und Selbstverwaltern Erkenntnisse an die Waffenbehörden. Nach Kenntnisstand der Verfassungsschutzbehörden wurden in der Folge rund 350 Reichsbürgern und Selbstverwaltern ihre waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen.

Nichtsdestotrotz ist der Grad der Bewaffnung der Szene weiterhin hoch. Zum Stichtag 31. Dezember 2017 verfügten bundesweit immer noch rund 1.100 Reichsbürger und Selbstverwalter über eine oder mehrere waffenrechtliche Erlaubnisse. Grund für die weiterhin hohe Zahl an bekannten Erlaubnisinhabern ist insbesondere die fortschreitende Aufklärung der Szene, durch die kontinuierlich neue Erlaubnisinhaber bekannt werden.

In Hessen besaß eine hohe zweistellige Anzahl von Personen aus der Szene waffenrechtliche Erlaubnisse, mehr als die Hälfte von diesen war im Besitz von mindestens einer legalen Schusswaffe. Das Ziel der Sicherheitsbehörden in Hessen ist es, dass kein den Behörden bekannter Reichsbürger oder Selbstverwalter waffenrechtliche Erlaubnisse oder legale Waffen besitzt bzw. sie ihnen im Falle des Besitzes entzogen werden.

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