Liebe Bürgerinnen und Bürger,
innerhalb von nur fünf Tagen wurden im Februar 2020 neun unschuldige Menschen in Hanau ermordet und mehr als 120 Kinder, Frauen und Männer beim Anschlag von Volkmarsen verletzt. Wenige Tage zuvor, am 11. Februar 2020, gab die Weltgesundheitsorganisation einer sich rasch ausbreitenden hochansteckenden Atemwegserkrankung den Namen COVID-19. Mehr als vier Millionen Menschen sind dem Virus seitdem weltweit zum Opfer gefallen.
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Bundeslandes wurden von der Pandemie nicht härter getroffen als der Rest der Bundesrepublik. Aber der beispiellose rassistisch motivierte Terroranschlag von Hanau wie auch die Amokfahrt von Volkmarsen haben die Menschen in Hessen in der größten Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs darüber hinaus tief erschüttert. Und dies geschah in einer Zeit, in der sich – nach der Ermordung des unvergessenen Demokraten Dr. Walter Lübcke – Rechtsextremisten bereits im Aufwind fühlten. Schnell hatten sie die Pandemie als neues Betätigungsfeld für sich entdeckt, um die Bevölkerung mit einem alten Virus in neuen Varianten zu infizieren. Die Opfer und Hinterbliebenen von Hanau leiden bis heute. Sie verlangen Antworten auf allzu berechtigte Fragen und sehen sich dabei mit Mechanismen eines Rechtsstaats konfrontiert, der selbst seinen eigenen Regeln unterworfen ist. Das Land Hessen wird nach Abschluss der Ermittlungen des Generalbundesanwalts sein Versprechen nach umfassender Aufklärung einhalten und den Betroffenen weiter in ihrer unvergleichlich schweren Situation zur Seite stehen.
Nach wie vor stehen hessische Polizisten im Verdacht die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes nicht ihrem Eid entsprechend zu schützen, sondern gegen Menschen alleine aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Glaubens in geschlossenen Chaträumen hasserfüllt zu hetzen; zum Teil in einer rechtsextremistischen Rohheit und abgründigen Boshaftigkeit, dass es sprachlos macht. Jeder weitere rechtsextremistische Verdachtsfall in den Reihen unserer Schutzleute trägt zu einer schleichenden Vertrauenserosion in den Staat und seine Institutionen bei und lastet zugleich auf den Schultern der großen Mehrheit unbescholtener Polizistinnen und Polizisten, die jeden Tag ihr Bestes geben, um ihrem schwierigen Auftrag gerecht zu werden.
Um die freiheitliche demokratische Grundordnung heute und in Zukunft vor ihren Feinden zu bewahren, müssen ihre Beschützer die Werte unseres Gemeinwesens vorbehaltlos und uneingeschränkt vertreten. In einer grenzenlos digitalen Welt, die Extremisten und Kriminellen nie dagewesene Gelegenheiten bieten, um mit minimalem Aufwand maximale Schäden zu verursachen, muss die Integrität der Frauen und Männer, die sich ihnen entgegenstellen, den allerhöchsten Ansprüchen genügen. Extremisten müssen vor Einstellung in den Staatsdienst erkannt und bedingungslos für ungeeignet erklärt werden. Fehlverhalten – ob im Dienst oder privat – muss bei Staatsdienern rasch und transparent zu Konsequenzen führen, in jedem einzelnen Fall. Wer unsere Demokratie nach oder sogar bei seiner Arbeit bekämpft, verwirkt das Privileg im Dienste der Gemeinschaft zu stehen. Das muss für die Polizei und für jede andere staatliche Institution gleichermaßen gelten.
Der Staat ist zugleich in der Pflicht, den Sicherheitsbehörden die notwendigen Instrumente bereitzustellen, die Polizei und Verfassungsschutz benötigen, um Extremisten mit aller Härte zu bekämpfen. Dafür müssen immer wieder neue Wege beschritten werden. Das ist dem Inlandsnachrichtendienst zum Beispiel angesichts der offenkundig ungenießbaren, aber zunächst schwer zu fassenden Mixtur aus Rechtsextremisten, Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern und Antisemiten, die sich bei vermeintlichen Corona-Protesten in der Realität und Virtualität formierten, gelungen. Wer sich unter dem Deckmantel von Meinungs- und Demonstrationsfreiheit positioniert, um den Staat zu delegitimieren, ist ein Staatsfeind und muss als solcher auch mit allen Mitteln der wehrhaften Demokratie bekämpft werden.
Die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung geht weiterhin vom Rechtsextremismus aus. Die hessischen Sicherheitsbehörden führen den Kampf gegen dieses Virus mit der größten Intensität und einem nicht endenden Fahndungsdruck. Die polizeiliche Besondere Aufbauorganisation R erschüttert die rechtsextremistische und Reichsbürgerszene mit Durchsuchungen, bei denen immer wieder Waffen sichergestellt und Straftaten geahndet werden können. Das Landesamt für Verfassungsschutz schöpft alle operativen und rechtlichen Möglichkeiten aus, um das rechtsextreme Personenpotential weiter aufzuhellen, Vernetzungsstrukturen ans Licht zu bringen und so der Demokratie als Frühwarnsystem zu dienen. Weil jüdisches Leben in Hessen immer unter dem besonderen Schutz des Staates steht, wird der Antisemitismus im engen Schulterschluss mit aller Konsequenz bekämpft. Dank einer engen Sicherheitspartnerschaft sorgt das Land gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden für Schutz, Aufklärung und Prävention.
Um den Kampf gegen Hass und Hetze – ob im Internet oder auf unseren Straßen und Plätzen – noch effektiver zu führen, wird das Hessische Innenministerium noch in diesem Jahr ein neues Sicherheitsportal an den Start bringen. Im Rahmen der Initiative „Gemeinsam sicher in Hessen“ wird es jedem Bürger ermöglicht, sich jederzeit einfach, schnell und digital direkt an die Sicherheitsbehörden zu wenden. Nach dem erfolgreichen Prinzip der Meldestelle „hessengegenhetze“ können so die wachsamen Augen und Ohren der Bevölkerung auch im Kampf gegen Extremisten noch gezielter zum Schutz unserer gemeinsamen Werte beitragen.
Dieser Kampf muss gegen alle Extremismusphänomene, ob von rechts, links oder aus dem Bereich des Islamismus, weiter entschlossen geführt werden. Die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags ist auch in Hessen nach wie vor hoch. Im Berichtsjahr zeigte dies der tödliche Messerangriff in Sachsen, aber auch in Frankreich und Österreich verloren Menschen bei Attentaten, die weltweit große Bestürzung auslösten, ihr Leben. Im Zuge des Protests gegen die Rodungsarbeiten im Dannenröder Wald radikalisierte sich ein Teil der Waldbesetzerszene, sodass die Zahl der linksextremistischen Straf- und Gewalttaten deutlich anstieg. Ob sich der in anderen Bundesländern festzustellende Trend zu einer signifikanten gewaltorientierten Radikalisierung der linksextremistischen Szene auch in Hessen niederschlägt, beobachtet der hiesige Verfassungsschutz wachsam und akribisch.
Eine nicht zu unterschätzende Gefahr droht zudem von anderen Staaten: Mittels gezielter Desinformationskampagnen wurde im Kontext des Pandemiegeschehens versucht, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Funktionstüchtigkeit unserer Demokratie zu erschüttern. Der Spionageabwehr und ihrer präventiven Komponente des Wirtschaftsschutzes – unter anderem in Form der vertraulichen Beratung von Firmen – kommt daher eine immer größere Bedeutung zu.
Das Berichtsjahr 2020 war über die erschütternden Anschläge hinaus für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesamts für Verfassungsschutz unter Pandemiebedingungen von vielen weiteren Herausforderungen geprägt. Ich danke Präsident Robert Schäfer und den Frauen und Männern des LfV, dass sie unermüdlich für unsere Sicherheit gearbeitet haben und die freiheitliche demokratische Grundordnung entschlossen verteidigen.
Peter Beuth
Hessischer Minister des Innern und für Sport
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
hat das COVID-19-Virus das Immunsystem unserer Demokratie geschwächt? Bedrohen Extremisten und andere, äußere Feinde unsere Sicherheit und unser friedliches Zusammenleben, so wie wir es seit vielen Jahrzehnten auf dem Fundament unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung gewohnt sind? Diese vielfach in der Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft gestellten Fragen regen zum Nachdenken an. Immerhin bilden wir als Verfassungsschützer zusammen mit Polizei und Justiz ein unverzichtbares Element dieses Immunsystems. Da wir im Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) sehr bewusst unsere Selbstkritik und Fehlerkultur leben, müssen wir uns mit der freilich unbequemen Frage „Sind wir geschwächt?“ beschäftigen. Wiederholte rechtsextremistische Verdachtsfälle in staatlichen Institutionen geben hierzu ebenso immer wieder Grund und Anlass. Gemäß unserem Auftrag stellen wir uns umso intensiver folgende Fragen: „Ist die gesamtgesellschaftliche Resilienz gegen Extremismus geschwächt? Nehmen wir als Verfassungsschützer gesellschaftliche Änderungen in adäquater Weise wahr? Ziehen wir hieraus die richtigen Schlüsse?“ Die letzte Frage möchte ich hier aufgreifen.
Nach den Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds und nach dem Mord an Dr. Walter Lübcke sind wir im LfV sehr viel problembewusster geworden. Beginnend mit dem Projekt „Neuausrichtung des Verfassungsschutzes“ haben wir in den letzten Jahren einen deutlichen Perspektivwechsel in Bezug auf die Relevanz des Rechtsextremismus/-terrorismus vollzogen. Dies haben wir aufgrund der teils akuten Bedrohung getan und gerade weil wir ein aktiver Teil unserer freiheitlichen Gesellschaft sind. Insbesondere aufgrund unserer historischen Verantwortung sind wir verpflichtet, vor allem den Extremismus von rechts außen entschieden zu bekämpfen.
Seit dem Beginn meiner Amtszeit 2015 haben wir im LfV die Anzahl der Planstellen von 265,5 auf aktuell 381 erhöht. Das ist ein beträchtlicher Zuwachs, der vor allem wegen der priorisierten Beobachtung des Rechtsextremismus und -terrorismus erforderlich war. Wir haben hierfür eine eigene Abteilung geschaffen und unsere Analysefähigkeit verbessert, wobei es unser Anspruch ist, diese weiterhin zu optimieren.
Stärker als in der Vergangenheit berücksichtigen wir, dass Extremismus nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern eine Reaktion auf politische und sozial-ökonomische Prozesse ist und sich darin individuelle menschliche Entwicklungen und Biographien abbilden. Um ein solches komplexes Geschehen zu beschreiben, zu verstehen und zukunftsorientiert zu bewerten, setzen wir gezielt auf versierte wissenschaftliche Experten wie Politologen, Soziologen, Religionswissenschaftler oder Historiker.
Mehr denn je ist unsere Arbeit operativ ausgerichtet. Wenn Frustration sich in Wut und Hass aufstaut, Menschen sich vor allem mittels des Internets und der sozialen Medien radikalisieren, sich entsprechend in Andeutungen oder gar offen artikulieren, müssen wir mehr vor Ort sein, die entsprechenden Verhältnisse und Umstände besser kennen, um solche Entwicklungen frühzeitig sehen und einschätzen zu können. Dies betrifft sowohl allein handelnde Personen als auch Extremisten, die sich im virtuellen und realen Raum vernetzen, gegenseitig unterstützen und eventuell zu schwersten Verbrechen motivieren, und gilt natürlich weiterhin auch für Gruppierungen und Organisationen.
Darüber hinaus haben wir nach dem Mord an Dr. Walter Lübcke, der entschieden für die freiheitlichen und demokratischen Grundwerte unseres Zusammenlebens eintrat, die Arbeitsweise und die Analyse im LfV erneut verändert. Es kommt darauf an zu ergründen, ob unter einer scheinbar ruhigen gesellschaftlichen Oberfläche ein schlummerndes Radikalisierungspotenzial existiert, ob es sich und zu welchen Anlässen regt und wie es sich in solchen Situationen eventuell entwickelt. Das können wir nur leisten, wenn wir die politisch-sozialen Verhältnisse und deren mögliche Auswirkungen auf die Menschen – natürlich auch die Wechselwirkungen – beobachten und verstehen.
Die Prinzipien „mehr Präsenz vor Ort“ und „Analyse von extremistischen Tiefenstrukturen“ gilt es auch anzuwenden, wenn sich verfassungsfeindliche Organisationen wandeln, sich in einer Szene Strukturen ändern, Übergänge zwischen verschiedenen Bereichen – darunter auch nichtextremistische – zerfließen und neue Extremismusformen entstehen. So bereitet gegenwärtig große Sorge, dass Menschen bei ihren Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie im Zuge ihrer allgemeinen Unzufriedenheit Verschwörungsnarrative und extremistische Parolen verinnerlichen und sich nicht scheuen, gemeinsam mit Extremisten zu demonstrieren. Zu befürchten ist, dass etliche Menschen nicht mehr den Weg zurück in die demokratische Mehrheitsgesellschaft finden. Um unser Gemeinwesen vor dieser möglichen Bedrohung zu schützen, müssen wir verstehen, was diese Menschen bewegt und wie sie künftig agieren könnten. Deshalb hat der Verfassungsschutz das neue Beobachtungsobjekt „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet. Da wir in einer Zeit des mannigfachen Umbruchs leben, in dem alte Gewissheiten immer wieder auf die Probe gestellt werden, besteht die Gefahr, dass noch mehr Menschen aus Verunsicherung und Protest der Demokratie den Rücken kehren könnten.
Andererseits müssen wir als Demokraten gegenüber traditionellen und neuen Formen des Extremismus unmissverständlich deutliche Ansagen machen und den entsprechenden Protagonisten ihre Grenzen aufzeigen. Brücken, die aus dem extremistischen Lager – insbesondere von der Neuen Rechten – in die Mitte der Gesellschaft gebaut werden, müssen entschieden zerstört werden. Werden Extremismus und Gewalt bagatellisiert und damit legitimiert, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger als vermeintliche Sündenböcke gesucht und ins Visier genommen, so gerät die Demokratie in Gefahr, was im Zusammenwirken mit anderen krisenhaften Erscheinungen rasch in den Abgrund führen kann.
Unsere Entschlossenheit drückt sich unter anderem darin aus, dass Extremisten keine legalen Waffen besitzen dürfen. Unser Anspruch ist es, alle relevanten Informationen mit den Waffenbehörden zu teilen. Mit einer transparenten und aktiven Öffentlichkeits- und Präventionsarbeit klären wir nicht nur staatliche Institutionen, sondern die Gesellschaft über die Gefahren des Extremismus auf. Daher ist es konsequent, dass wir im vergangenen Jahr nunmehr auch eine eigene Abteilung für Prävention und phänomenübergreifende Analyse geschaffen haben.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des LfV danke ich für Ihre unermüdliche Arbeit, insbesondere dafür, dass sie neuen Herausforderungen aufgeschlossen begegnen, neue Ideen einbringen und diese effizient umsetzen. Der Mord an Dr. Walter Lübcke und an unseren neun Hanauer Mitbürgern ist uns ein beständiges Memento, dass der Verfassungsschutz eine höchst wichtige Aufgabe erfüllt und dies keine Nachlässigkeiten duldet. Es ist unsere herausragende Pflicht, für das Wohl der Menschen in Hessen und damit zum Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Werte zu arbeiten.
Robert Schäfer
Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen