Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2020

Extremismus in Hessen

Wesentliche Eckpunkte

Extremistisches Personenpotenzial in Hessen – Gewaltorientierung | Mit 13.475 Personen stieg das gesamte extremistische Personenpotenzial in Hessen gegenüber dem Vorjahr (13.435) leicht um 0,3 Prozent an. Dies resultierte erneut aus einer Zunahme des rechtsextremistischen Personenpotenzials (2020: 1.660, 2019: 1.620) dort in den parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen und im weitgehend unstrukturierten Bereich. Gleichfalls nahm im Phänomenbereich Rechtsextremismus die Anzahl der gewaltorientierten Personen um 20 auf nunmehr 860 zu, allerdings fiel der Zuwachs um ein Drittel geringer als im Vorjahr aus, als er bei 60 lag.

Im Phänomenbereich Linksextremismus – die Gesamtzahl blieb unverändert bei 2.600 Personen – wurden etwa 20 Prozent des Personenpotenzials dem gewaltorientierten Spektrum zugeordnet. Dagegen war eine valide Bezifferung des gewaltorientierten Personenpotenzials in den Phänomenbereichen Islamismus und Extremismus mit Auslandsbezug nicht möglich, wofür folgende Faktoren verantwortlich waren: Die fortschreitenden klandestinen Verhaltensweisen – insbesondere von Anhängern des gewaltorientierten Salafismus/Jihadismus – und die Anonymisierungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke ermöglichten nicht immer die Zuordnung zu einer bestimmten Person.

Im Unterschied zum Rechtsextremismus blieb das Personenpotenzial in den Phänomenbereichen Linksextremismus (2.600), Islamismus (4.170), Extremismus mit Auslandsbezug (4.195) sowie Reichsbürger und Selbstverwalter (1.000) gegenüber 2019 unverändert.

Entwicklung der Gesamtzahl der extremistischen Straf- und Gewalttaten | Gegenüber dem Vorjahr stieg im Berichtszeitraum die Gesamtzahl der extremistischen Straf- und Gewalttaten ein weiteres Mal signifikant an. Sie erhöhte sich von 1.060 (2019) um 333 auf 1.393, was einer Zunahme um 31 Prozent entspricht. Innerhalb des Fünf-Jahreszeitraums 2016 bis 2020 erreichte die Gesamtzahl der extremistischen Straf- und Gewalttaten damit ihren Höchststand.

Im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug ging die Zahl der Delikte um mehr als die Hälfte auf 32 zurück, im Islamismus nahm sie um eine Tat ab und lag bei 35, während sie sich im Rechtsextremismus um 330 Delikte (= 37 Prozent) erhöhte und im Linksextremismus um 45 Taten (= 69 Prozent) auf 110 zunahm. Diese Entwicklung und deren mögliche Ursachen gilt es sowohl im Rechts- als auch im Linksextremismus sorgsam zu beobachten.

Signifikante Zunahme der Gewalttaten | Besorgniserregend ist der starke Anstieg der Gesamtzahl der extremistischen Gewaltdelikte. Letztere verdoppelten sich gegenüber 2019 nahezu von 41 auf 79. Dabei fällt auf, dass sich die Zahl der linksextremistisch motivierten Taten von einem relativ niedrigen Niveau (2019: fünf) um das nahezu Siebenfache auf 34 erhöhte. Aber auch die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Delikte stieg an – von 31 (2019) auf 42. In beiden Phänomenbereichen erreichte die Zahl der Gewalttaten im Fünf-Jahreszeitraum von 2016 bis 2020 damit ihren jeweiligen Höchststand.

Nachdem im Juni 2019 der Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke einem rechtsextremistisch motivierten Mordanschlag zum Opfer gefallen war, tötete am 19. Februar in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) ein Attentäter aus rassistischen Motiven neun Menschen (der Anschlag wird aufgrund der polizeilichen Erhebungsmethodik in der Statistik der rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten als ein Delikt gewertet). Hatte sich der noch nicht rechtskräftig verurteilte Mörder Dr. Walter Lübckes nicht direkt zu seiner Tat bekannt, stellte der Hanauer Attentäter kurz vor seiner Tat – ähnlich wie der norwegische Attentäter Anders Breivik – ein „Manifest“ („Botschaft an das gesamte deutsche Volk“) ins Internet. Darin legte er seine offensichtlich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelte Weltanschauung dar, die sich aus einzelnen Versatzstücken wie Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Rassismus und verschiedenen Verschwörungsnarrativen zusammensetzte. Ebenso wie bei dem Mörder von Dr. Walter Lübcke ein Verschwörungsnarrativ („Der große Austausch“) als Motiv eine Rolle spielte, galt dies für den Attentäter von Hanau.

Äußerst besorgniserregend ist, dass Verschwörungsnarrative auch im Berichtsjahr im Kontext der (extremistischen) Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie von Belang waren. Sie wurden in einer großen Vielzahl und in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß verbreitet und entwickelten ein für die Demokratie gefährliches Potenzial. Dabei ist bedenklich, dass sich auch Teile der nichtextremistischen Bevölkerung von diesen Narrativen angesprochen fühlten.

Rechtsextremismus

Personenpotenzial – Gewaltpotenzial | Das rechtsextremistische Personenpotenzial wuchs im Berichtsjahr um 40 auf ein Potenzial von 1.660 Personen. Damit erreichte die Gesamtzahl der Rechtsextremisten in Hessen den höchsten Wert im Fünf-Jahreszeitraum von 2016 bis 2020. Von diesem Personenpotenzial waren 51,8 (vorher 52%, Text kann daher so bleiben) Prozent (860 Personen) gewaltorientiert, damit änderte sich diese Quote nicht gegenüber dem Vorjahr, da auch das gewaltorientierte Spektrum einen Zuwachs verzeichnete.

Die Steigerung des rechtsextremistischen Personenpotenzials beruhte auf einem Zuwachs in den parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen und im Bereich des lose strukturierten Personenpotenzials, während die Zahl bei den parteigebundenen Strukturen bzw. Parteien konstant (340) blieb.

Lose strukturierter Rechtsextremismus: Neonazis und subkulturell orientierte Rechtsextremisten | Der lose strukturierte Rechtsextremismus setzte sich aus dem neonazistischen Spektrum und subkulturell orientierten Rechtsextremisten zusammen, wobei beide Bereiche eine Schnittmenge aus den Kategorien parteiunabhängige/parteiungebundene Strukturen und weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial bildeten. Ist der Bereich Neonazismus im engeren Sinne mit dem Bekenntnis zum Nationalsozialismus und dessen maßgeblichen Protagonisten gleichzusetzen, so werden ihm darüber hinaus Personen und Gruppierungen zugerechnet, die insbesondere rassistische und nationalistische Positionen vertreten, ohne dass sie dem legalistischen Rechtsextremismus angehören. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Neonazis ihre Freizeit eher wie subkulturell orientierte Rechtsextremisten verbringen oder teilweise gemeinsam mit ihnen bei Demonstrationen auftreten. Allerdings gingen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie die öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Neonaziszene in Hessen deutlich zurück, wobei sich Rechtsextremisten aus Hessen – darunter Neonazis – an überregionalen „Anti-Corona-Protesten“ beteiligten.

Im September durchsuchte die Polizei in Wiesbaden die Wohnung eines Rechtsextremisten, nachdem zuvor in der Landeshauptstadt Aufkleber und Graffitis mit Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und volksverhetzenden Inhalten aufgetaucht waren. Der Rechtsextremist hatte im Internet eine deutsche Chatgruppe der amerikanischen Gruppierung National Socialist Club – Anti Communist Action (NSC 131) eröffnet. In der Wohnung stellte die Polizei unter anderem Stich-/Hieb- und Schusswaffen sicher.

Anfang Dezember verbot der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat die in mehreren Ländern aktive Sturmbrigade 44/Wolfsbrigade 44, da sie sich unter anderem gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtete. In Hessen durchsuchte die Polizei im Zuge der Vollstreckung des Verbots 20 Objekte und stellte Waffen, Munition sowie nationalsozialistische Devotionalien sicher. Acht führende Mitglieder der Gruppierung wohnten in Hessen.

Offensichtlich im Zusammenhang mit den staatlichen COVID-19-Bekämpfungsmaßnahmen ging in Hessen im Berichtszeitraum die Zahl der rechtsextremistischen Musikveranstaltungen zurück: Es fand lediglich ein Liederabend statt (2019: vier Musikveranstaltungen). In Leun (Lahn-Dill-Kreis) sorgte ein Liedermacher für das musikalische Begleitprogramm beim Neujahrsempfang der Fraktionen Leun und Wetzlar der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD).

Mit dem Ziel, rechtsextremistische Musikveranstaltungen unter Ausschöpfen aller rechtlichen Möglichkeiten zu verhindern oder aufzulösen, stand die Szene der subkulturell orientierten Rechtsextremisten nach wie vor im Fokus des LfV. Aufgrund ihres Erlebnischarakters bietet Musik für Jugendliche verschiedene Identifikationsmöglichkeiten: das Pflegen eines stark emotionalisierten Gemeinschaftsverständnisses, das Beschwören von Feindbildern („Migranten“, „Juden“, „Staat“ und dessen Repräsentanten), das Verherrlichen von Gewalt sowie das Verharmlosen und Glorifizieren des Nationalsozialismus.

Affinität zu verbaler und körperlicher Gewalt | Die Anzahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten in Hessen (860) erreichte ebenso wie die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten (42) den höchsten Wert im Fünf-Jahreszeitraum. Besorgniserregend ist, dass nicht nur die Zahl der Gewaltdelikte um 35 Prozent stieg, sondern die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten um 37 Prozent zunahm. Erstmals überschritt die Gesamtzahl im Fünf-Jahreszeitraum 2016 bis 2020 mit 1.216 Delikten (2019: 886) die Tausender-Marke.

Unverändert besteht die Gefahr, dass einzelne Szeneangehörige aufgrund ihrer persönlichen Situation, ihres sozialen Umfelds, ihrer Beeinflussung durch außen und ihres Radikalisierungsgrads zu Kurzschlusshandlungen neigen, die in Gewalt münden. Die im Rahmen der „Anti-Corona-Proteste“ entstandenen Emotionalisierungen – oft im Verbund mit Verschwörungsnarrativen – verstärken diese vom Rechtsextremismus ausgehende Gefahr offenbar nicht nur, sondern begünstigen auch in anderen Teilen der Gesellschaft ein Klima des „Widerstands“, das einen Radikalisierungsfaktor darstellen kann. In einem nicht zu erwartenden Ausmaß fielen im Rahmen der „Anti-Corona-Proteste“ beleidigende und hetzerische Äußerungen gegenüber Migranten sowie gegenüber demokratischen Institutionen und deren Repräsentanten. Diese Aggression wurde darüber hinaus von Menschen akzeptiert, die sich bislang nicht dafür empfänglich zeigten und/oder sich nicht im Umfeld von Extremisten bewegten.

Sonderauswertungsgruppe (SAW) | Umgehend nach der Festnahme des dringend Tatverdächtigen Stephan E. im Mordfall Dr. Walter Lübcke wurde im LfV eine Sonderauswertungsgruppe (SAW) gebildet, deren zentrale Aufgabe darin bestand, nachrichtendienstliche Ermittlungen hinsichtlich der Existenz möglicher rechtsextremistischer/-terroristischer Bestrebungen durchzuführen. Dabei hatte die SAW auch die Reaktionen der rechtsextremistischen Szene auf den Mord sowie auf die Inhaftierung der Tatverdächtigen im Blick.

Aufgabe der SAW war es, die Ermittlungen des zuständigen Generalbundesanwalts am Bundesgerichtshof bestmöglich zu unterstützen. Hierfür stand das LfV im stetigen und engen Austausch mit dem Generalbundesanwalt. In diesem Kontext wurden die im LfV vorhandenen Erkenntnisse zu den Tatverdächtigen dem Generalbundesanwalt vollumfänglich übermittelt. Darüber hinaus fungierte die SAW im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts als Informationsschnittstelle zwischen der hessischen Polizei und dem Verfassungsschutzverbund. Am 29. April 2020 erhob der Generalbundesanwalt beim Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main Anklage gegen die Tatverdächtigen. Der Prozess wurde am 16. Juni 2020 eröffnet. Mit Urteil vom 28. Januar 2021 wurde der Angeklagte durch das OLG Frankfurt wegen Mordes an Dr. Walter Lübcke zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Durch das Gericht wurde darüber hinaus die besondere Schwere der Schuld des Angeklagten festgestellt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Bearbeitung integrierter bzw. abgetauchter Rechtsextremisten (BIAREX) | In Anbetracht der Erkenntnisse im Mordfall Dr. Lübcke wurde am 23. Juli 2019 in der Abteilung 2 des LfV (Rechtsextremismus/-terrorismus) die Organisationseinheit BIAREX geschaffen. Sie unterzieht Rechtsextremisten, die in der Vergangenheit zwar einschlägig rechtsextremistisch in Erscheinung getreten sind, in der Gegenwart aber – womöglich bereits seit vielen Jahren – eine unauffällige Biographie aufweisen, sukzessive einer vertieften Einzelfallanalyse. Dabei wird insbesondere überprüft, ob aktuell Radikalisierungspotenziale feststellbar sind oder ob eine Loslösung von der rechtsextremistischen Szene plausibel erscheint. Durch die fokussierte Analyse von Einzelpersonen sollen Radikalisierungspotenziale frühzeitig erkannt werden, sodass Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Der Ansatz einer vertieften Individualanalyse mit standardisierten Betrachtungsebenen stellt eine Ergänzung der bisherigen Methoden der Auswertung und einen weiteren Schritt im Ausbau der Analysekompetenz des LfV dar.

Die vertiefte Einzelfallanalyse durch BIAREX erfolgt auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse aus den Bereichen der Extremismusforschung, Kriminologie und Soziologie unter Anwendung eines standardisierten Mehraugenprinzips. Von besonderer Bedeutung ist für die Analyse die Betrachtung des individuellen Verhaltens, eingebettet in die biographischen und sozialen Rahmenbedingungen der jeweiligen Person. Hierbei soll die jedem Einzelfall inhärente individuelle Einstellung aufgedeckt und hieraus individuelle Handlungsmuster abgeleitet werden. Hierzu werden Erkenntnisse biographisch aufbereitet und durch geeignete Maßnahmen – wie die Informationserhebung bei anderen Behörden, Ermittlungen oder die Recherche im Internet nach (Selbst-)Darstellungen der Person – ergänzt. Es wird somit der Rückgriff auf generalisierende und simplifizierende Muster vermieden.

Im Rahmen einer datenschutzrechtlichen Sonderprüfung wurden bislang rund 2.750 Datensätze des LfV aus dem Phänomenbereich Rechtsextremismus einer retrograden Prüfung unterzogen. Sie hat das Ziel, die beim LfV aufgrund des seit Juli 2012 bestehenden „Lösch-Moratoriums“ gesperrten Datensätze aus dem Phänomenbereich Rechtsextremismus einer kritischen Nachprüfung zu unterziehen. Bei etwa 1.200 dieser 2.750 Datensätze wurden Anhaltspunkte für möglicherweise erhöhte Gefährdungsaspekte festgestellt. Im Rahmen einer darauf aufbauenden Einzelfallprüfung wurde bislang bei rund 450 Datensätzen eine erneute inhaltliche fachliche Befassung zur weiteren Aufklärung bzw. zur Erkenntnisverdichtung durch BIAREX angestrengt. Davon wurden bislang rund 150 Datensätze abschließend bewertet und hiervon 50 Datensätze nach Neubewertung der vorliegenden Informationen in die aktive Befassung überführt.

Fokussierte operative Bearbeitung herausragender Akteure im Rechtsextremismus (FOBAREX) | Außerdem wurde im LfV am 1. September 2020 die Einheit FOBAREX geschaffen, um die Bearbeitung des personenbezogenen Ansatzes im Phänomenbereich Rechtsextremismus zu intensivieren. Dabei nahm FOBAREX Rechtsextremisten in den Fokus, die als besonders relevant eingestuft werden. FOBAREX unterzog Rechtsextremisten, auf die folgende Merkmale zutrafen, einer engmaschigen qualitativen personenspezifischen Analyse:

  • Vorhandensein eines vergleichsweise hohen Radikalisierungspotenzials,
  • Tätigkeit als Vernetzungsakteure, wobei sie in besonderem Maße zur Vernetzung innerhalb der rechtsextremistischen Szene beitragen,
  • oder ihren Schwerpunkt im Bereich rechtsextremistischer Aktivitäten (etwa als Initiatoren von Veranstaltungen) haben.

Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse werden verwendet, um ein stets aktuelles Lagebild zu Personenkonstellationen, Strukturen und Gefährdungspotenzialen in Hessen zu erstellen.

Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD)/Identitäre Bewegung Hessen (IBH) | Nachdem 2019 die Aktivitäten der IBH zurückgegangen waren, nahmen sie im Berichtsjahr wieder zu. So verteilte die IBH im Rahmen der IBD-Kampagne „4 Millionen – die Migrationswaffe“ in verschiedenen hessischen Orten entsprechende Flyer, um sich als letzte Verteidigungslinie des „Abendlandes“ zu präsentieren. Als Reaktion auf die Entfernung des Begriffs „Identitäre Bewegung“ aus dem Suchindex von Google und der Löschungen aus Facebook, Instagram und Twitter rief die IBD dazu auf, nunmehr Telegram zu benutzen und den IBD-Newsletter zu beziehen. Mit ihrer „Identitären Sommertour“ wollte die Identitäre Bewegung (IB) gegen diesen „sanften Totalitarismus“ des Löschens in „100 Städten in ganz Deutschland“ protestieren. Die IBH beteiligte sich, indem sie in etlichen hessischen Orten Infostände aufbaute.

Die 2019 verlorene Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit versuchte die IB durch spektakuläre Aktionen zurückzugewinnen. So besetzte sie in Köln (Nordrhein-Westfalen) das Dach des WDR-Gebäudes, veröffentlichte im Internet als Warnung vor der „Gefahr [des] islamistischen Terrors“ eine „Gefährder-Map“ und schuf als Reaktion auf eine fiktive Gruppierung in einer Folge der Krimireihe Tatort zeitweise tatsächlich aktive Strukturen der Gruppierung „Junge Bewegung“.

Hervorzuheben ist, dass sich die IB in einem über ihr „Identitäres Sommerlager“ gedrehtes Video neuerdings gewaltorientiert darstellte. Unter ausdrücklichem Bezug auf den antiken Kriegerstaat Sparta waren in dem Beitrag einheitlich bekleidete Personen bei Lauf-, Schwimm, Kletter- und Kampfsportübungen zu sehen. Daher beobachtet das LfV fortan vor allem, ob in Hessen die IB diesen militanten Bezug forcieren und ob sich hieraus eventuell eine Änderung in ihrer Ideologie und Zielsetzung ergeben wird.

Der Flügel – Junge Alternative (JA) | Als Reaktion auf die Einstufung des Flügels als gesichert rechtsextremistische Bestrebung durch das BfV forderte der Bundesvorstand der Alternative für Deutschland (AfD), dass sich der parteiinterne Flügel bis zum 30. April 2020 aufzulösen hat. Dabei wurde die Gesamtpartei AfD im Berichtsjahr vom Verfassungsschutz nicht als rechtsextremistisch bewertet und somit auch nicht beobachtet. Sowohl bundes- als auch hessenweit kamen die Angehörigen des Flügels der Aufforderung der Parteiführung nach.

Die JA, die Jugendorganisation der AfD, war in Hessen vor allem in den sozialen Medien aktiv, wobei sie sich auf Beiträge zur Asyl- und Migrationspolitik fokussierte. Patrick Pana, Mitglied des Landesvorstands der JA Hessen und Angehöriger des mittlerweile aufgelösten Flügels, bekannte sich zu Inhalten, Gruppierungen und Personen aus dem Spektrum der Neuen Rechten. Die Schriften des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci bezeichnete er als unabdingbar für eine „fundierte Theoriebildung“.

NPD – Junge Nationalisten (JN) | Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie und der gegen sie ergriffenen staatlichen Maßnahmen konzentrierte sich die NPD auf die Verbreitung entsprechender Kommentare in den sozialen Medien und im Internet. Die Partei forderte „dauerhafte Einreisekontrollen“ und die „ökonomische Deglobalisierung“, außerdem verunglimpfte sie migrantisch geprägte Bevölkerungsteile als „Invasoren“, die es „mit der Hygiene nicht allzu genau nähmen“. Die NPD, der das Bundesverfassungsgericht 2017 bescheinigte, dass sie darauf aus ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu überwinden, rief dazu auf, „für unsere Grundrechte auf die Straße [zu] gehen“: „Aufstehen, Rausgehen, die Faust heben! Widerstand!“ Die NPD sprach von „Corona-Schwindel“ und „Corona-Wahnsinn“ und forderte dazu auf, in Berlin für die „Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben und gegen die Willkür von Politik und staatsdienender Presse“ zu demonstrieren. In Hessen führte die NPD nur wenige Veranstaltungen durch.

Auf dem Landesparteitag bestätigten die Delegierten der NPD Hessen im Oktober Daniel Lachmann als Landesvorsitzenden. In seiner Rede nannte er es als Ziel, bei der hessischen Kommunalwahl im März 2021 „zu möglichst vielen Stadt- und Gemeindeparlamentswahlen […] mit Listen anzutreten, damit auch dem Wähler die Chance zur Stimmabgabe für die nationale Oppositionspartei gegeben wird“. Allerdings büßte die NPD im Vergleich zur letzten Kommunalwahl 4.205 Stimmen (= 0,2 Prozentpunkte) ein und erhielt 1.799 Stimmen (= 0,1 Prozent).

Auch die JN kritisierten im Zuge der COVID-19-Pandemie die Globalisierung: „Sie importiert Unsicherheit, Terror und Kriminalität!“ Um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen, organisierten die JN die „Internet-Demo“ „#SystemExit“, bei der Bilder von JN-Angehörigen bei Banner- und Klebeaktionen – vorwiegend in Nord- und Ostdeutschland – gezeigt wurden. In Hessen führten die JN die Kampagne „schülersprecher.info“ fort. Dabei wurden mindestens an zwei Schulen in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) und an einer Schule in Bruchköbel (Main-Kinzig-Kreis) Aufkleber bzw. Plakate angebracht.

Der Dritte Weg/Der III. Weg – DIE RECHTE | Im Rahmen ihrer deutschlandweiten Kampagne „Das System ist gefährlicher als Corona“ kritisierte auch die neonazistische Partei Der Dritte Weg die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie als ungerechtfertigte Grundrechtseingriffe. Die Partei DIE RECHTE sprach sogar von einer „Seuchen-Diktatur“. Der Dritte Weg bot auf seiner Homepage in einer bundesweiten Aktion „Nachbarschaftshilfe“ an; regional begrenzt – allerdings nicht in Hessen – tat dies auch DIE RECHTE. Insbesondere Der Dritte Weg instrumentalisierte die Pandemie, um Stimmung gegen die angebliche „zunehmende Überfremdung“ und die damit vermeintlich einhergehende „Islamisierung Deutschlands“ zu machen. So sprach die Partei verächtlich von „Steinzeit-Muslimen“ und veranstaltete im Mai in Haiger (Lahn-Dill-Kreis) eine Kundgebung unter dem Motto „Ja zum Verbot des Muezzin-Rufs! Corona[-]Sonderregelungen sind keine Türöffner für Überfremdung!“ Noch vor dem Ausbruch der Pandemie führte Der Dritte Weg seinen traditionellen „Gedenkmarsch“ („Wir tragen das Licht für Dresden“) durch, der dieses Mal in Fulda (Landkreis Fulda) startete.

Seine Kandidatur für die Bürgermeisterwahl in Neukirchen (Schwalm-Eder-Kreis) zog der Landesvorsitzende der Partei DIE RECHTE, Mike Guldner, Mitte Februar zurück. Am Anfang des Monats hatte die Polizei seine Wohnung wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Waffengesetz durchsucht. Darüber hinaus verurteilte im November das Amtsgericht (AG) Schwalmstadt Guldner rechtskräftig wegen einer gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung und einer Sachbeschädigung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe. Der Tat hatte eine fremdenfeindliche Motivation zugrunde gelegen.

Flüchtlinge im Visier von Rechtsextremisten | Die Gesamtzahl der Straftaten der PMK -rechts- im Zusammenhang mit dem Thema „Asyl-/Flüchtlinge“ nahm im Berichtsjahr gegenüber dem Vorjahr deutlich zu. Sie erhöhte sich um 75 Prozent von 40 (2019) auf 70 Delikte und erreichte damit innerhalb des Fünf-Jahreszeitraums von 2016 bis 2020 den zweithöchsten Wert (Höchststand 2016 mit 91 Delikten).

Die Zahl der gegen Asylbewerber/Flüchtlinge gerichteten Straftaten nahm im Bereich der PMK -rechts- um 30 Delikte (2019: 36) zu, was einer Steigerung um 83 Prozent entsprach. Auch im Berichtsjahr kam es wieder zu einem Gewaltdelikt: In der S-Bahn in Frankfurt am Main beleidigte ein unbekannter Täter eine Asylbewerberin aus Syrien in rassistischer Weise, bedrohte sie und trat ihr in den Bauch. Auch kam es im Gegensatz zum Vorjahr wieder zu einer gegen Hilfsorganisationen und Helfer gerichteten Straftat (2019: keine).

Der deutliche Anstieg (75 Prozent) der Gesamtzahl der Straftaten der PMK -rechts- im Zusammenhang mit dem Thema „Asyl-/Flüchtlinge“ resultierte offenbar zu einem Teil aus der „Corona-Krise“, für die Rechtsextremisten unter anderem Migranten verantwortlich machten und versuchten, eine entsprechende feindselige Stimmung gegen sie in der Bevölkerung zu entfachen.

Reichsbürger und Selbstverwalter

Angebliches Fortbestehen eines Deutschen Reichs – Fantasiestaaten | Mit etwa 1.000 Personen, von denen etwa 150 auch dem Rechtsextremismus zugerechnet werden, blieb das Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter in den letzten vier Berichtsjahren konstant. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen eines historischen Deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Insgesamt erkennen Reichsbürger und Selbstverwalter, unter denen sich auch Anhänger von Verschwörungsnarrativen befanden, die Bundesrepublik nicht als Staat an. Sie verstehen sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, geltendes Recht nicht anzuwenden. Diese Verweigerungshaltung kommt durch entsprechende verbale Äußerungen gegenüber Polizisten und anderen Behördenmitarbeitern zum Ausdruck; außerdem leisten Reichsbürger und Selbstverwalter mitunter Widerstand gegen gerichtlich angeordnete Zwangsvollstreckungen oder die Rückgabe von amtlichen Identitätsnachweisen. Das Gros der Szene wendet sich jedoch mit schriftlichen Eingaben an Behörden und deren Mitarbeiter, um etwa die eigene Weltsicht – oft in pseudojuristischer Sprache und Argumentation – als die einzig richtige kundzutun. Das Internet dient Reichsbürgern und Selbstverwaltern als bevorzugtes Medium zur Verbreitung ihrer Weltanschauung sowie zu ihrer Kommunikation und Vernetzung. Mittels Webseiten, YouTube-Kanälen oder Präsenzen auf Social-Media-Plattformen prangert die Szene angebliche Missstände an und diskutiert bzw. verbreitet vermeintliche Lösungs- und Argumentationshilfen.

Affinität zu Waffen – Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse | Da der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene eine hohe Waffenaffinität zu eigen ist, gilt für sie seitens der hessischen Behörden in Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz – wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche – eine Nulltoleranzstrategie. Zahlreichen Reichsbürgern und Selbstverwaltern wurden bislang die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und Schusswaffen sichergestellt. Zum Ende des Berichtsjahrs lag die Anzahl entsprechender personenbezogener waffenrechtlicher Erlaubnisse im mittleren zweistelligen Bereich.

Entwicklungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie | In Betracht der COVID-19-Pandemie und aus Protest gegen die staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen vernetzte sich die Reichsbürger- und Selbstverwalterszene zusehends mit Anhängern verschiedener Verschwörungsnarrative, dabei vermischten sich beide Phänomenbereiche zunehmend miteinander.

Linksextremismus

Personenpotenzial | Das linksextremistische Personenpotenzial blieb – auch in den einzelnen Bereichen Autonome, Anarchisten und sonstige Linksextremisten – mit 2.600 Personen auf dem Niveau des Vorjahres. Dabei belief sich die Anzahl der Gewaltorientierten auf etwa 520 (= 20 Prozent). Unverändert bildete Frankfurt am Main – sowohl personell als auch strukturell – den Schwerpunkt der autonomen Szene in Hessen, allerdings konzentrierten sich etliche Aktivitäten nunmehr auch auf den Raum Nordhessen/Kassel sowie auf den Dannenröder Wald.

Szenebeherrschende Themen | Die Themen „Antifaschismus“, „Antimilitarismus“ sowie „Klima- und Umweltschutzpolitik“ bildeten die Kernanliegen der autonomen Szene in Hessen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit zielten sie alle auf eine Kritik des „Kapitalismus“, mit der in der linksextremistischen Ideologie letztlich die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung angestrebt wird.

Im Kontext „antifaschistischer“ Aktivitäten outeten Autonome nicht nur tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten, sondern nahmen auch sogenannte Querdenker sowie Angehörige von Burschenschaften und Mitglieder der AfD ins Visier. So veröffentlichte die Gruppe T.A.S.K. mehrere Berichte über Personen und Strukturen, die sie im Raum Nordhessen der „rechten Szene“ zuordnete. Aber auch andere Kampagnen waren Bestandteil des autonomen „Antifaschismus“: Anlässlich des 75. Jahrestags des 8. Mai 1945 lautete das Motto „Frankfurt am Main entnazifizieren!“ Den Prozessauftakt gegen die Angeklagten im Zusammenhang mit dem Mord an Dr. Walter Lübcke bedachten Autonome mit der Parole „Keine Einzeltäter“. Vor diesem Hintergrund demonstrierte die Szene aus verschiedenen Anlässen (unter anderem wegen Drohschreiben des NSU 2.0 und eines Polizeieinsatzes vor dem Szenetreff Klapperfeld in Frankfurt am Main) gegen den polizeilichen „Repressionsapparat“: Es reiche nicht aus, einzelne Rechtsterroristen zu verurteilen, sondern es gelte, „ihre Verbindungen in die Sicherheitsbehörden aufzudecken sowie Strukturen zu bekämpfen, die den Nährboden schaffen für Naziterror“. Linksextremistische Proteste in Frankfurt am Main („Solidarität statt Antisemitismus und Verschwörungsideologie“) gegen eine Demonstration der Querdenken-Bewegung schlugen im November in Gewalt um, sodass vier Polizeibeamte verletzt wurden.

Zu Gewalt kam es auch, als im Februar in Eschborn (Main-Taunus-Kreis) etwa 40 Personen in das Gebäude des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) eindrangen. Insgesamt unterstützten rund 100 Personen die Blockade der Behörde, im Anschluss kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Mit der Aktion, die dem autonomen Themenfeld „Antimilitarismus“ zuzuordnen ist, sollte gegen Krieg und Rüstungsexporte demonstriert werden. Eine ähnliche Aktion – dieses Mal friedlich – fand im August in Kassel statt, als Aktivisten die Werkszufahrt der Krauss-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG blockierten.

Die meisten und schwerwiegendsten Gewalttaten ereigneten sich im Rahmen der Besetzungs- und Blockadeaktionen im Dannenröder Wald, mit denen Aktivisten den Ausbau der A 49 verhindern wollten. Der versuchte Brandanschlag auf fünf Baustellenfahrzeuge, zu dem sich auf der linksextremistischen Internetplattform de.indymedia.org eine „Autonome Kleingruppe in Solidarität mit dem Kampf gegen die A 49“ bekannte, war ein erster Versuch gewaltorientierter Aktivisten, die Situation eskalieren zu lassen. Als die erhoffte Unterstützung – etwa seitens der linksextremistisch beeinflussten Klima- und Umweltschutzbewegung Ende Gelände – ausblieb, radikalisierte sich die Waldbesetzerszene zusehends: Vermehrt tauchten linksextremistische Symbole auf, linksextremistische Begriffe fanden Eingang in ihre Sprache, sodass der Protest eine entsprechende programmatische Ausrichtung „gegen Staat und Kapitalinteressen“ nahm. Vermehrt wurden Polizeibeamte angegriffen, im November kam es innerhalb von zwei Wochen zu vier Brandanschlägen auf Baufahrzeuge und Unternehmen, Aktivisten seilten sich von Autobahnbrücken ab und legten damit den Verkehr lahm.

Bemerkenswert ist, dass – ähnlich wie im Bereich der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie – eine Distanzierung von Extremisten fehlte. In Teilen gab es sogar keine klare Distanzierung von Straf- und Gewalttaten. So erklärte eine Sprecherin der Waldbesetzer: „Auf Aktionen autonomer Gruppen, die ihrer Wut Ausdruck verleihen, haben wir keinen Einfluss. Daher haben wir dazu als Waldbesetzung keinen Kommentar“.

Straf- und Gewalttaten | Vor diesem Hintergrund – insbesondere der Proteste im Dannenröder Wald – erhöhte sich nicht nur die Gesamtzahl der Straf- und Gewalttaten von 65 (2019) auf 110 (= 69 Prozent), sondern auch die Zahl der Gewalttaten um das nahezu Siebenfache von fünf (2019) auf 34. Sowohl die Gesamtzahl als auch die Zahl der Gewalttaten lag damit im Fünf-Jahreszeitraum von 2016 bis 2020 an höchster Stelle. Zu einer der schwerwiegendsten Gewalttaten kam es, als im Dannenröder Wald Aktivisten ein Halteseil einer Baumstammkonstruktion durchtrennten, um es auf Polizeibeamte stürzen zu lassen.

Deutsche Kommunistische Partei (DKP) | Der seit Jahren geführte Streit über die politische Ausrichtung der Partei (Reformer gegen Marxisten-Leninisten) und die Diskussionen über tagesaktuelle Fragen wie etwa die Klima- und Umweltschutzpolitik wurden aus dem Parteivorstand heraus wie folgt kommentiert: Die DKP mache „Fortschritte im Ringen um die Wiederverankerung in der Klasse“. Die seit Jahren anhaltende Krise der Partei setzte sich im Berichtsjahr fort und es gelang ihr bisher nicht, sich innerhalb der Klima- und Umweltschutzbewegung als Bündnispartnerin zu etablieren.

Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) | Die eng mit der DKP verbundene SDAJ verknüpfte die aus der COVID-19-Pandemie resultierenden wirtschaftlichen Herausforderungen mit der Parole „Gesundheit statt Profite“. Ihre Versuche, Anschluss an die Klima- und Umweltschutzbewegung zu finden, reduzierte die SDAJ sehr stark, so war sie auch bei den Protesten im Dannenröder Wald nicht präsent. Ebenso gingen die Aktionen der SDAJ zurück, was Flugblattverteilungen an Schulen in Hessen betraf. Im Zusammenhang mit den staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie verlagerte die SDAJ ihre Aktivitäten stattdessen vermehrt ins Internet. In diesem Rahmen versuchte sie, von dem Pandemiegeschehen betroffene Schüler für ihre politische Zwecke zu beeinflussen und zu instrumentalisieren.

Kommunistische Organisation (KO) | Die KO, die sich 2017 in Frankfurt am Main von der SDAJ abgespalten hatte, war weiterhin im Aufbau begriffen und trat im Berichtsjahr zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung. Bei einer Demonstration in Gießen (Landkreis Gießen) soll ein KO-Angehöriger laut Medienberichterstattung geäußert haben, dass die Novemberpogrome von 1938 eine „Inszenierung der Eliten“ gewesen seien, wogegen die deutsche Bevölkerung keinen Hass gegen Juden gehegt hätte. Im Internet wehrte sich die KO gegen den Vorwurf des „antisemitischen Geschichtsrevisionismus“: „Gerade ein Antifaschismus als Massenbewegung soll im Keim erstickt werden, um das herrschende System zu schützen“.

Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) | Mittels ihrer Kampagne „Gib Antikommunismus keine Chance!“ kritisierte die Partei die angebliche „Gleichsetzung von links und rechts“ und die „Verharmlosung des Faschismus“: „Denn die Faschisten ziehen ihre wesentliche Rechtfertigung aus dem Antikommunismus“. Darüber hinaus arbeitete die MLPD im Rahmen ihres Protests gegen die türkische Politik mit kurdischen Gruppierungen zusammen. Ihre Ablehnung der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie verknüpfte sie mit einer Kritik am „Kapitalismus“, indem sie von einer „freie[n] Fahrt für die Monopole und [einer] Abwälzung der Krisenlasten auf die Arbeiterklasse und die Massen“ sprach.

Rote Hilfe e. V. (RH) | Die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main rief zusammen mit dem RH-Bundesvorstand zu einer Spendenkampagne für die fünf Angeklagten des sogenannten Elbchaussee-Prozesses auf, die wegen Gewalttaten bei Protesten gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg vor Gericht gestanden hatten und verurteilt worden waren, dabei stammten vier der fünf Angeklagten aus dem Rhein-Main-Gebiet. Ebenso begleitete die RH Personen, die sich wegen einer Abseilaktion von Autobahnbrücken im Rahmen der Proteste gegen die Rodung des Dannenröder Walds in Untersuchungshaft befanden. Unter dem Motto „Free them all“ rief die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main zu Solidaritätsdemonstrationen auf.

Islamismus

Jihadistischer und politischer Salafismus | Wie im Vorjahr kam es in Hessen zu einer Reihe von Exekutivmaßnahmen und Verurteilungen im Bereich des jihadistischen Salafismus. Aufgrund der Durchsuchungen und Festnahmen wurden Anschlagsplanungen frühzeitig erkannt und somit vereitelt. Darüber hinaus begannen im April und im Dezember zwei weitere Prozesse gegen Angehörige des sogenannten Islamischen Staats (IS) vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main.

Der IS selbst baute seine Untergrundstrukturen in seinen ehemaligen Einflussgebieten im Mittleren Osten weiterhin aus, führte Guerilla-Angriffe durch und forderte seine Kämpfer dazu auf, aus den Internierungslagern auszubrechen. Die jihadistische Szene in Hessen verfolgte die Entwicklungen in Syrien und im Irak, wobei Szeneangehörige in Deutschland sich mit in Syrien inhaftierten Frauen und deren Kindern solidarisierten, indem sie zum Beispiel Spendenprojekte unterstützten. Eine Analyse des LfV in Bezug auf aus dem Mittleren Osten zurückgekehrte Frauen ergab, dass sich diese nur zu einem geringen Teil wieder in die salafistische Szene eingliederten bzw. sich zurück in alte Strukturen begaben. Auch lagen keine Erkenntnisse zu Netzwerken vor, die nach ihrer Rückkehr entstanden waren.

Gleichwohl war die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags in Deutschland unvermindert hoch. Seitdem sich der IS in seinen ehemaligen Einflussgebieten im Untergrund konsolidiert, stiegen die Anschlagsquantität und -qualität. Es gelang der Terrororganisation, ihre jihadistischen Botschaften (potenziellen) Anhängern und Sympathisanten zu vermitteln; diese wiederum verfassten selbst entsprechende Texte und verbreiteten sie eigeninitiativ im Internet. Die anhaltend hohe Gefährdungslage spiegelt sich in den im Berichtszeitraum in Frankreich, Österreich, Deutschland und in der Schweiz begangenen Anschlägen wider. So tötete in Dresden (Sachsen) ein Islamist einen Touristen und verletzte dessen Lebensgefährten schwer, der Attentäter von Wien hatte unter anderem Verbindungen nach Deutschland.

Im Bereich des politischen Salafismus fungierten entsprechend beeinflusste Moscheen nach wie vor als Treff- und Kontaktpunkte. Während es in Hessen nur vereinzelt Da’wa-Aktivitäten gab, erreichten salafistische Prediger ihr Publikum vor allem über das Internet. Identitätsstiftende ideologische Führungsfiguren bzw. überregionale Hauptakteure waren in der Szene des politischen Salafismus in Hessen nicht vorhanden. Zwar gibt es in der salafistischen Szene in Hessen Akteure, die über großes Ansehen genießen und hinsichtlich der Ideologie z. T. identitätsstiftend sind, gleichwohl ist nicht erkennbar, dass sie dieses Ansehen in einen Führungsanspruch ummünzen oder von einem Personenkreis als Führungspersonen wahrgenommen werden. Angesichts der Fragmentierung der Szene versuchten Salafisten im Bereich der Gefangenenhilfe, Inhaftierte weiterhin an die Szene zu binden, um so Resozialisierungsprozesse zu unterlaufen.

Das salafistische Personenpotenzial verharrte insgesamt auf dem Niveau der letzten fünf Jahre (1.650), das gilt auch für das islamistische Personenpotenzial insgesamt (4.170).

Straf- und Gewalttaten | Mit 35 Delikten gab es gegenüber 2019 (36) einen kaum merklichen Rückgang. War es im Vorjahr zu einer Gewalttat gekommen, gab es im Berichtsjahr nunmehr zwei.

Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie | Ebenso wie in anderen Phänomenbereichen reagierten auch im Islamismus viele Gruppierungen auf die COVID-19-Pandemie und die mit ihr verknüpften staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen. Das Spektrum der Reaktionen reichte von neutraler Berichterstattung über Warnhinweise und Verschwörungsnarrative bis hin zu Agitation gegen „den Westen“. Dabei wurde das Auftreten der Pandemie unterschiedlich interpretiert und in weiten Teilen in einen religiösen Kontext eingeordnet. So fanden sich in Videos und Beiträgen auf islamistischen Social-Media-Kanälen Weltuntergangsszenarien: Ein allgemein sündhaftes Verhalten der Menschen wurde darin als Ursache für die weltweite Pandemie gesehen und als „Strafe Allahs“ dargestellt. In diesem Zusammenhang warnten Akteure ebenso vor dem nahenden Tag des Jüngsten Gerichts.

In der islamistischen Szene wurde aber auch dazu aufgerufen, sich an Präventionsbemühungen zu beteiligen: Veranstaltungen, Freitagspredigten und Reiseaktivitäten sollten eingestellt werden. Alternativ zu persönlichen Treffen und Begegnungen versuchten einige Gruppierungen, auf technische und virtuelle Lösungen auszuweichen, zum Beispiel mittels Internet-Telefonie oder -konferenzen.

Hizb ut-Tahir (HuT, Partei der Befreiung) – Realität Islam (RI) | In Bezug auf den Anschlag in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) kreierte die HuT-nahe Gruppierung RI eine in den sozialen Medien verbreitete Bildcollage mit dem Textzusatz „Hanau 2000 – es hätte auch mich treffen können“. Den neunfachen Mord bewertete RI als „logische Konsequenz der politischen Richtung, […] andere Kulturen, allen voran die islamische Kultur, zu assimilieren und der Mehrheitsgesellschaft vollständig anzupassen“. Andererseits bezeichnete RI auf YouTube „unsere islamischen Werte als korrekt und selbstverständlich“. Wünschenswert sei, „dass die gesamte Menschheit danach lebt“. Indem RI sich in den sozialen Medien – insbesondere auf Twitter – verstärkt mit in Frankreich und Österreich virulenten Themen beschäftigte, versuchte die Gruppierung in der Öffentlichkeit insgesamt den Anschein zu erwecken, dass die Mehrheitsgesellschaft eine antimuslimische Agenda verfolge.

In ihrer Agitation lehnte sich RI an die Programmatik der mit einem Betätigungsverbot belegten HuT an und übernahm deren Anspruch, als Multiplikatorin und Propagandistin zu wirken. Ziel sei es, „islamische Persönlichkeiten“ auszubilden, um die „islamische Botschaft zu tragen und die intellektuelle Auseinandersetzung und den politischen Kampf zu führen“.

Muslimbruderschaft (MB) | Die Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) als wichtigste Organisation des deutschen MB-Netzwerks versuchte, ihre Vergangenheit als frühere Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) abzustreifen. Allerdings distanzierte sich die DMG nur von bestimmten Aussagen des maßgeblichen MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi und erkannte dessen Expertise in vielen Gebieten nach wie vor an. Dies zeigt, dass keine Änderung an der Programmatik der DMG beabsichtigt ist, auch wenn sie versuchte, mittels auf ihrer Internetseite veröffentlichten Positionen ein anderes Bild zu erzeugen. Die Mitgliedschaft der DMG beim Zentralrat der Muslime (ZMD) ruht, bis über ihre Klage gegen ihre Nennung als MB-nahe Organisation im vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat herausgegebenen Verfassungsschutzbericht entschieden sein wird.

Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) | Die unter anderem im Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. (SP Hessen) organisierten Anhänger der Millî-Görüş-Bewegung gedachten wie in jedem Jahr ihres 2011 verstorbenen Anführers Necmettin Erbakan und nutzen das entsprechende „Erinnerungs- und Erkenntnisprogramm“, um Kontakte zu pflegen und auszubauen. Auch die Erbakan Vakfi (Erbakan-Stiftung) verbreitete positive Beiträge über den Verstorbenen, darunter befanden sich antisemitische Inhalte und Aussagen über die angebliche Vollkommenheit und Überlegenheit des Islams. Antisemitisches fand sich ebenfalls in der Millî Gazete, die als Sprachrohr der Millî-Görüş-Bewegung fungiert.

Extremismus mit Auslandsbezug

Personenpotenzial | Das seit Jahren konstant hohe Niveau des Personenpotenzials änderte sich gegenüber dem Vorjahr nicht und blieb bei 4.195 Personen.

Partiya Karkerên Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) | Anhänger der PKK konzentrierten sich im Berichtsjahr auf Aktionen, mit denen sie zweierlei verbanden: Sie forderten die Haftentlassung ihres Anführers Abdullah Öcalan und protestierten gegen die antikurdische Politik der Türkei. So fand im Februar unter dem Motto „Freiheit für Öcalan – Schulter an Schulter gegen den Faschismus“ ein Marsch statt, der in mehreren Etappen von Luxemburg nach Strasbourg (Frankreich) führte. In diesem Zusammenhang wurden auch drei Sternmärsche durchgeführt, von denen einer von Frankfurt am Main nach Saarbrücken (Saarland) führte. Dabei kam es immer wieder zu Verstößen gegen das Vereins- und Versammlungsgesetz sowie zu teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen mit nationalistischen Türken. Straftaten (Sachbeschädigungen durch Sprühaktionen) ereigneten sich auch im September, nachdem der europäische Dachverband der PKK-nahen Vereine zu europaweiten Protestkundgebungen („Öcalan verteidigen, heißt die Menschheit verteidigen“) aufgerufen hatte. An den Veranstaltungen in Kassel, Darmstadt und Frankfurt am Main nahmen mitunter deutsche Linksextremisten teil. Demonstrationen im Rahmen eines bundesweiten Aktionstags im Oktober („Freiheit für Öcalan! – Für ein Ende des Faschismus und der Besatzung“) verliefen – unter Beachtung der pandemiebedingten Hygiene- und Abstandsregeln – friedlich. Das galt auch für Veranstaltungen, die im November in Hessen aus Protest gegen das PKK-Betätigungsverbot stattfanden.

Abgesehen von diesen öffentlichen Veranstaltungen beschränkten sich die Aktivitäten der PKK-Anhänger in Hessen, bedingt durch die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie, im Wesentlichen auf Veröffentlichungen und Aufrufe in den sozialen Medien. Die für den 21. März in Frankfurt am Main geplante zentrale Newroz-Feier wurde abgesagt.

Straf- und Gewalttaten | Die Gesamtzahl der Straf- und Gewalttaten reduzierte sich deutlich um mehr als die Hälfte von 73 (2019) auf 32. Die Zahl der Gewalttaten sank von vier Delikten auf ein Delikt.

Organisierte Kriminalität (OK)

OK-Gruppierungen bedrohen die Grundlagen unserer Gesellschaft, indem sie auf verschiedenen Gebieten in vielfacher Weise die Macht einer kriminellen Organisation durchsetzen wollen. Im Bereich der Rockerkriminalität konzentrierte sich das LfV auf die Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG) und rockerähnliche Gruppierungen, deren Aktionsräume im Rhein-Main-Gebiet lagen. OMCG waren Hauptakteure von Machtansprüchen bei Menschenhandel und Zwangsprostitution, wobei es in den vergangenen Jahren immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, bei denen auch Schusswaffen eingesetzt wurden.

Ebenso beobachtete das LfV die russisch-eurasische OK, die von in Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion geborenen Personen dominiert wurde. Von Bedeutung waren hierbei insbesondere die sogenannten Diebe im Gesetz und die Bandenkriminalität. In Bezug auf die italienische OK bildeten Geldwäsche, der internationale Kokainhandel/-schmuggel sowie Schutzgelderpressungen Schwerpunkte der Beobachtung des LfV.

Spionage- und Cyberabwehr/Wirtschaftsschutz

Das LfV ging Hinweisen auf nachrichtendienstliche Aktivitäten nach, die sich gegen deutsche Interessen richteten, wobei es keine Rolle spielte, welcher fremde Staat sich hinter diesen Aktivitäten zu verbergen suchte. In diesem Rahmen bildete der Wirtschaftsschutz als präventiver Teil der Spionageabwehr einen festen Bestandteil der Aufgaben des LfV. Die Schwerpunkte der Spionageabwehr lagen auf der Beobachtung entsprechender chinesischer, russischer, iranischer und türkischer Aktivitäten. Darüber hinaus wurden indische, syrische, pakistanische, vietnamesische und nordkoreanische Aktivitäten festgestellt.

Neben den klassischen Zielen (zum Beispiel Politik, Wirtschaft, Militär und Forschung) standen die Finanzbranche und Einrichtungen der Kritischen Infrastruktur (KRITIS) im Fokus fremder Staaten. Vor allem im Rahmen der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie tätige Forschungseinrichtungen, Unternehmen und Einrichtungen befanden sich im Visier fremder Staaten.

Im Verlauf der Pandemie entwickelte sich eine Auseinandersetzung darüber, welcher Staat und welche Gesellschaftsordnung mit der Bewältigung dieser Herausforderung besser umgehen konnten. Ziele entsprechender Einflussnahmeversuche und Desinformationskampagnen fremder Staaten war es unter anderem, das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Stabilität und Funktionalität des Staats sowie seiner Institutionen und seiner Repräsentanten zu beschädigen und die angebliche Überlegenheit des eigenen Gesellschaftsmodells zu propagieren. Dies galt insbesondere für Russland und China. Die in diesem Rahmen bekanntgewordenen Aktivitäten entfalteten sich hauptsächlich über das Internet.

In diesem Kontext wuchs auch die Gefahr von Cyberangriffen; so verschickten Angreifer Phishing-Mails und Links mit gefälschten Nachrichten zur COVID-19-Pandemie oder gefälschte Angebote für Software, wie sie im Home Office benötigt wurden. Ein wichtiger Kooperationspartner des LfV im Kampf gegen Cyberangriffe war das für die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Computer Emergency Response Team (CERT) und Verfassungsschutz ins Leben gerufene Hessen Cyber Competence Center (Hessen3C).

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