Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2020

Islamismus

Merkmale

Der Islam als Religion wird vom Verfassungsschutz nicht beobachtet. Muslime genießen – wie Anhänger aller anderen Religionen auch – in Deutschland das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes. Unter Islamismus wird eine politische Ideologie verstanden, deren Zweck es ist, die bestehende Gesellschaftsordnung nach islamischen Vorstellungen vollständig zu verändern und deren Rechtsgrundlagen, Werte und Herrschaftsordnungen entscheidend umzugestalten oder gänzlich abzuschaffen.

Islamistische Bestrebungen manifestieren sich, wenn das Handeln von Personen in einem oder für einen Personenzusammenschluss ziel- und zweckgerichtet danach ausgerichtet ist, gesellschaftliche und institutionalisierte Bereiche in einer Weise grundlegend und nachhaltig gemäß islamischen Prinzipien umzugestalten. Auf diese Weise zielen islamistische Bestrebungen darauf ab, einen oder mehrere zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu zählende Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Dies kann mittels Gewaltanwendung oder Nutzung „legaler“ Möglichkeiten geschehen. Diese Bestrebungen gründen sich auf einem Islamverständnis, das islamische Glaubensquellen und andere bedeutsame Überlieferungen in eigener Weise interpretiert. Dieses Verständnis repräsentiert daher nicht eine unabdingbar gültige Auslegung des Islams und seiner Praktizierung, vielmehr erheben islamistische Lesarten den Anspruch, eine allgemeinverbindliche Form des Islams erkannt zu haben und dessen Einhaltung diktieren zu können.

Auf einen Blick
  • Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus
  • Entstehung des Islamismus
  • Ziele des Islamismus
  • Spielarten des Islamismus

Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus | Die totalitäre Veränderung einer Gesellschaft nach islamistischen Vorstellungen widerspricht elementar den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und dem demokratischen Gefüge generell: Rechtsstaatlichkeit sowie unveräußerliche Menschen- und Bürgerrechte sollen vollständig überwunden werden. Das politische System einer demokratisch legitimierten Volksvertretung würde durch eine totalitär agierende Theokratie und von Menschen gemachte Gesetze würden durch sogenanntes göttliches Recht ersetzt werden.

Islamisten sind nicht auf Reformen bedacht, um im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung friedlich in einer pluralistischen Gesellschaft zu leben, sondern streben nach einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse. Dabei werden nicht nur dem islamistischen Terrorismus zuzurechnende Gewalttaten verübt. Die Mehrheit der Islamisten in Hessen, oft in Vereinen organisiert, nutzt weitaus subtilere Mittel: Sie strebt nach einflussreichen Positionen und versucht, ihre Interessen durch das Eindringen in relevante Bereiche von Politik und Gesellschaft zu vertreten.

Entstehung des Islamismus | Der Islamismus nach heutigem Verständnis entwickelte sich im Nahen und Mittleren Osten des späten 18. und 19. Jahrhunderts als Gegenreaktion auf lokale Herrschaftsverhältnisse und als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus: In zahlreichen islamisch geprägten Ländern versuchten Gruppierungen unterschiedlichsten Herkommens, sich gegen Benachteiligungen und Repressionen der Kolonialmächte zu wehren.

Aus einer Wiederbelebung der islamischen Identität, hierbei gab es durchaus Unterschiede in der ideologischen Auslegung, erhofften sich insbesondere Islamisten das Erstarken ihrer Religion. Sie verbanden damit eine Universallösung für sämtliche gesellschaftlichen Probleme. Despoten sollten nicht länger die muslimische Gemeinschaft und den Islam unterdrücken. Erst das Überwinden „unislamischer“ Herrscher würde den Weg ebnen, an „glorreiche Zeiten“ des Frühislams anzuknüpfen, die Machtverhältnisse neu zu bestimmen und alle Muslime in eine Weltgemeinde zu führen.

Ziele im Islamismus | Obwohl sich islamistische Bewegungen im Laufe der Zeit in zum Teil deutlich unterschiedliche Richtungen entwickelten, ist ihnen ein ideologischer Kern gemeinsam: Es ist die Vorstellung, sämtliche Probleme der Gegenwart durch eine Rückkehr zu einer idealisierten, längst vergangenen islamischen Frühzeit zu heilen und auf diese Weise eine universelle Ordnung zu schaffen, die dem Islam und seiner Glaubensgemeinschaft den höchsten Stellenwert einräumt. Für Gegenwart und Zukunft soll der Islam die allein gültige gesellschaftliche und rechtliche Norm bilden.

Islamisten akzeptieren in der Regel somit nur den Koran und die überlieferte Prophetentradition (Sunna) als Grundlage für islamrechtliche Entscheidungen und Regelungen. Darüber hinaus brandmarken Islamisten die Standpunkte der etablierten islamischen Rechtsschulen als ungültige Veränderungen des Islams oder interpretieren sie zugunsten der eigenen islamistischen Auffassungen. Die Mittel und Methoden vieler Islamisten zur Rechtsfindung reduzieren sich auf wenige frühislamische Prinzipien. Diese lassen keinen Spielraum für theologische Auslegungen außerhalb des Islams zuzeiten des Propheten Muhammad zu.

Nach der Auffassung von Islamisten soll der Rückgriff auf ursprüngliche islamische Quellen Antworten auf Probleme der Moderne geben. Fragen der Zukunft soll mit Antworten aus der Vergangenheit begegnet werden. Dies bildet den Ausgangspunkt für islamistische Aktivitäten. Würden die islamistischen Ziele konsequent umgesetzt, hätte dies die weltweite Islamisierung, abhängig von der jeweiligen Spielart des Islamismus, zur Folge. Am Ende dieses – in islamistischer Perspektive – „Erweckungsprozesses“ stünde ein religiös institutionalisierter Machtbereich, der als staatsähnliche Ordnung dem Kalifat vergangener Zeiten gleichen würde.

Spielarten des Islamismus | Abhängig von Zeit und Ort zeigt sich der Islamismus auch in Deutschland in vielfältigen Formen. Häufig übernehmen Islamisten die ideologischen Grundlagen der Kernbewegungen aus dem Ausland. Das Nutzen legaler Mittel in einer Demokratie, die aus islamistischer Sicht keine Gültigkeit besitzt, ist ein Wesensmerkmal des legalen Islamismus. Das hierzu gehörende Personenpotenzial wird mit der Bezeichnung „Legalisten“ beschrieben, der Phänomenbereich selbst wird als „legalistischer Islamismus“ bezeichnet.

„Legalisten“ versuchen im Einklang mit den Gesetzen, ihren Einflussraum durch politische Teilhabe auszudehnen. Mittels kommunaler, regionaler, aber auch landespolitischer Aktivitäten sollen Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unterminiert und auf lange Sicht überwunden werden, um den eigenen islamistischen Interessen Rechnung zu tragen. Extremismusvorwürfe weisen „Legalisten“ konsequent und selbstbewusst zurück und versehen sie mit dem Etikett „Islamfeindlichkeit“.

Eine besondere Spielart des Islamismus stellt der Salafismus dar. Salafisten sehen sich als Verfechter eines ursprünglichen, unverfälschten Islams. Sie geben vor, ihre religiöse Praxis und Lebensführung ausschließlich an den Prinzipien des Koran, an dem Vorbild des Propheten Muhammad und an den ersten drei muslimischen Generationen, den sogenannten rechtschaffenen Altvorderen (arab. al-salaf al-salih ), auszurichten. Das Handeln nach dem Vorbild der Altvorderen betrifft dabei nicht nur religiöse Fragen, sondern ebenso Politik, Wirtschaft und so gut wie alle Lebensbereiche. Folglich versuchen Salafisten, einen Gottesstaat nach ihrer Auslegung der Regeln der Scharia zu errichten, in dem die freiheitliche demokratische Grundordnung keine Geltung mehr hätte. Zur Umsetzung ihrer Ziele greifen Salafisten auf unterschiedliche Mittel bis hin zur Gewaltanwendung zurück. Hier ist zwischen dem politischen und jihadistischen Salafismus zu differenzieren (siehe Kapitel Salafismus). Den Einsatz von Gewaltmitteln sehen Jihadisten dabei als religiös gerechtfertigt.

Auch andere islamistische Gruppen schrecken zwecks Durchsetzung ihrer Ziele nicht vor Gewalttaten zurück. Sie nutzen Deutschland in der Regel als Rückzugsraum oder auch als Operationsfeld für logistische und finanzielle Zwecke, um die jeweilige Gruppierung im Herkunftsland zu unterstützen.

Islamistisches Personenpotenzial

Das Personenpotenzial in Hessen blieb gegenüber dem vorherigen Berichtsjahr unverändert. (Siehe im Glossar auch die Erläuterung zum Begriff Personenpotenzial.)

2020 2019 2018 2017 2016
Islamisten gesamt
Hessen 4.170 4.170 4.170 4.170 4.170
Bund 28.715 28.020 26.560 25.810 24.400
davon Salafisten
Hessen 1.650 1.650 1.650 1.650 1.650
Bund 12.150 12.150 11.300 10.800 9.700

Salafismus

Definition/Kerndaten

Der Salafismus setzt sich ideologisch aus einer politischen und einer jihadistischen Bewegung zusammen. Politische wie jihadistische Salafisten weichen in ihrem ideologischen Kern nicht von anderen islamischen Erweckungsbewegungen ab. Auch Anhänger eines salafistischen Islamverständnisses streben nach der Rückkehr zu den angeblich einzig gültigen Glaubensprinzipien, wie sie Überlieferungen zufolge in der Frühzeit im Umfeld Muhammads entstanden waren und praktiziert wurden.

Anstatt ihre Religionsauffassung und -praxis an die Gegenwart anzupassen, propagieren Salafisten die idealisierte Re-Islamisierung gemäß angeblich unverfälschter Werte im Einklang mit den Geboten Allahs. Das salafistische Ziel liegt in der Wiederentdeckung des „reinen Islams“, seiner Erhaltung und universellen Ausdehnung. Im Diesseits ist nach salafistischer Auffassung eine gottgefällige Lebensweise nur möglich, wenn die Lebensweise des Propheten Muhammad eine Nachahmung erfährt und die göttlichen Regeln und Prinzipien beachtet werden. Ein Kalifat nach historischem Vorbild wird in diesem Zusammenhang häufig als geeignete Option für ein solches Gesellschaftsmodell angesehen.

Auf einen Blick
  • Spielarten des Salafismus
  • Politischer Salafismus
  • Jihadistischer Salafismus

Spielarten des Salafismus | Die Anhänger des Salafismus lassen sich in zwei Strömungen einteilen: Politische Salafisten sind missionarisch aktiv, indem sie die Bekehrung zum Islam und die Verbreitung des islamischen Glaubens (arab. da’wa ) betreiben. Jihadistische Salafisten rücken hingegen den gewaltsamen Kampf, den sie mit der Einhaltung göttlicher Regeln und Prinzipien rechtfertigen, in das Zentrum ihrer ideologischen Auffassung und bilden damit den Ausgangspunkt für ihre islamistischen Bestrebungen.

Der Übergang zwischen beiden Strömungen kann fließend sein. In Hessen ist weiterhin der Großteil der Salafisten dem Spektrum des politischen Salafismus zuzurechnen. Allerdings steigt der Anteil derer, die mit jihadistischem Gedankengut sympathisieren. Mit einem Personenpotenzial von etwa 1.650 blieb im Berichtsjahr in Hessen die Gesamtzahl der Salafisten im Vergleich zu den Vorjahren konstant und war weiterhin besorgniserregend hoch.

Politischer Salafismus | Der politische Salafismus ist in der Regel von gewaltlosen Aktivitäten gekennzeichnet. Das salafistische Islamverständnis verlangt, die Reinheit des Islams zu bewahren und seine Authentizität wiederherzustellen, wo es notwendig erscheint. Daher nutzen politische Salafisten Formen der religiösen Erziehung und der im Hintergrund – ohne politisches Aufsehen erregenden – tätigen Beratung (arab. nasiha ). Auf diese Weise wollen politische Salafisten ihr Umfeld auf den angeblich wahren Weg Allahs zurückführen und zum Übertritt zum Islam nach ihrem Verständnis bekehren. Grundsätzlich meiden Salafisten das politische Engagement, um die Reinheit der Doktrin des tauhid (Monotheismus) zu erhalten und vor angeblich islamfremden Einflüssen zu schützen. Salafisten sind daher in Deutschland weder parteipolitisch noch in vergleichbarer Form im öffentlichen Diskurs im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Gestaltungsprozesse aktiv. Dennoch kann die salafistische Doktrin auf gesellschaftliche Bereiche einwirken und somit politischen Einfluss entwickeln. Der Einsatz von Gewalt ist bei politischen Salafisten nicht kategorisch auszuschließen, stellt jedoch im Kontrast zu den Anhängern des globalen Jihadismus nicht per se ihr bevorzugtes Mittel zur Veränderung der Verhältnisse dar.

Jihadistischer Salafismus | Jihadistische Salafisten teilen zentrale Glaubensprinzipien des politischen Salafismus, bilden daraus jedoch Legitimationen für eigene Handlungsmuster. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal ergibt sich aus dem Verhältnis zur Gewalt. Der „Anstrengung für Allah“ (arab. jihad ) messen Jihadisten eine gewaltorientierte, aktiv-kämpferische Komponente bei, die zur individuellen Glaubenspflicht erhoben wird und dadurch in ihrer Perspektive die Durchsetzung revolutionärer Zwecke rechtfertigt.

Entgegen der Agenda des politischen Salafismus sehen Jihadisten primär in der Gewaltanwendung die Möglichkeit, „Tyrannen“ und „Ungläubige“ zu bekämpfen. Verhaftet in den islamischen Überlieferungen vom Tag des Jüngsten Gerichts, streben Jihadisten nach der Auslöschung aller „unislamischen“, „ungläubigen“ Elemente, die sie in Regierungen, anderen Religionen und auch anderen islamischen Glaubensgemeinschaften verkörpert sehen. Der gewaltsame „kleine Jihad“ besitzt in den ideologischen Auffassungen der verschiedenen Gruppen, die insgesamt den globalen Jihadismus bilden, unterschiedliche Formen und wird entsprechend vielfältig legitimiert und angewendet. Während der „kleine Jihad“ den kämpferischen Einsatz zur Verteidigung oder Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebiets beschreibt, bezeichnet der „große Jihad“ das geistig-spirituelle Bemühen der Gläubigen, um das richtige religiöse und moralische Verhalten gegenüber Allah und den Mitmenschen einzulösen.

Jihadistische Salafisten zielen im Gegensatz zu politischen Salafisten auf die gewaltsame Beseitigung bzw. Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder nehmen bewusst deren Schädigung in Kauf.

Ereignisse/Entwicklungen im politischen Salafismus

Im Berichtsjahr waren nur vereinzelte Da’wa -Aktionen von politischen Salafisten festzustellen, die über „Street- Da’wa “ versuchten, Literatur an Passanten zu verteilen. Salafistisch beeinflusste Moscheen fungierten weiterhin als Treff- und Kontaktpunkte für Personen aus dem salafistischen Spektrum. Salafistische Prediger erreichten vor allem über ihre Internetauftritte ihr Publikum. Im Bereich der Gefangenenhilfe hatten die Aktivitäten von Salafisten das Ziel, Anhänger der Szene zu binden und Resozialisierungsprozesse zu verhindern. Generell ist eine Fragmentierung der salafistischen Szene festzustellen, die auch in erfolgreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren begründet liegt. Durch verschiedene Verbotsverfahren auf Bundes- und Länderebene wurden Ressourcen und Strukturen eingeschränkt, auf welche die Szeneangehörigen für ihre Aktivitäten angewiesen sind.

Auf einen Blick
  • Da’wa -Aktivitäten
  • Prediger und Moscheen
  • Gefangenenhilfe

Da’wa -Aktivitäten | In Hessen gab es nur vereinzelte Da’wa -Aktivitäten, die selten im öffentlichen Raum stattfanden. Nach dem Verbot der bundesweit tätigen Vereinigung Die Wahre Religion (DWR) im November 2016, ging auch in Hessen die Zahl der von Salafisten betriebenen Infostände zurück. So waren im Berichtsjahr keine Aktivitäten des „We-Love-Muhammad“-Projekts zu verzeichnen. Dessen Betreiber konnten nur wenige Akteure rekrutieren und es gelang ihnen nicht, die Strukturen in Hessen über das Rhein-Main-Gebiet hinaus dauerhaft auszubauen. Einzig mit dem „Street- Da’wa “-Projekt „Was ist Islam?“ zeigten einige wenige Akteure in Frankfurt am Main Präsenz und verteilten auf der Zeil islamistische Literatur an Passanten.

Prediger und Moscheen | Salafistische Prediger erreichten vor allem über ihre Internetauftritte ihr Publikum. Angepasst an die Bedürfnisse und Interessen ihrer Zielgruppe sprachen sie über allgemeinreligiöse und alltägliche Themen. Dabei wurden salafistische Ideologieelemente und Ratschläge für den Alltag miteinander verknüpft, darüber hinaus wurden Online-Kurse angeboten. Insgesamt fehlten jedoch im Berichtsjahr identitätsstiftende und damit gemeinschaftsfördernde ideologische Führungsfiguren bzw. überregionale Hauptakteure, sodass es keine Veranstaltungen gab, die gemeinsam besucht werden konnten.

Auch wenn sich die Aktivitäten politischer Salafisten immer mehr in den privaten Raum verlagerten, fungierten salafistisch beeinflusste Moscheen weiterhin als Treff- und Kontaktpunkte für Personen aus dem salafistischen Spektrum.

Gefangenenhilfe | Im Bereich der Gefangenenhilfe zielten die Aktivitäten von Salafisten auch im Berichtsjahr darauf ab, Anhänger der Szene an sich zu binden, zu stärken und zu unterstützen. Vorrangig sollten Resozialisierungsprozesse verhindert werden. Entsprechende Aktionen fanden auch statt, wenn Salafisten bei Gerichtsverhandlungen Präsenz zeigten, um sich mit den Angeklagten zu solidarisieren.

Ereignisse/Entwicklungen im jihadistischen Salafismus

Ihre Untergrundstrukturen in ihren ehemaligen Einflussgebieten im Mittleren Osten baute die terroristische Organisation Islamischer Staat (IS) weiter aus, sodass sie diese für Anschläge auf lokale Machthaber und staatliche Strukturen nutzen konnte. Der IS führte zunehmend Guerilla-Attacken durch und rief seine Kämpfer zum Ausbruch aus Internierungslagern auf. Dabei nutzte die Gruppierung Schwächen örtlicher Sicherheitsstrukturen aus. Auch in Nord- und Westafrika sowie in Asien waren Ableger des IS weiterhin aktiv.

Versuchte der IS nach wie vor, sich im Nahen Osten und in Asien neu zu organisieren, war noch kein koordiniertes Vorgehen in Westeuropa mit konkreten Planungen und Strukturen festzustellen. IS-Propaganda, aber auch bereits verübte Anschläge können radikalisierte, allein handelnde Täter weiterhin zu Taten sowie zu Bekenntnissen zum IS motivieren. In Hessen kam es auch im Berichtsjahr zu Exekutivmaßnahmen, wodurch Anschlagsplanungen einzelner Personengruppen frühzeitig erkannt und vereitelt wurden.

Auf einen Blick
  • Exekutivmaßnahmen
  • Verurteilungen
  • Bundesweite Anzahl der jihadistisch motivierten
    Ausreisefälle
  • Hessenweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle
  • Rückkehrer-Problematik Frauen und Kinder
  • Solidarisierung mit inhaftierten Frauen in Camps in Nordostsyrien
  • Weiterhin bestehendes Anschlagspotenzial des IS
  • Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie
  • Jihadistisch motivierte Anschläge in Europa

Exekutivmaßnahmen | Im Rahmen der Festnahme von vier mutmaßlichen Mitgliedern einer IS-Zelle in Nordrhein-Westfalen wurde im April in Dillenburg (Lahn-Dill-Kreis) ein Objekt durchsucht. Die Festgenommenen sollen sich im Januar 2019 dem IS angeschlossen und eine Zelle in Deutschland gegründet haben. Zunächst hatten sie geplant, nach Tadschikistan auszureisen, um dort im Rahmen des bewaffneten Jihad an Kämpfen gegen die Regierung teilzunehmen. Nachdem sie davon Abstand genommen hatten, beabsichtigten sie, in Deutschland tödliche Anschläge zu begehen. Entsprechende Anweisungen sollen sie von zwei hochrangigen IS-Führungsmitgliedern aus Syrien und Afghanistan erhalten haben.

Im Oktober wurde ein 28-jähriger Gefährder aus Hessen in die Türkei abgeschoben und mit einer fünfjährigen Einreisesperre belegt. Er hatte regelmäßig einschlägige und zum Teil gewaltverherrlichende Propaganda im Sinne der Ideologie des islamistischen Terrorismus – insbesondere des IS – gepostet und diese mit Nashids (Kampflieder) unterlegt.

Nach dem islamistischen Anschlag von Wien (Österreich) am 2. November durchsuchte die Polizei im November Wohnungen und Gebetsräume von vier Personen in Niedersachsen, Hessen und Schleswig-Holstein. In Kassel galt eine Person als Kontaktmann des Wiener Attentäters. Bei der Durchsuchung in Kassel wurden Kommunikationsmittel beschlagnahmt.

Verurteilungen | Im Januar verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts (LG) Frankfurt am Main vom Dezember 2018 als offensichtlich unbegründet. Der Islamist war wegen Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Das LG hatte es als erwiesen angesehen, dass der Angeklagte 2013 einem seinerzeit 16-Jährigen durch Buchung und Übergabe eines Flugtickets geholfen hatte, auf dem Luftweg über die Türkei nach Syrien auszureisen, um sich dort im Umgang mit Schusswaffen und Sprengvorrichtungen durch eine islamistisch-terroristische Gruppierung zu unterziehen und danach an deren Kampfhandlungen gegen das syrische Regime teilzunehmen. Der Jugendliche war bei einem dieser Einsätze 2014 ums Leben gekommen.

Im April begann vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main die Hauptverhandlung gegen einen 27-Jährigen wegen Völkermordes, Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechens gegen Personen, Mordes und Menschenhandels im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Von 2013 bis 2019 soll der Angeklagte in Syrien, im Irak und in der Türkei Mitglied einer ausländischen terroristischen Vereinigung, das heißt des IS, gewesen sein. In diesem Zusammenhang wird ihm vorgeworfen, 2015 eine der Glaubensgemeinschaft der Jesiden angehörende Frau und deren fünfjährige Tochter als Sklavinnen gekauft zu haben. Neben Annehmlichkeiten in seinem Haushalt habe er damit beabsichtigt, die religiöse Minderheit der Jesiden – im Einklang mit den Zielen des IS – zu vernichten. Bei einer „Strafaktion“ soll der Angeklagte das Kind ungeschützt vor der Sonne an ein Fenster gefesselt haben, in Folge dessen es verstorben sein soll.

Im Mai verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen 26-Jährigen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Das Urteil ist rechtskräftig. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Im Juli 2013 hatte er sich gemeinsam mit fünf anderen jungen Männern der islamistischen Gruppierung Daula Muhajirin angeschlossen, die wiederum einen Monat zuvor dem IS beigetreten war und in einer Militärbasis in der Nähe von Aleppo (Syrien) Freiwillige für den bewaffneten Kampf ausbildete. Der Angeklagte ließ sich vom IS als Kämpfer registrieren und hielt sich für ungefähr einen Monat in der Militärbasis auf. In dieser Zeit nahm er an Übungen zum Schutz vor Flugzeugangriffen sowie an religiösen und kampfbezogenen Gruppengesprächen teil und wirkte an Baumaßnahmen im Ausbildungslager mit.

Wegen der Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags sowie wegen Körperverletzung verurteilte das LG Frankfurt am Main im September einen IS-Sympathisanten zu fünf Jahren und acht Monaten Haft. Das Urteil ist rechtskräftig. In der Wohnung des 25-Jährigen hatte die Polizei bei seiner Festnahme im November 2019 Grundstoffe zur Sprengstoffherstellung sichergestellt. In islamistischen Chat-Gruppen hatte er angegeben, in Frankfurt am Main ein Restaurant in die Luft sprengen zu wollen.

Im Dezember 2020 begann die Hauptverhandlung gegen eine IS-Rückkehrerin aus Hessen wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und wegen weiterer Taten vor dem OLG Frankfurt am Main. Ihr wird zur Last gelegt, sich 2014 in Syrien dem IS angeschlossen zu haben. Dort habe sie einen IS-Anhänger aus Deutschland geheiratet. Aufgabe der Angeklagten soll es gewesen sein, ihn bei seinen Kampfeinsätzen in wechselnden Gebieten Syriens und des Iraks zu unterstützen, indem sie – wie seitens des IS für die Ehefrau eines Kämpfers vorgesehen – den Haushalt geführt, ihn versorgt und seine Kampfeinsätze befürwortet habe. Zudem soll die Angeklagte im IS-Gebiet ein Haus bezogen haben, das ihnen von der Terrororganisation zur Festigung des eigenen Herrschafts- und Gebietsanspruchs zugewiesen worden sei, wobei dessen rechtmäßige Inhaber vertrieben, inhaftiert oder getötet worden sein sollen. Auch habe die Angeklagte zumindest zeitweise über ein vollautomatisches Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow verfügt.

Bundesweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle | Zum Ende des Berichtzeitraums lagen zu insgesamt 1.070 deutschen Islamisten aus Deutschland, die in Richtung Syrien/Irak gereist waren, Erkenntnisse vor. Zu etwa der Hälfte der gereisten Personen lagen konkrete Anhaltspunkte vor, dass sie auf Seiten des IS und der terroristischen Organisation al-Qaida oder diesen nahestehenden Gruppierungen und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilgenommen oder diese in sonstiger Weise unterstützt hatten. Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich.

Der überwiegende Teil der insgesamt 1.070 Ausgereisten war zum Zeitpunkt der Ausreise jünger als 30 Jahre. Etwa ein Drittel dieser Personen kehrte wieder nach Deutschland zurück. Zu über 100 der bislang zurückgekehrten Personen lagen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, wonach diese sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten.

Nachdem der IS seine territoriale Basis verloren hat, lagen Erkenntnisse zu aus Deutschland ausgereisten Personen im unteren dreistelligen Bereich vor, die aus Syrien bzw. dem Irak ausreisen möchten und/oder die sich dort in Haft bzw. Gewahrsam befanden. Zur Mehrheit dieser Personen lagen Erkenntnisse vor, dass sie beabsichtigten unter anderem nach Deutschland zurückzukehren.

Hessenweite Anzahl der jihadistisch motivierten Ausreisefälle | Den hessischen Sicherheitsbehörden lagen im Berichtszeitraum Erkenntnisse zu etwa 150 Islamisten aus Hessen vor, die in Richtung Syrien oder Irak reisten, um dort auf Seiten des IS und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese in sonstiger Weise zu unterstützen. Einzelne Ausreisesachverhalte wurden erst nachträglich bekannt. Neue Ausreisen in Richtung Syrien/Irak wurden nur noch sehr vereinzelt registriert.

Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich. Dem Bundestrend entsprechend war der überwiegende Teil der insgesamt 150 ausgereisten Personen zum Zeitpunkt der Ausreise jünger als 30 Jahre. Nicht in allen Fällen lagen Erkenntnisse vor, dass sich diese Personen tatsächlich in Syrien bzw. im Irak aufhalten oder aufhielten. Etwa ein Viertel der Ausgereisten kehrte bis Ende 2020 nach Hessen zurück.

Darüber hinaus lagen Erkenntnisse zu aus Hessen ausgereisten Personen im niedrigen zweistelligen Bereich vor, die sich in Syrien bzw. im Irak in Haft bzw. in Gewahrsam befanden. Mehrheitlich handelte es sich um weibliche Personen, der Großteil von ihnen war in Begleitung von Kindern.

Zur Hälfte der Rückkehrer lagen den Behörden keine belastbaren Informationen vor, dass sich diese aktiv an Kampfhandlungen in der Region Syrien/Irak beteiligten. Als Ergebnis der kontinuierlichen Aus- und Bewertung der Erkenntnislage zu den Rückkehrern lagen den Sicherheitsbehörden in Hessen zu etwa 20 Personen Informationen vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten. Ferner lagen zu rund 50 Personen Hinweise vor, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit in Syrien oder im Irak ums Leben kamen. Die hessischen Sicherheitsbehörden sind bestrebt, islamistisch motivierte Ausreiseplanungen frühzeitig wahrzunehmen, um deren Verwirklichung zu unterbinden.

Rückkehrer-Problematik Frauen und Kinder | Zahlreiche Kinder und Jugendliche, die zum Teil in damaligen Herrschaftsgebieten des IS geboren wurden oder dorthin mit ihren Eltern ausgereist waren, gerieten im Zuge der Zerschlagung des IS-„Kalifats“ in Gefangenschaft der Anti-IS-Allianz. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche dieser Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit Traumatisierungen erlitten bzw. psychisch belastende Erfahrungen mit Krieg und Gewalt gemacht haben und unverändert durch die Ideologie des IS indoktriniert sind. Da diese Personengruppe bei einer Rückkehr nach Deutschland eine potenzielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen kann, beschäftigt sich der Verfassungsschutzverbund intensiv mit der Rückkehrer-Problematik von jihadistischen Frauen und deren Kindern, die sich in Gefangenschaft befinden. Dass in hohem Maße radikalisierte Personen unter den Ausgereisten in Verbindung mit fortschreitenden Radikalisierungsprozessen innerhalb der salafistischen Szene in Hessen einen Nährboden für die Indoktrination weiterer stark ideologisierter Jihadisten bilden, ist bislang nicht erkennbar, aber nicht ausgeschlossen.

Im Laufe des Berichtsjahrs kehrte eine 31-jährige Frau mit deutscher Staatsangehörigkeit unter Beteiligung deutscher Sicherheitsbehörden nach Hessen zurück. Die Frau war 2014 in das Krisengebiet Syrien/Irak ausgereist.

Eine Analyse des LfV in Bezug auf ausgereiste und zurückgekehrte Frauen führte zu dem Ergebnis, dass diese nach ihrer Rückkehr nur zu einem geringfügigen Teil wieder in die salafistische Szene eingegliedert waren bzw. sich zurück in alte Strukturen begaben. Bei den aus Hessen ins IS-Gebiet ausgereisten Frauen lagen darüber hinaus keine Erkenntnisse zu etwaigen – nach der Rückkehr entstandenen – Netzwerken vor, in denen gemeinsame Planungen stattfanden und Aktivitäten koordiniert wurden. Die Verbindungen der Frauen untereinander und die Kontaktverhältnisse aus der Zeit beim IS können als langlebig und robust beschrieben werden. Möglich ist, dass sie auch nach einer Rückkehr nach Deutschland eine wichtige Rolle spielen werden. Eine Basis dieser Verbindung und des Zusammenhalts stellen die geteilten Erfahrungen im ehemaligen Gebiet des IS dar.

Ein beträchtlicher Teil der ausgereisten Frauen befand sich noch in den von den Syrian Democratic Forces (SDF) kontrollierten Camps. Welche Strukturen sich unter den ausgereisten Frauen gebildet haben könnten, ist unklar. Allerdings bestand die Gefahr, dass sich die Frauen in den Camps möglicherweise weiterhin radikalisieren, was auch für eine große Anzahl von Kindern gilt, die einer prekären Situation in den Camps ausgesetzt sind.

Solidarisierung mit inhaftierten Frauen in Camps in Nordostsyrien | Wie im Berichtsjahr 2019 verfolgte die Szene in Hessen die Entwicklungen der global agierenden jihadistischen Gruppierungen und Organisationen insbesondere in Syrien und im Irak. Dabei befassten sich Szeneangehörige auch mit inhaftierten Frauen und deren Kindern in Camps in Nordostsyrien. Hierbei handelte es sich um IS-Angehörige aus Europa, die in das „Kalifat“ ausgereist waren. Mit Aufrufen zur Unterstützung dieser „Glaubensschwestern“ zeigten auch Personen der salafistischen Szene in Deutschland ihre Solidarität. Mittels einzelner Spendenprojekte wurden Frauen in den Camps finanziell unterstützt.

Weiterhin bestehendes Anschlagspotenzial des IS | Trotz der militärischen Offensiven der Anti-IS-Allianz war es der Terrororganisation möglich, jihadistische Propaganda über die sozialen Medien zu verbreiten und entsprechend motivierte Anschläge anzuleiten. Im Rahmen der Gebietsverluste in Syrien und im Irak 2018 und 2019 war die Anzahl der IS-Anschläge in Syrien und im Irak zurückgegangen. Seit seiner Konsolidierung im Untergrund nahmen jedoch sowohl die Anschlagsquantität als auch die -qualität wieder zu. Dabei drang die Kernbotschaft des IS zu (potenziellen) Anhängern und Sympathisanten stets durch. Von nicht unerheblicher Bedeutung war die Vervielfältigung der Propaganda durch IS-Sympathisanten, die ohne Verbindung zu der Terrororganisation jihadistische Inhalte individuell verfassten und aus eigenem Antrieb über das Internet verbreiteten. Hierbei wurden Nachrichten über den IS sowie dessen Verlautbarungen emotional kommentiert. Verstärkt wurde der gewaltsame Jihad gegen diejenigen „Feinde“ des „Kalifats“ propagiert, die sich an Antiterror-Operationen gegen den IS beteiligten oder sich der Anti-IS-Allianz anschlossen.

Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie | In der 226. Ausgabe seines al-Naba-Newsletters ließ der IS verlauten, dass die Viruskrankheit und der weltweite Ausbruch ein göttliches Werk seien. Mit den „Ungläubigen und Abtrünnigen“ solle man kein Erbarmen haben, auch wenn sie sich in einer schwierigen Lage befänden. Der beste Gehorsam gegenüber Allah sei der Jihad. Diese Argumentation instrumentalisierte der IS dazu, die Pandemie zum Angriff auf „westliche“ Staaten zu nutzen. Dass das Virus in China ausgebrochen war, wurde in den einschlägigen sozialen Netzwerken dabei auch als Strafe Allahs für die Verfolgung der muslimischen Minderheit der Uiguren in China gedeutet. Dass insbesondere der schiitische Iran von der COVID-19-Pandemie betroffen war, interpretierten Islamisten ebenso als Strafe Allahs für die „Abweichler“ vom „wahren“ Glauben.

Auch die Niederlage des IS in Baghuz (Syrien) im Jahr 2019, die das Ende der territorialen Ansprüche der Terrororganisation markierte, brachten jihadistische Propagandisten in Verbindung mit der Pandemie, indem sie ein Narrativ der Rache verbreiteten: Das Virus sei Allahs Strafe für diejenigen, die an der Entfernung des IS aus seinem letzten Territorium beteiligt gewesen seien.

Al-Sahab-Media, zentrale Medienstelle Kern-al-Qaidas, veröffentlichte eine Erklärung auf Englisch und Arabisch mit dem Titel „Vorwärts – ein Wort des Rates zur Coronavirus-Pandemie“. Demnach sei die Pandemie ein klares Zeichen des göttlichen Zorns auf die Menschheit aufgrund ihrer Sünden und ihrer Unfähigkeit, den Regeln Allahs zu folgen.

Jihadistisch motivierte Anschläge in Europa | Weiterhin verübten radikalisierte allein handelnde Täter jihadistisch motivierte Anschläge, wobei sie – wenn auch nicht immer eindeutig verifizierbar – entweder im Auftrag des IS oder eigeninitiativ handelten. Die hohe Anschlagsgefahr blieb auch im Berichtsjahr bestehen. Den Hintergrund bildete der seit September in Frankreich stattfindende Prozess gegen die mutmaßlichen Helfer und Komplizen des Attentats auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, bei dem 2015 elf Menschen ums Leben gekommen waren. Die Satirezeitschrift veröffentlichte aus diesem Anlass erneut die Muhammad-Karikaturen, woraufhin der IS mit Vergeltung drohte. Der große Teil der Anschlagsvorhaben im Berichtsjahr stand im Zusammenhang mit der Diskussion um jene Karikaturen. Auch in Deutschland diskutierte die Szene sehr intensiv über diese Ereignisse und zeigte Solidarität mit ihrem Pendant in Frankreich. Die anhaltend hohe Gefährdungslage dokumentieren unter anderem folgende Anschläge in Deutschland, Frankreich, Österreich und in der Schweiz:

  • Paris (Frankreich), 25. September: In unmittelbarer Nähe der ehemaligen Redaktionsräume des Satiremagazins Charlie Hebdo attackierte ein Täter pakistanischer Herkunft zwei Menschen mit einem Messer und verletzte sie schwer.
  • Dresden (Sachsen), 4. Oktober: Ein Islamist tötete einen 55-jährigen Touristen aus Krefeld (Nordrhein-Westfalen) und verletzte dessen 53-jährigen Lebensgefährten schwer.
  • Paris (Frankreich), 16. Oktober: In einem Vorort köpfte ein Islamist einen Lehrer, der im Schulunterricht Muhammad-Karikaturen gezeigt hatte, um mit seinen Schülern über Meinungs- und Glaubensfreiheit zu diskutieren. Anlass war die abermalige Veröffentlichung von Muhammad-Karikaturen in Charlie Hebdo.
  • Nizza (Frankreich), 29. Oktober: Im Stadtzentrum drang ein Islamist in die Basilika Notre-Dame ein und griff drei Menschen an, wobei er ein 30 Zentimeter langes Messer mit einer 17 Zentimeter langen Klinge benutzt haben soll. Er tötete einen Mann und enthauptete in der Kirche eine Frau. Eine weitere verletzte Frau konnte fliehen.
  • Wien (Österreich), 2. November: Bei der islamistischen Terrorattacke in einem Ausgehviertel wurden vier Passanten getötet und mehr als 20 Menschen teils schwer verletzt. Der IS reklamierte den Anschlag für sich, und auch der Attentäter bekannte sich zu der Terrororganisation. Daraufhin kam es zu Exekutivmaßnahmen und Festnahmen in Österreich, der Schweiz und Deutschland, darunter auch in Kassel. Im überwiegenden Teil der Online-Reaktionen der islamistischen Szene in Deutschland wurde der Anschlag verurteilt oder nicht thematisiert. Vereinzelt kritisierten Anhänger jihadistischer Gruppierungen wie al-Qaida die Tat, da sie in keinem Zusammenhang mit den Muhammad-Karikaturen gestanden und der Attentäter wehrlose Zivilisten getötet habe. IS-Anhänger dagegen glorifizierten den Täter als Märtyrer.
  • Lugano (Schweiz), 24. November: Eine 28-jährige Frau mit möglichen Sympathien für den IS griff zwei Frauen in einem Warenhaus mit einem Messer an und verletzte eine von ihnen schwer. Die Angreiferin wurde festgenommen.

Allein handelnde Täter stellen Sicherheitsbehörden weiterhin vor eine große Herausforderung, da sie unvermittelt, spontan und ohne vorhergehende Kommunikation mit jihadistischen Netzwerken Anschlagsvorhaben umsetzen können.

Entstehung/Entwicklung

Salafisten glorifizieren die islamische Ära zur Zeit des Propheten Muhammad und dessen Gefährten als Zeitalter des unverfälschten Islams („goldene Epoche“, etwa 610 bis 850). In rigider Form stellen Salafisten Allah als Ursprung und Zentrum aller rechtlichen wie moralischen Fragen in den Mittelpunkt ihres Glaubens. Aktuell fasst das Phänomen Salafismus das Personenpotenzial einer im Islamismus aktiven Strömung zusammen, die sich durch zum Teil erhebliche Differenzen im Auslegen und Ausleben ihres Islamverständnisses kennzeichnet.

Salafismus in Deutschland | I| n Deutschland wurden salafistische Prediger etwa seit 2002 aktiv und begannen, überregionale Missionierungsnetzwerke aufzubauen. Einige Prediger dieser ersten Generation erhielten ihre religiöse Ausbildung an Universitäten in Saudi-Arabien, was sich in ihrer Interpretation der islamischen Glaubenslehre nach wahhabitischer Lesart widerspiegelt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie gegenüber dem saudischen Königshaus loyal sind. Salafistische Akteure in Deutschland berufen sich vielmehr auf verschiedene Gelehrte und vertreten daher unterschiedliche Positionen, etwa in Bezug auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gewalt erlaubt ist. Anders als die Prediger der ersten Generation hat die wachsende Anzahl der gegenwärtigen Unterstützer und Sympathisanten des Salafismus oftmals keine religiöse Ausbildung an Universitäten erhalten, sondern schöpft ihr „Wissen“ aus Islamseminaren in Deutschland, Internetpredigten und privaten Lerngruppen.

Ideologie/Ziele

Der Salafismus stellt innerhalb des Islamismus eine Strömung dar, die sich insbesondere durch ihre doktrinäre Auffassung des Islams hervorhebt. Die regional verhaftete, streng konservative sunnitische Islamauslegung des Wahhabismus beeinflusste die zeitgenössische salafistische Doktrin nachhaltig. Die salafistische Glaubenslehre (arab. ‘aqida ) absorbierte einzelne wahhabitische Glaubensgrundsätze und ergänzte diese um eigene theologische Elemente.

Auf einen Blick
  • Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams
  • Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin
  • Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre

Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams | Kulturelle Einflüsse, die den Islam seit seiner Verbreitung im 8. Jahrhundert fortwährend geprägt haben, werden in der salafistischen Islamauslegung als schädigende und gleichermaßen als unerlaubte Neuerung (arab. bid’a ) stigmatisiert, da sie nicht der normativen bzw. islamrechtlich verbindlichen Vorbildfunktion der Prophetentradition entsprächen. Im Salafismus orientiert sich der Handlungsspielraum menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten an der „goldenen Epoche“, das heißt an den ersten drei Generationen der Muslime (etwa 610 bis 850). Der Salafismus begreift sich gleichzeitig als ewige Bastion gegen verschiedene theologische und kulturelle Entwicklungen im Islam. Das Zeitalter der Prophetentradition bildet für Salafisten somit den theologisch verbindlichen Bezugspunkt zum uneingeschränkten Monotheismus (arab. tauhid ), den es unter allen Umständen vor Unglauben (arab. taghut ) abgelehnt.

Strikter Monotheismus im Zentrum der salafistischen Doktrin | Im Mittelpunkt der salafistischen Glaubenslehre steht das unerschütterliche Bekenntnis zu einem einzigen Gott. Nahezu identisch mit wahhabitischen Auslegungen fassen Salafisten die in den islamischen Glaubensquellen benannten Attribute Allahs wortwörtlich und nicht metaphorisch auf. Im Islam bezeichnet der Begriff tauhid die Lehre von der absoluten „Einheit und Einzigartigkeit Gottes“ (Monotheismus). Salafisten leiten aus dem tauhid -Prinzip jedoch ab, dass Allah der alleinige Herrscher und die Scharia das einzig erlaubte Gesetz sei. Folglich lehnen Salafisten das Volk als Träger der Staatsgewalt und von Menschen gemachte Gesetze als „unislamisch“ ab. Dieses tauhid -Verständnis, der Wesenskern der salafistischen Doktrin, gilt es nach Auffassung ihrer Anhänger unter allen Umständen vor inneren wie äußeren Verzerrungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schützen.

Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre | Salafisten verstehen sich als Bestandteil der sogenannten erretteten bzw. auserwählten Gruppe (arab. at-ta’ifa-al-mansura und al-firqa-an-najiya ). Aus der Überzeugung, einer elitären Gruppe „wahrer Muslime“ anzugehören, resultiert das moralische Überlegenheitsgefühl der Salafisten gegenüber Andersdenkenden. Aus diesem Grund fühlen sich Salafisten dazu berufen, ihr soziales Umfeld gemäß ihrer Überzeugung zu missionieren und nachhaltig zu verändern.

Besonders deutlich wird der soziale Verhaltenskodex im Salafismus anhand der Forderung der Einhaltung islamischer Prinzipien, die gemäß der salafistischen Doktrin einen Leitmotivcharakter aufweisen. Salafisten streben danach, den Islam von angeblich schädigendem Einfluss zu bereinigen. Dementsprechend versuchen sie, sowohl die theologische Lehre im Islam als auch die Gesellschaft als Ganzes gemäß ihrer Doktrin zu gestalten. Salafisten folgen dem Prinzip der Loyalität und Lossagung (arab. al-wala‘-wa-l-bara‘ ), um sich durch das klare Bekenntnis zu ihrer Glaubensauslegung demonstrativ von allen anderen Glaubensformen oder angeblich „Ungläubigen“ zu distanzieren. In der Nähe zu anderen Glaubensgemeinschaften sehen Salafisten die Gefahr, den eigenen Glauben im engeren Sinne zu verzerren und den Islam im weiteren Sinne zu verderben.

Das Abgrenzungsprinzip al-wala‘-wa-l-bara‘ bietet somit den Platzhalter für viele Formen der Fremdenfeindlichkeit und mündet oftmals in der islamtheologisch umstrittenen Praxis, einen Muslim für ungläubig zu erklären (arab. takfir| ), wenn Salafisten andere Muslime aufgrund angeblich frevelhafter Religionsausübung oder anderer Verfehlungen als Nichtmuslime brandmarken. Darüber hinaus vertieft dies auch den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten.

Aus dem bedingungslosen Befolgen der salafistischen Doktrin können somit verfassungsfeindliche Bestrebungen gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung resultieren. Der Bestrebungscharakter im Salafismus ist prinzipiell totalitär, da das Diesseits nach seinen normativen Maßstäben zur Wahrung des Islams zu formen ist. Diese salafistische Doktrin enthält die idealisierte Vorstellung einer Welt, die den Anforderungen des „wahren Islams“ vollumfänglich gerecht werden will: gesamtgesellschaftlich, global und konsequent gelebt bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Jedoch lässt sich innerhalb des Salafismus keine synchronisierte, homogene Bestrebung zu diesem Ziel hin feststellen.

Bewertung/Ausblick

Politischer Salafismus | Generell ist eine Fragmentierung der salafistischen Szene festzustellen, die unter anderem aus erfolgreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren resultiert. Durch verschiedene Verbotsverfahren auf Bundes- und Länderebene wurden Ressourcen und Strukturen eingeschränkt, auf welche die Szeneangehörigen für ihre Aktivitäten angewiesen sind. Hierauf ist auch der seit 2015 zu beobachtende Rückgang öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten im Bereich des politischen Salafismus zurückzuführen. So kam im Berichtsjahr das Projekt „We Love Muhammad“ vollends zum Erliegen. Über „Street-Da’wa“ versuchten einzelne Akteure von „Was ist Islam?“, Aufmerksamkeit für ihr Vorhaben zu erreichen und islamistische Literatur an Passanten zu verteilen.

Eine ähnliche Entwicklung ließ sich in Bezug auf öffentliche salafistische Predigten und damit verbundene hoch frequentierte Zusamme| nkünfte der entsprechenden Sympathisanten und Anhänger feststellen. Weiterhin wichen salafistische Prediger auf private Bereiche und die Nutzung sozialer Medien für ihre Aktivitäten aus. Insgesamt waren islamistische Aktivitäten, die dem Bereich des politischen Salafismus zuzurechnen sind, im öffentlichen Raum in Hessen kaum erkennbar. Die stark rückläufige Anzahl öffentlicher Auftritte von Salafisten ist jedoch nicht mit einem Rückgang der Anhängerzahl gleichzusetzen. Unverändert hält die politisch-salafistische Szene die Anhänger in ihren Reihen. Es ist davon auszugehen, dass in der salafistischen Szene weiterhin ein Rückzug ins Private zu beobachten sein wird, solange identitätsstiftende und damit gemeinschaftsfördernde ideologische Führungsfiguren fehlen.

Jihadistischer Salafismus | Die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags war in Deutschland unvermindert hoch. Solange es dem IS und anderen jihadistischen Gruppierungen gelingt, ihre Botschaften und Ideologien insbesondere über die sozialen Medien weltweit zu verbreiten, ist auch in Zukunft nicht mit einer abnehmenden Anschlagsgefahr zu rechnen.

Der IS versuchte, sich neu zu organisieren, wobei noch kein koordiniertes Vorgehen in Westeuropa mit konkreten Planungen und Strukturen festzustellen war. Allerdings können jihadistische Propaganda sowie bereits verübte Anschläge radikalisierte, allein handelnde Täter zu weiteren Taten und zu Bekenntnissen zum IS motivieren.

Der IS verfügt über ein weltweites Netzwerk von verbündeten Gruppen, die ihren Kampf vermutlich fortsetzen werden. Eine nicht zu unterschätzende terroristische Gefahr geht dabei von den durch den IS inspirierten allein handelnden Tätern und Kleinstgruppen sowohl in islamischen Ländern als auch im „Westen“ aus. Ebenso richtet sich die islamistische Propaganda inzwischen gezielt an solche Personen und Gruppen. Vor diesem Hintergrund verlagerte sich der Trend hin zu allein handelnden Akteuren, die Terroraufrufe aufgriffen und versuchten, Anschläge vorzubereiten. Damit bemüht sich der IS, weiterhin Präsenz und Stärke zu zeigen. Dabei sucht er zielgerichtet neue Motive der Mobilisierung, beispielsweise die Diskussion um Muhammad-Karikaturen in Frankreich.

Wie in den Berichtsjahren zuvor streben jihadistische Gruppierungen danach, eine islamische Gesellschaft („Emirat“/ „Kalifat“) zu etablieren. Daher haben Syrien und weite Teile der Levante (Länder am östlichen Mittelmeer) nach wie vor eine unvermindert große ideologische Bedeutung für sie. Nach jihadistischer Lesart erfüllen sich hier die apokalyptischen Verheißungen und Voraussagen islamischer Überlieferungen, das heißt die Voraussagen in Bezug auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Bedingt durch den territorialen Niedergang des IS in Syrien und im Irak ist es möglich, dass andere Länder und Regionen für die jihadistische Szene an Bedeutung gewinnen werden.

Um rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen zu können, müssen entsprechende Entwicklungen des weltweiten Jihadismus weiterhin beobachtet und analysiert werden. Von Bedeutung sind hierbei Anpassungsfähigkeit, Widerstandsfähigkeit, Wirkungs- und Schlagkraft der Akteure. Die Re-Strukturierung des IS im Untergrund und die Aktivitäten der Ableger in Nord- und Westafrika sowie in Asien zeigen diese Notwendigkeit auf. Es ist davon auszugehen, dass sich wie bisher die Entwicklungen des weltweiten Jihadismus auch auf Deutschland und somit auf Hessen auswirken und die Szene vor Ort beeinflussen werden. Dies zeigt sich beispielhaft an der Festnahme mutmaßlicher Mitglieder einer IS-Zelle in Nordrhein-Westfalen und der damit zusammenhängenden Durchsuchung eines Objekts in Hessen.

Der weltweite Jihadismus überzeugt seine Anhänger in erster Linie durch seine klare Ideologie, die sowohl moralische als auch politische Feinde zum Schutz des „wahren“ Islams und der gesamten islamischen Gemeinschaft (arab. umma ) gnadenlos bekämpft. Zwar stellen ideologisierte Anhänger die überwiegende Mehrheit der Gefolgschaft dar, jedoch spricht die Idee einer gemäß salafistischen Prinzipien konzipierten Gesellschaft auch Menschen an, die glauben, in diesen Strukturen besser zurechtkommen zu können als andernorts, wo sie sich unterdrückt fühlen. Aufgrund seiner propagandistisch-ideologischen Überzeugungskraft wird der Jihadismus auch in Zukunft fortbestehen; er wird eine breite Anhängerschaft anziehen und sowohl Organisationen und Gruppen formieren als auch Einzelpersonen mobilisieren.

Wie der Ausbau der Untergrundstrukturen und das Agieren des IS in ehemaligen Einflussgebieten sowie seine Neuorganisation im Nahen Osten und Asien zeigen, hemmt das Zerschlagen von jihadistischen Terrorzellen und -netzwerken nur kurz- bis mittelfristig den Aufbau jihadistischer Strukturen und kann nicht die dahinterstehende Ideologie zerstören. Es ist daher eine maßgebliche Aufgabe des LfV, Radikalisierungs- und daraus entstehende Gefahrenpotenziale sowie die entsprechenden Akteure rechtzeitig zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Befreiung)

Definition/Kerndaten

Weltweit ist die HuT in über 40 Staaten mit etwa einer Million Mitgliedern präsent. Ziel der panislamischen Organisation ist die „Befreiung“ aller Muslime von „Unterdrückung“ und deren Vereinigung in einem weltweiten „Kalifat“ mit islamischer Rechtsordnung. Aus Sicht der HuT haben „unterdrückte Muslime“ das Recht auf „Selbstverteidigung“ mit allen Mitteln. Als Konsequenz billigt die HuT oftmals Gewalttaten anderer islamistischer Gruppierungen. 2003 sprach der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT aus, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 bestätigte. Dennoch setzen Anhänger der Organisation ihre Rekrutierungsbemühungen im Untergrund fort. Insbesondere in sozialen Medien gibt es zahlreiche Gruppierungen mit Bezügen nach Hessen, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Hierzu gehört die in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) ansässige Gruppierung Realität Islam (RI).

Führung: Ata Abu al-Rashta , alias Abu Yasin
Anhänger: In Hessen etwa 100 , bundesweit etwa 600
Medien: Mehrsprachige Internetpräsenzen
Ereignisse/Entwicklungen

Die Gruppierung RI war unter dem Leitspruch „Für die Bewahrung der islamischen Identität“ schwerpunktmäßig in den sozialen Medien aktiv. Bis zum Ende des Berichtszeitraums abonnierten etwa 39.000 Personen die RI-Facebook-Seite, der YouTube-Kanal mit etwa 500 Videos hatte rund 13.500 Abonnenten und wurde seit November 2015 etwa 1,1 Millionen Mal aufgerufen. Der Instagram-Account hatte etwa 9.000, der Twitter-Account bis zur Sperrung im Oktober 2020 rund 3.000 Follower.

Auf einen Blick
  • Auftritte in den sozialen Medien
  • Stellungnahme „Hanau 2020“
  • Stellungnahme „Legalistischer Islamismus“
  • „Twitterstorm #StopMacron“

Auftritte in den sozialen Medien | Im Kontext der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie fokussierte sich RI auf Auftritte in den sozialen Medien. Entsprechende Beiträge der Verantwortlichen von RI konzentrierten sich auf Handyvideos mit persönlichen Stellungnahmen, die in der Öffentlichkeit oder in Fahrzeugen aufgenommen worden waren und kurz darauf veröffentlicht wurden.

Stellungnahme „Hanau 2020“ | Auf den rassistisch motivierten Anschlag in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) am 19. Februar reagierten RI-Anhänger und -Sympathisanten mit zahlreichen Beiträgen in deutscher und arabischer Sprache in den sozialen Medien, vor allem auf Facebook, Instagram und YouTube. Die Beiträge reichten von wenige Worte umfassenden Kommentierungen bis hin zur Änderung des Hintergrund- oder Profilbilds mit einer von RI erstellten Bildcollage als Zeichen der Solidarität. Darauf stand in Großbuchstaben: „Hanau 2020 – es hätte auch mich treffen können“. Der Text war mit roten Farbkleksen übersät, womit offensichtlich Blutspritzer assoziiert werden sollten. Einige Nutzer behielten diese Abbildung mehrere Monate lang als Hintergrund- oder Profilbild auf Facebook.

Den Anschlag in Hanau bewertete RI als

„logische Konsequenz der politischen Richtung, die seit 2001 in der westlichen Welt verfolgt wird. Diese politische Richtung zielt darauf ab, andere Kulturen, allen voran die islamische Kultur, zu assimilieren und der Mehrheitsgesellschaft vollständig anzupassen. Darunter fallen jedoch nicht nur die Rechte, sondern auch die Werte und Überzeugungen des Einzelnen. Das Ziel dessen ist praktisch eine regelrechte #Wertediktatur“.

Die „Assimilationspolitik“, ein Begriff, den RI im Berichtsjahr wiederholt verwendete, dauere nun fast zwei Jahrzehnte an und radikalisiere sich immer schneller. In einem Facebook-Post von RI hieß es am 20. Februar:

„Viele Bürger ließen und lassen sich von dieser islamfeindlichen Politik stark beeinflussen, sodass beim ein oder anderen ein regelrechter Hass entstanden ist. Die Auswüchse der Assimilationspolitik haben ein neues Level erreicht. Der Staat hat offensichtlich die Kontrolle über das Geschehen in seinem eigenen Land verloren!“

Die Tat in Hanau ließe sich, so RI, in eine Reihe anderer antimuslimischer Terrorakte einordnen, so etwa in Norwegen (2011) und Neuseeland (2019). In vielen Videobeiträgen bezogen sich die Funktionäre von RI auf den Anschlag in Hanau und die angeblich islamfeindliche Haltung, die gesamtgesellschaftlich in Deutschland herrsche. Kurz nach dem Attentat ließ RI Flyer und Plakate drucken, um diese in einigen Innenstädten zu verteilen oder aufzukleben. Als Zeichen der Solidarität luden viele Nutzer Fotos von bereits verteilten Flyern oder noch zu verbreitenden Flugblättern auf ihre Profilseiten in den sozialen Medien hoch.

Nachdem in einem Rundfunkbeitrag („Politischer Islam in Deutschland“) im Juli auch RI mit Bezug auf Aussagen des Verfassungsschutzes thematisiert worden war, veröffentlichte die Gruppierung auf YouTube ein Video, in dem es hieß:

„Die Mehrheitsgesellschaft bestätigt, dass unser gesamtes (muslimisches) Verhalten völlig legitim ist. Wir erachten unsere islamischen Werte als korrekt und selbstverständlich. Diese Werte sind die Werte, […]  von denen wir uns wünschen würden, dass die gesamte Menschheit danach lebt. Das steht außer Frage!“

In den darauffolgenden Monaten nahm die Gruppierung Abstand vom Begriff „legalistischer Islamismus“ und verwendete stattdessen den (neuen) Kampfbegriff „politischer Islamismus“ viel häufiger und regelmäßiger. RI griff in den sozialen Medien vermehrt Themen aus Frankreich und Österreich auf, die dem politischen Islam zuzuordnen waren (Razzien in Moscheen und bei Privatpersonen, Verwendung von Muhammad-Karikaturen). Im Fokus standen der französische Präsident Emmanuel Macron und der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Beide wurden mehrfach als Verantwortliche für antimuslimische/antiislamische Kampagnen genannt. Mit Bildcollagen versuchte RI, bei Muslimen den Eindruck zu erwecken, dass die Mehrheitsgesellschaft eine antimuslimische „politische Agenda“ verfolge.

„Twitterstorm“ | Die Gruppierung RI beteiligte sich am „Twitterstorm #StopMacron“ und rief ihre Anhänger und Sympathisanten dazu auf, sich unter diesem „Hashtag“ am 30. Oktober digital zu versammeln und gegen den „5-Punkte-Plan zur Bekämpfung der islamischen Identität [durch] den französischen Präsidenten Emmanuel Macron anlässlich des Charlie-Hebdo-Prozesses“ in Form von Kommentaren unter Einbeziehung des Hashtags zu protestieren. In Anlehnung an das Manifest der HuT (siehe unten das Kapitel „Ideologie/Ziele“) bezeichnete RI den französischen Präsidenten als „aktiv handelnde[n] Kolonialisten“. Im Voraus hießen viele Anhänger und Sympathisanten die Kampagne gut, einige beteiligten sich an dem Twitterstorm.

Entstehung/Geschichte

Die HuT wurde 1953 im damals von Jordanien besetzten Ostteil Jerusalems von dem palästinensischen Politiker und der Muslimbruderschaft (MB) nahestehenden Aktivisten Taqi ad-Din an-Nabhani gegründet.

Auf einen Blick
  • Gründung in Ost-Jerusalem
  • Betätigungsverbot in Deutschland

Gründung in Ost-Jerusalem | Der Entschluss zur Gründung der HuT erwuchs aus der Unzufriedenheit an-Nabhanis und seiner Anhänger über die fehlende Unterstützung der MB für das palästinensische Volk im Kampf gegen Israel. Nach dem Tod an-Nabhanis trat in der HuT der Palästina-Bezug zugunsten der Forderung nach einem alle Muslime umfassenden „Kalifat“ in den Hintergrund. In Deutschland verbreiteten HuT-Anhänger vor allem in Universitätsstädten Flugblätter und Zeitschriften mit antiisraelischen und „antiwestlichen“ Inhalten.

Betätigungsverbot in Deutschland | Am 25. Januar 2006 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht das am 10. Januar 2003 vom Bundesminister des Innern erlassene Betätigungsverbot gegen die HuT. In dem Urteil hieß es unter anderem, dass die HuT zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgerufen und dadurch der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt hat. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten.

Ideologie/Ziele

Ziel der HuT ist die Vereinigung der weltweiten Gemeinschaft der Muslime (arab. umma ) in einem Gottesstaat ohne nationale Grenzen unter der Führung eines Kalifen. Er soll die göttliche Rechtsordnung, das heißt die Scharia als Grundlage und Maßstab staatlichen Handelns, im Kalifat verbindlich durchsetzen. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar.

Auf einen Blick
  • Verschweigen extremistischer Ziele
  • Die Verwirklichung eines HuT-Manifests

Verschweigen extremistischer Ziele | Die Gruppierung RI weist eine ideologische Nähe zur HuT auf. Die islamistischen Ziele von RI und ihr ideologischer Hintergrund werden jedoch bei öffentlichen Aktivitäten verschwiegen. Erst die Lektüre der Publikation „Realität Islam[.] Eine Einführung[.] Gemeinsam für eine starke und bewusst agierende Gemeinschaft“ offenbart das von RI propagierte Weltbild und die Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

Die Verwirklichung eines HuT-Manifests | Die HuT gab in den vergangenen Jahren zahlreiche Manifeste auf ihrer Webseite für den deutschsprachigen Raum bekannt, die mit ihrer islamistischen Programmatik eindeutig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung stehen und diese angreifen. Verlautbarungen von RI belegen, dass zwischen RI und HuT nicht nur eine ideologische Nähe besteht, sondern RI aktiv die tatsächliche Umsetzung einiger HuT-Leitlinien betreibt.

Die HuT-Programmatik sieht eine klare Abgrenzung der muslimischen Gemeinschaft gegenüber den angeblich frevel- und moralisch verkommenen Regierungssystemen vor. Der aktiven Arbeit gegen diese Systeme – gemeint sind hier in erster Linie säkular geprägte Demokratien – müsse Überzeugungsarbeit vorausgehen, die den Muslimen die vermeintlichen Schwächen und Fehler der Regierungen aufzeigt, in denen sie lebten:

„Die intellektuelle Auseinandersetzung bzw. das Ringen mit den Überzeugungsfundamenten des Kufr, seinen Systemen und Ideen sowie mit den verdorbenen Glaubensgrundlagen, den falschen Ideen und fehlerhaften Konzeptionen der Menschen. Ihre Fehlerhaftigkeit, ihre Falschheit und ihr Widerspruch zum Islam werden dargelegt, um die Umma von ihnen und ihrem Einfluss zu befreien“. (Schreibweise wie im Original.)

Auch RI-Verantwortliche kritisierten regelmäßig „Regierungssysteme“, die „Medienschaffenden“ und das demokratisch verfasste Wertesystem. Die RI-Protagonisten prangern in ihren Videobotschaften die deutsche Politik und Gesellschaft an und kritisieren, dass „Muslime systematisch kriminalisiert und marginalisiert“ würden. „Wertediktatur“ und „Assimilierungspolitik“ seien Falschheiten und stünden im Widerspruch zu ihren islamischen Vorstellungen, wie es das HuT-Manifest diktiert. So proklamiert RI: „Die Regierungs-, die Wirtschafts- und Bildungssysteme, die Außenpolitik und die zivilen Gesetze, […] sind Systeme und Gesetze des Unglaubens“. Darüber hinaus übertragen die Verantwortlichen von RI die aus dem HuT-Manifest vorgesehene Funktion eines Multiplikators und Propagandisten auf sich, um die entsprechende Ideologie an die muslimische Zielgruppe zu verbreiten. Im Manifest heißt es dazu:

„Ziel ist es, islamische Persönlichkeiten [auszubilden], welche in der Lage sind, die islamische Botschaft zu tragen und die intellektuelle Auseinandersetzung sowie den politischen Kampf zu führen“.

In einer Art Stufenplan legt die HuT „Befreiungsstrategien“ fest, die sich an eine erfolgreiche Indoktrinierung der Muslime anschließen sollen und klar aktivistisch ausgerichtet sind:

„Der politische Kampf, der sich wie folgt darstellt: Die Bekämpfung der ungläubigen Kolonialmächte, die Macht und Einfluss in der islamischen Welt besitzen. Die Bekämpfung des Kolonialismus in all seinen gedanklichen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Erscheinungsformen sowie die Aufdeckung seiner Strategien und Machenschaften, um die Umma von seiner Hegemonie und jeder Form seiner Einflussnahme zu befreien“.

RI greift diese Strategie auf und legt die in ihren Augen von Herrschern in der arabischen bzw. islamischen Welt verübten (Misse-)Taten offen. In sprachstilistischer Anlehnung an das HuT-Manifest benennt RI den französischen Präsident Emmanuel Macron als „aktiv handelnde[n] Kolonialisten“. Die Bekämpfung „westlicher“, vermeintlicher Erbkolonien konzentriert sich bei RI hingegen auf einen rein intellektuell ausgerichteten Angriff, anstelle einer Bekämpfung im gewalttätigen Sinne.

Dem Stufenplan der HuT folgend sind anschließend Ausbildungs- und Lehrmethoden notwendig:

„Die gemeinschaftliche Ausbildung der Massen der Umma mit den Ideen und Rechtssprüchen des Islam, die sich die Partei angeeignet hat. Dies erfolgt im Moschee-Unterricht, in Podiumsveranstaltungen, in Vorträgen, an öffentlichen Versammlungsplätzen, in Zeitungen und Zeitschriften sowie in Büchern und Flugblättern, um ein allgemeines Bewusstsein bei der Umma zu erzeugen, um mit ihr zu interagieren und sie mit dem Islam zu verschmelzen. Dadurch soll eine breite Volksbasis entstehen, die die Partei in die Lage versetzt, die Umma zur Gründung des Kalifats zu führen und die Regentschaft nach dem, was Allah herabgesandt hat, wiederherzustellen“.

RI wendet verschiedene (Lehr- und) Lernmethoden an: Sie betreibt Da’wa und Ausbildung in Lehrkreisen, bietet Unterricht und Podiumsveranstaltungen an, verbreitet Flugblätter und zielt auf die Vergrößerung des Parteikörpers ab, um dem Stufenplan der HuT gerecht zu werden. RI vertritt in der andauernden Diskussion um die „Wertediktatur“ die Meinung, „westliche“ und nichtislamische Werte in Deutschland nicht anerkennen zu müssen. Eine „breite Volksbasis“ soll durch die Plattformen in den sozialen Medien Facebook, YouTube oder Instagram erreicht werden.

Strukturen

HuT-Angehörige treten in Deutschland wegen des Betätigungsverbots nicht offen in Erscheinung. Die Ideologie der HuT wird indes durch Gruppierungen in die Gesellschaft lanciert, die nicht mit der HuT gleichzusetzen sind, dieser jedoch zumindest nahestehen.

Auf einen Blick
  • „Virtuelle Welt“ – „Realwelt“
  • Kontakte außerhalb Hessens

„Virtuelle Welt“ – „Realwelt“ | RI war zunächst eine auf Facebook aktive Gruppierung, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweist. Im Gegensatz zu anderen HuT-nahen Facebook-Gruppierungen erweiterte RI ihr digitales Medienangebot auf Plattformen wie Instagram, YouTube und Twitter. Dagegen fanden Auftritte in der „Realwelt“ im Berichtsjahr nicht statt, was offenbar mit den staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zusammenhing.

Kontakte außerhalb Hessens | Dass RI-Aktivisten – neben dem Rhein-Main-Gebiet – auch Flugblattverteilaktionen in anderen Ländern (Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein) durchführten, deutet darauf hin, dass es Kontakte zu Angehörigen der HuT-Szene außerhalb Hessens gab. So traf sich Raimund Hoffmann Anfang März mit Marcel Krass, einem politischen Salafisten aus Niedersachsen. Das Treffen wurde auf Facebook dokumentiert.

Bewertung/Ausblick

Vergleicht man die Leitlinien der HuT mit den Aussagen und Aktivitäten der RI, so sind inhaltliche Übereinstimmungen und somit die Verfassungsfeindlichkeit der RI erkennbar. Indem RI behauptet, dass die Bundesregierung nicht islamisch geprägt sei, bezweifelt sie deren verfassungsgemäßes Fundament und damit das Bestehen freiheitlicher demokratischer Werte. Dabei vermeidet RI es weitgehend, Vokabular der HuT zu benutzen und verwendet teilweise eigene Begriffe. Die Aktivitäten von RI können zu einer weiteren islamistischen Radikalisierung ihrer Sympathisanten führen und bestehende Radikalisierungen im Islamismus voranschreiten lassen. RI inszeniert sich als warnende Instanz in Bezug auf eine angeblich ausufernde Islamfeindlichkeit, die bewusst von einer politischen Elite und gesellschaftlich relevanten Akteuren unterstützt werde. Mit dieser Strategie schürt RI eine verfassungsfeindliche Haltung bei den Empfängern der Botschaften und setzt gleichzeitig die Ideologie der HuT um.

RI nutzte überwiegend die sozialen Medien, um eine möglichst hohe Streuwirkung ihrer Ideologie in der muslimischen – insbesondere der sunnitischen – Religionsgemeinschaft zu erzielen. Dabei beanspruchte die Gruppierung, alleinige Vertreterin „der Muslime“ zu sein. Dies manifestierte sich insbesondere in dem Flyer, den RI nach dem Anschlag in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) herausgab. Darin behauptete sie, dass die politische Agenda der „Assimilation“ die Muslime zwinge, ihre Identität und Lebensweise vollständig aufgeben zu müssen.

Darüber hinaus bemühte sich RI um eine Annäherung an einige islamische Gemeinden, darunter auch einschlägige Moscheevereine. So warb die Gruppierung um deren Unterstützung beim Ausdruck von Flugblättern und bei deren Verteilung, wobei die Aktionen auch in den sozialen Medien Resonanz erzielten. In ihren Flyern verwendete RI typisch islamistische Argumentationsmuster und projizierte diese auf Politik, Medien und gesellschaftliche Zustände. Ein Pauschalvorwurf lautete, gezielt „Hass gegenüber dem Islam und den Muslimen“ zu verbreiten. Islamische Werte seien durch „Assimilation“ und politische Fehlentscheidungen diskreditiert und der Islam generell zum „Feindbild“ stilisiert worden. Hieraus resultierten, so RI, Anschläge gegen Muslime.

Es ist zu erwarten, dass RI sich auch weiterhin zu politischen Themen äußern wird. Die Absage von Auftritten in der „Realwelt“ in Form von Veranstaltungen im Kontext der COVID-19-Pandemie zwang die Gruppierung, ihre Auftritte verstärkt in digitaler Form in die sozialen Medien zu verlagern.

Muslimbruderschaft (MB)/Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG)

Definition/Kerndaten

Die MB ist in zahlreichen Staaten der Welt, dabei in nahezu allen Ländern des Nahen Ostens, vertreten. Sie ist die einflussreichste und älteste islamistische Bewegung unter den Sunniten. Ziel der MB ist die Errichtung eines weltumspannenden Gemeinwesens als Gottesstaat auf der Grundlage von Koran und Sunna. In Deutschland ist die DMG die größte Organisation, welche die Ideologie der MB vertritt. In Anlehnung an ihre ägyptische Mutterorganisation versucht die DMG, durch soziales und religiöses Engagement sowie durch Dialogangebote Akzeptanz in der Gesellschaft zu finden. Letztlich zielen diese Versuche darauf ab, die Ideologie der MB in Deutschland gesellschaftsfähig zu machen. Der DMG sind bundesweit verschiedene Moscheegemeinden und sogenannte Islamische Zentren zuzuordnen, die formal von ihr unabhängig sind, aber Kontakte zu ihr unterhalten. In Hessen befinden sich solche Zentren in Frankfurt am Main und Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf). In Deutschland ist die DMG, ehemals Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD), mit Hauptsitz in Berlin die mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern in Deutschland. Die DMG repräsentiert den ägyptischen Zweig der MB und ist seit ihrer Gründung als IGD Mitglied der Federation of Islamic Organizations in Europe (FIOE), nunmehr Council of European Muslims (CEM).

Führung: Muhammad Badi (Ägypten)
Anhänge: In Hessen etwa 300 , bundesweit etwa 1.450
Zuzurechnende Organisationen: Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) in den palästinensischen Autonomiegebieten (Gazastreifen) in Israel, al-Nahda (Tunesien), al-Ikhwan al-Muslimum fi Suriya (Die Muslimbrüder in Syrien)

Abgebildet ist das Logo der Muslimbruderschaft. Auf einem kreisförmigen grünen Hintergrund befinden sich zwei übereinander gekreuzte Krummsäbel, über denen sich ein Buch mit rotem Einband befindet. Auf dem Bucheinband und unter dem Säbeln befinden sich arabische Schriftzeichen.

Ereignisse/Entwicklungen

Im September präsentierte der Fatwa-Ausschuss Deutschland seine Neubesetzung. Unter dem Einfluss der Corona-Schutzmaßnahmen führten Angehörige der MB in Hessen ihre legalistische, dialogorientierte Unterwanderungsstrategie zwar konsequent fort, verlagerten die persönliche Kontaktpflege aber in den virtuellen Raum. Aufgrund eines anhängigen Gerichtsverfahrens vor dem Landgericht (LG) Berlin lässt die DMG ihre Mitgliedschaft im Zentralrat der Muslime ruhen.

Auf einen Blick
  • Neubesetzung des Fatwa-Ausschusses Deutschland
  • Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie
  • DMG lässt Mitgliedschaft im Zentralrat der Muslime (ZMD) ruhen

Neubesetzung des Fatwa-Ausschusses Deutschland | Der Fatwa-Ausschuss Deutschland, dessen Mitglieder mehrheitlich dem European Council for Fatwa and Research (ECFR) angehörten, gab im September seine Neubesetzung bekannt. Der Fatwa-Ausschuss, der auf Facebook mehr als 43.000 Abonnenten erreichte, nutzte dabei moderne Kommunikationswege und stellte die neuberufenen Personen nun als zukünftige Ansprechpartner dar, die sich an den Nachwuchs wenden und diesen für die Ideologie gewinnen sollen. Der Vorsitzende des Ausschusses wohnte seit dessen Gründung in Hessen. Eine Neuerung stellte die Benennung von drei Frauen als Rechtsgelehrte (Muftis) dar.

Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie | Unter dem Einfluss der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie führten Angehörige der MB in Hessen im Berichtsjahr ihre legalistische, dialogorientierte Unterwanderungsstrategie konsequent fort und verlagerten die persönliche Kontaktpflege in den virtuellen Raum. So suchten sie unverändert gezielt den Kontakt zu Repräsentanten des politischen Lebens sowie zu anderen Religionsgemeinschaften, denen sie sich als Dialogpartner anboten. So veröffentlichte der Fatwa-Ausschuss Deutschland am 13. April den „Fatwa-Guide zum Coronavirus“ des ECFR mit insgesamt „21 Fatwas und zehn Empfehlungen zu den wichtigsten Fragen rund um die Corona-Krise“ in deutscher Sprache. Im „Fatwa-Guide“ wurde die Krankheit COVID-19 als göttliche Prüfung gedeutet.

DMG lässt Mitgliedschaft im Zentralrat der Muslime (ZMD) ruhen | Die DMG ließ im Berichtsjahr ihre Mitgliedschaft im ZMD, einem Dachverband mit Kontakten zu Politik und Behörden, ruhen. Damit folgte die DMG einem Beschluss der Vollversammlung des ZMD vom 2. Dezember 2019. Dies soll so lange gelten, bis vor dem LG Berlin geklärt ist, ob die DMG zu Recht im vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat herausgegebenen Verfassungsschutzbericht erwähnt wird.

Entstehung/Geschichte

In einer Phase des sozialen Umbruchs in Ägypten, in der sich ein neuer Mittelstand herausbildete, gründete 1928 der Volksschullehrer Hasan al-Banna die MB als Reaktion auf die zunehmende Europäisierung des Landes. Als Wohlfahrtsorganisation islamischer Prägung, die unter anderem Krankenhäuser und Schulen unterhielt, entwickelte sich die streng hierarchisch aufgebaute MB zunehmend zum Staat im Staat. Unter der Führung al-Bannas verfolgte die MB nach und nach im Wesentlichen folgende Ziele: Die Eliminierung des britischen Einflusses in Ägypten, die Islamisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Errichtung eines weltweiten Kalifats. Vor allem mit ihrer karitativen Arbeit gewannen die MB und ihre in anderen Ländern gegründeten Ableger immer mehr Anhänger.

Auf einen Blick
  • Vom Verbot zur Regierung
  • Die MB in Deutschland

Vom Verbot zur Regierung | In den 1940er und 1950er Jahren waren die Beziehungen zwischen der MB und dem ägyptischen Staat von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt. 1948 wurde der ägyptische Ministerpräsident Mahmud Fahmi an-Nuqrashi ermordet, 1949 fiel Hasan al-Banna einem Attentat zum Opfer. 1954 verbot die Regierung die MB; ihr maßgeblicher Ideologe, Sayyid Qutb, wurde 1966 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Ungeachtet der Generalamnestie für führende MB-Funktionäre im Jahr 1971 dauerten die Gewalttaten militanter islamistischer Gruppen, die ihre Aktionen unter Berufung auf die Schriften Sayyid Qutbs rechtfertigten, an. Eine militante Abspaltung der MB ermordete 1981 den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat. Sein Nachfolger Husni Mubarak gewährte der MB den Status als religiöse Bewegung, nicht aber den einer politischen Partei. Als Konsequenz entsandte die MB vermeintlich unabhängige Bewerber und Kandidaten auf Wahllisten anderer Parteien in die Parlamentswahlen. Bei den Wahlen im Jahr 2005 vervierfachte die MB die Zahl ihrer Abgeordneten auf 88 und errang damit etwa ein Fünftel der Sitze im ägyptischen Parlament. Nach dem von Massenprotesten der Opposition erzwungenen Rücktritt Mubaraks 2011 erlangten die MB und andere Islamisten bei den Wahlen etwa 70 Prozent der Abgeordnetenmandate.

Als politischer Arm der MB gründete sich im Februar 2011 die Hizb al-Hurriya wa-l-Adala (Partei der Freiheit und Gerechtigkeit). Ihr Vorsitzender Mohammed Mursi, zugleich ein führender MB-Funktionär, wurde 2012 zum ägyptischen Staatspräsidenten gewählt. Aufgrund der angespannten Wirtschaftslage und anhaltender Proteste gegen die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit setzte das ägyptische Militär Mohammad Mursi im Juli 2013 ab. Im September 2013 verbot ein ägyptisches Gericht die MB nebst allen ihr zugehörigen Organisationen. Seit dem Dezember 2013 ist die MB in Ägypten als Terrororganisation eingestuft. 2019 verstarb Mursi, der sich seit seiner Absetzung in Haft befand, während einer Gerichtsverhandlung. Der MB-Anführer Muhammed Badie sowie sein Stellvertreter und neun weitere führende MB-Angehörige wurden 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die MB in Deutschland | 1960 gründete Said Ramadan, ein Schwiegersohn al-Bannas und hoher MB-Funktionär, in München (Bayern) die Moscheebau-Kommission e. V. Zusammen mit Sayyid Qutb hatte er in den 1950er Jahren Ägypten verlassen und Ableger der MB in Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien und im Libanon ins Leben gerufen. Durch Umbenennungen gingen aus der Moscheebau-Kommission e. V. im Jahr 1962 die Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland e. V. und 1982 die IGD hervor, die sich 2018 in die DMG umbenannte.

Ideologie/Ziele

Der ideologische Ursprung der MB geht auf ihren Gründer Hasan al-Banna zurück. Zentrale Elemente der MB-Ideologie sind bis heute im Selbstverständnis zahlreicher islamistischer und islamistisch-terroristischer Organisationen präsent. In dem von der MB angestrebten System bilden Islam und Politik eine unauflösbare Einheit, in der weder die Volkssouveränität noch die Freiheit und Gleichheit der Menschen einen demokratisch legitimierten und geschützten Raum finden.

Auf einen Blick
  • Durchsetzung der Scharia
  • „Der Koran ist unsere Verfassung“

Durchsetzung der Scharia | Die Ideologie der MB zielt auf die Errichtung einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung, deren Grundlage Koran und Sunna sowie die Scharia bilden. Dabei ist die Durchsetzung der Scharia ein wesentlicher Bestandteil der MB-Ideologie, da sie die Rechts- und Gesellschaftsordnung bestimmt und somit die wichtigste Grundlage des politischen und sozialen Lebens ist.

„Der Koran ist unsere Verfassung“ | Das Motto der MB lautet: „Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Allah ist unser nobelster Wunsch.“ Ebenso wie sein Vorgänger Muhammad Mahdi Akif gehörte Muhammad Badie, der „oberste Führer“ (arab. murshid amm ) der MB, dem konservativen Lager der Organisation an. Er forderte von der arabischen Welt, die Verhandlungen mit Israel einzustellen und sie durch den „heiligen Jihad“ zu ersetzen.

2012 eröffnete ein maßgeblicher Prediger und wichtiger Angehöriger der MB den Wahlkampfauftritt des späteren Präsidenten Mursi mit den Sätzen: „Wir stehen knapp davor zu erleben, dass das Islamische Kalifat durch die Hände Mohammed Mursis Realität wird. Und mit Gottes Willen wird die Hauptstadt des vereinigten Reiches Jerusalem sein“.

Strukturen

In Europa bzw. in Deutschland besteht ein weit verästeltes Netzwerk der MB, mit dessen Hilfe deren Sympathisanten und Angehörige versuchen, Ideologie und Ziele der Organisation zu verbreiten. Dabei tritt die MB in Deutschland nicht offen in Erscheinung.

Auf einen Blick
  • Council of European Muslims (CEM)
  • European Council for Fatwa and Research (ECFR)
  • European Council of Imams (Europäischer Rat der Imame)
  • Fatwa-Ausschuss in Deutschland
  • Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG)/Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland (RIGD)
  • Europäisches Institut für Humanwissenschaften e. V. (EIHW)

Council of European Muslims (CEM) | In Europa wird die streng hierarchisch organisierte MB durch den CEM, einen europäischen Dachverband MB-naher Organisationen mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten. Bis Januar 2020 hieß der Verband Federation of Islamic Organizations in Europe (FIOE, Föderation Islamischer Organisationen). Eigenen Angaben zufolge vereinigt der CEM Organisationen aus 28 Staaten, darunter viele nationale Dachverbände.

European Council for Fatwa and Research (ECFR) | Der in Dublin (Irland) ansässige ECFR gehört dem europäischen Netzwerk der MB an und erlässt regelmäßig Rechtsgutachten für die in Europa lebenden Muslime. Maßgebliche Aufgabe des ECFR ist es, sich als religiöse Instanz in Europa zu etablieren. Hierfür veröffentlichte er 2019 die „Euro-Fatwa“-App, mit der die Nutzer die ECFR-Fatwas und -Entscheidungen seit 1997 in den Sprachen Arabisch, Englisch und Spanisch thematisch sortiert abrufen können.

 European Council of Imams (Europäische Rat der Imame) | Im November 2019 trat in Paris (Frankreich) erstmals der Europäische Rat der Imame zusammen. Das Gremium umfasst laut eigener Aussage rund 50 Mitglieder aus etwa 20 europäischen Ländern. Darunter befinden sich auch Personen aus Hessen mit Bezug zum MB-/DMG-Netzwerk. Ziel der Organisation ist es unter anderem, die Aktivitäten verschiedener islamischer Organisationen zu koordinieren, als Interessenvertretung zu fungieren, die islamische Präsenz im politischen und gesellschaftlichen Bereich zu fördern sowie die islamische Identität zu festigen.

Fatwa-Ausschuss in Deutschland | Die Mitglieder des im Jahr 2016 gegründeten Fatwa-Ausschusses in Deutschland sind mehrheitlich Mitglieder des ECFR. Der Fatwa-Ausschuss übernimmt die Fatwas des ECFR, übersetzt sie ins Deutsche und veröffentlicht sie auf der eigenen Webseite sowie in den sozialen Medien. Die Fatwas basieren zum Teil auf islamrechtlichen und islamisch-rituellen Vorgaben der Scharia, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbaren sind.

Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG) /Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland (RIGD) | Ähnlich wie der ECFR auf europäischer Ebene, der bis Oktober 2018 unter dem Vorsitz des MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi stand, erhebt der RIGD für Deutschland den Anspruch, als wissenschaftliche Autorität in Fragen der Koranauslegung für hier lebende Muslime zu fungieren. Der RIGD, der seit 2004 mit Sitz in Frankfurt am Main besteht, ist sowohl organisatorisch als auch ideologisch DMG-nahe.

EIHW als Kaderschmiede für MB- und DMG-Funktionäre | 2012 wurde das EIHW mit Sitz in Frankfurt am Main nach dem Vorbild der Europäischen Institute für Humanwissenschaften in Großbritannien (European Institute of Human Sciences, EIHS) und in Frankreich (Institut Européen des Sciences Humaines, IESH) als Verein gegründet. 2013 nahm das EIHW seinen Lehrbetrieb auf. Als Schulungsstätte dient das EIHW der Verbreitung der MB-Ideologie und ist eine Kaderschmiede für MB- und DMG-Funktionäre.

Bewertung/Ausblick

Aufgrund der personellen Verstärkung des Fatwa-Ausschusses Deutschland im Berichtsjahr ist von einer erhöhten Gefahr hinsichtlich der Verbreitung der MB-Ideologie auszugehen. Anhand der hohen Abonnentenanzahl wird deutlich, wie groß die Reichweite des Ausschusses ist.

Die schnelle Reaktion auf die COVID-19-Pandemie, die an der Veröffentlichung des „Fatwa-Guides“ deutlich wird, und das gesellschaftliche Geschehen insgesamt zeigen den Anspruch des Fatwa-Ausschusses, als zentraler Ansprechpartner und Ratgeber wahrgenommen werden zu wollen, um so eine größtmögliche Reichweite erzielen zu können.

Die DMG als wichtigste Organisation des deutschen MB-Netzwerks versucht weiterhin, ihre belastete IGD-Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihr Image zu verbessern. Die DMG distanziert sich nur von bestimmten Aussagen Yusuf al-Qaradawis und erkennt weiterhin seine Expertise in vielen Gebieten an. Dies zeigt, dass keine tatsächliche Änderung an ihrer Ideologie beabsichtigt ist, auch wenn die DMG versucht, durch grundgesetzkonforme Positionen, die auf ihrer Webseite veröffentlicht werden, ein anderes Bild in der Öffentlichkeit zu erzeugen. Vielmehr geht es bei den veröffentlichten Positionen um die Imagepflege der Organisation.

Die DMG-Mitgliedschaft beim ZMD ruht derzeit, bis über die Klage der DMG gegen ihre Nennung als MB-nahe Organisation im vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat herausgegebenen Verfassungsschutzbericht entschieden wird. Auch wenn ein letztinstanzliches, rechtskräftiges Urteil noch aussteht, dürfte bereits das Urteil des LG Berlin zu Ungunsten der DMG deren Reputation in Gesellschaft und Politik nachhaltig schädigen. Hingegen dürfte die islamische Verbandsgemeinschaft die Rehabilitation der DMG ausschließlich von einem finalen Gerichtsurteil abhängig machen.

Mit der Fortsetzung der Unterwanderungsstrategie und der, mit der COVID-19-Pandemie verbundenen, Verlagerung der Kontaktpflege in den virtuellen Raum, bemühten sich MB-Anhänger und der MB nahestehende Organisationen, ihre Ideologie gesellschaftsfähig zu machen und ihr breite Akzeptanz zu verschaffen. Da die MB nicht unter ihrem Namen auftrat, sondern aus einem weitverzweigten Netzwerk von Organisationen und Vereinen operierte, fiel es ihren Protagonisten oft leicht, als unbefangene Partner von Politik und Zivilgesellschaft aufzutreten. Hierbei handelt es sich um eine auf Dauer angelegte Strategie.

Millî-Görüş-Bewegung

Definition/Kerndaten

Unter der Bezeichnung Millî-Görüş-Bewegung fasst das LfV bestimmte islamistische Bestrebungen türkischen Ursprungs zusammen. Ihr verbindendes Element liegt in der grundlegenden Orientierung an der Ideologie der türkischen Bewegung Millî Görüş (dt. nationale Sicht). Diese Bewegung geht im Wesentlichen auf den Politiker Necmettin Erbakan zurück, der den Laizismus in der Türkei zugunsten einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung auf dem Fundament von Koran, Sunna und Scharia überwinden wollte. Erbakans Vision war es, eine „Großtürkei“ nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches zu errichten. Zur Millî-Görüş-Bewegung (etwa 1.450 Anhänger in Hessen, bundesweit etwa 10.000) gehörten

  • die Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) – in Hessen repräsentiert durch den Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. und im Folgenden als SP Hessen bezeichnet,
  • die Ismail Agâ Cemaati (IAC),
  • die Erbakan Vakfi (Erbakan-Stiftung),
  • die Millî Gazete (Nationale Zeitung) und
  • Teile der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG).
Ereignisse/Entwicklungen

Die Erinnerung an Necmettin Erbakan sowie die Würdigung seines Lebens und Wirkens waren auch neun Jahre nach dessen Tod von unverändert großer Bedeutung für die Anhänger der Millî-Görüş-Bewegung. Nach wie vor wird Erbakan als universales Vorbild und geistiger Führer der Bewegung verehrt. Umfassende und weitreichende Angebote der SP Hessen banden im Berichtsjahr sowohl langjährige Mitglieder als auch den Nachwuchs weiterhin fest an die Organisation. Eine gewichtige Rolle spielte dabei unverändert die Zentrale der SP Hessen als Anlaufstelle in Hanau (Main-Kinzig-Kreis). Auch die Tageszeitung Millî Gazete fungierte als Sprachrohr und Bindeglied innerhalb der Millî-Görüş-Bewegung und verbreitete mit ihrer Berichterstattung mehrfach antiisraelische Propaganda aus der Türkei.

Auf einen Blick
  • Necmettin Erbakan: „Lehrer und Vorbild“
  • Aktivitäten der SP Hessen
  • Zentrale der SP Hessen in Hanau
  • Millî Gazete als Sprachrohr der Millî-Görüş-Bewegung

Necmettin Erbakan: „Lehrer und Vorbild“ | Anlässlich des neunten Todestags Necmettin Erbakans am 27. Februar berichtete die Millî Gazete über die sogenannte Erbakan-Woche in der Türkei und die in diesem Zusammenhang organisierten Gedenkveranstaltungen für den verstorbenen „Millî-Görüş-Führer“. So hieß es, dass der „Hodscha Erbakan sich für die Glückseligkeit der gesamten Menschheit eingesetzt“ habe. Ferner berichtete die Zeitung von einer Gedenkveranstaltung in Deutschland, an der ein hochrangiger Funktionär der türkischen SP teilgenommen habe und bei der auf die drei Ziele Erbakans hingewiesen worden sei: eine lebenswürdige Türkei, wieder eine Großtürkei und eine neue Welt.

Ein Kolumnist der Millî Gazete schrieb in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Erbakan-Woche über aktuelle Ereignisse im Syrien-Konflikt. In Bezug auf die Rollen der USA und Russlands bezeichnete er beide Staaten als „verfeindete Brüder“, welche die „Türkei im Stich ließen und eigentlich nur dem Zionismus dienten“. Er zitierte Necmettin Erbakan mit den Worten: „Der die Welt unterdrückenden und ausbeutenden Bestie dienen der Zionismus als Gehirn, das Europa der Kreuzritter als Herz, die USA als rechter Arm und Russland als linker Arm“.

Der IGMG-Landesverband Hessen lud am 1. März zu seiner wiederkehrenden Gedenkveranstaltung für bedeutende islamische „Vorreiter“ und „Wegbereiter“ erneut nach Kelsterbach (Kreis Groß-Gerau) ein, wobei auch hier der „Hodscha“ Necmettin Erbakan eine zentrale Rolle spielte. Am eigentlichen Todestag war das Gedenken in den Reihen der IGMG auf einen Beitrag in den sozialen Medien beschränkt.

Auch die SP Hessen gedachte in bewährter Form ihres verstorbenen „Millî-Görüş-Führers“. In einigen sozialen Medien wurden zum Todestag entsprechende Gedenkbeiträge veröffentlicht. Am 8. März fanden sich in Frankfurt am Main Anhänger, Funktionäre und Gäste der SP Hessen generationenübergreifend zur Gedenkveranstaltung unter dem sinngemäßen Motto „Erinnerungs- und Erkenntnisprogramm“ zusammen, um an das Leben und Wirken Erbakans zu erinnern, Kontakte zu pflegen und auszubauen. An der Veranstaltung nahmen – neben Vorstandsmitgliedern der SP Hessen – mehrere Vertreter der SP Europa sowie als prominenter Gast ein hochrangiges Vorstandsmitglied der SP aus der Türkei teil.

Auch die Erbakan Vakfi gedachte Necmettin Erbakans, indem sie über ihre Profile in einigen sozialen Medien regelmäßig und in hoher Frequenz Fotos, Bildcollagen und Zitate aus dessen politischem Leben verbreitete. Mehrfach fanden sich darunter Zitate mit antiisraelischem, antizionistischen und antisemitischen Inhalten sowie Aussagen zur angeblichen Vollkommenheit, Unfehlbarkeit und Überlegenheit des Islams. In diesem Kontext wurde Fatih Erbakan als unstrittiger Nachfolger seines Vaters dargestellt.

Aktivitäten der SP Hessen | Die SP Hessen setzte ihre Bestrebungen unverändert fort und konnte Mitgliedern und Anhängern, neben den obligatorischen Veranstaltungs- und Bildungsangeboten, Unterstützung in nahezu allen Lebensbereichen zuteilwerden lassen. Darüber hinaus versuchte die SP Hessen, Nachwuchs für die Organisation zu gewinnen. So fanden, insbesondere im Jugendbereich, in mehreren hessischen Orten regelmäßig Schulungsveranstaltungen und Vorträge im privaten Umfeld statt, um mit interessierten Personen in Kontakt zu kommen und sie mit religiösen und ideologischen Inhalten der Millî-Görüş-Bewegung bekanntzumachen.

Das hierfür notwendige Rüstzeug erhielten die Funktionäre in regelmäßigen Seminaren und Gremiensitzungen. Anfang 2020 kamen Funktionäre der Jugendorganisation der SP Europa, auch aus Hessen, zu einem Bildungscamp in Ankara (Türkei) zusammen. Ein Weggefährte Erbakans und prominenter Angehöriger der türkischen Millî-Görüş-Bewegung erklärte gegenüber den Teilnehmern, dass Millî Görüş wie Noahs Arche sei und als das Tor zur Glückseligkeit für die gesamte Menschheit gelte. Am 18. Januar fand unter der Leitung des Generalsekretärs der SP Europa ein Bildungsseminar für Angehörige der SP Hessen Jugendorganisation in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) statt.

Im Kontext der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie wich die SP Hessen größtenteils auf Online-Treffen aus. Seit Anfang Juli fanden die Gesprächskreise wieder als Präsenzveranstaltungen statt, seit Ende Oktober griff die SP Hessen erneut auf virtuelle Formate zurück.

Im Juni nahm eine Abordnung der SP Hessen Jugendorganisation am Sommercamp der SP Europa Jugendorganisation teil, wo sie unter anderem den Vorsitzenden der Jugendorganisation der türkischen SP und den Vorsitzenden der SP Europa trafen. Mitte August führte die SP Hessen Jugendorganisation ihr eigenes, zweitägiges Sommercamp in einer Jugendherberge im Vogelsbergkreis durch. Dazu reiste auch der Vorsitzende der SP Europa Jugendorganisation an.

Zentrale der SP Hessen in Hanau | Die „Zentrale“ der SP Hessen befand sich weiterhin in Hanau (Main-Kinzig-Kreis). Die Räumlichkeiten wurden von Funktionären und Anhängern für ihre turnusgemäßen Gremiensitzungen und wiederkehrenden Veranstaltungen regelmäßig aufgesucht.

Am 26. Januar traten zwei langjährige Vertreter der Millî-Görüş-Bewegung, die sich für die SP Europa engagieren, als Redner in Erscheinung. In der gleichen Veranstaltungsreihe kam am 22. Februar ein prominenter Redner aus der Türkei nach Hanau und zog unzählige Besucher an. Auch hier wurden in den nächsten Wochen und Monaten alternative Kommunikationsmöglichkeiten genutzt, bevor zwischen Juli und Oktober wieder Sitzungen sowie Vortrags- und Bildungsveranstaltungen in Hanau stattfanden.

Millî Gazete als Sprachrohr der Millî-Görüş-Bewegung | Im Berichtsjahr berichtete die Millî Gazete regelmäßig über Veranstaltungen der Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei und in Europa, so etwa Anfang Februar über eine von der SP organisierte, türkeiweit geplante Aktion mit dem Motto „Jerusalem gehört dem Islam“. Damit verbunden war ein Aufruf des SP-Vorsitzenden zu einer großen „al-Quds-Demonstration“ am 9. Februar in Istanbul (Türkei). In seinem Beitrag betonte der Vorsitzende Temel Karamollaglu unter anderem, dass man sich „egal was es kosten möge, […] gegen das ‚Projekt Großer Naher Osten‘ wehren und dem Weltzionismus [seine] Entschlossenheit demonstrieren“ werde. In der späteren Berichterstattung über die Demonstration hieß es, man habe den „Terrorstaat Israel und seinen Schutzherrn USA verflucht und den angekündigten Friedensplan für den Nahen Osten für nichtig erklärt“. Karamollaglu habe darauf hingewiesen, dass man gegen den „rassistischen Imperialismus“ die „Fackel der globalen Intifada“ entzünden werde. Der „Friedensplan bedeute zudem nichts anderes, als Palästina dem zionistischen Israel restlos zu übergeben“.

Entstehung/Geschichte

1969 gründete Necmettin Erbakan in der Türkei die Millî-Görüş-Bewegung und stellte sich damit gegen die vom Gründer der modernen Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, eingeführte Trennung von Staat und Religion. Auf diese Weise wollte Erbakan die Säkularisierung des Landes rückgängig machen und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben erneut islamisieren.

Auf einen Blick
  • Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei
  • Millî-Görüş-Bewegung in Deutschland
  • SP als Repräsentantin der Millî-Görüş-Bewegung
  • Rolle der IAC in der Türkei

Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei | 1970 wurde als politische Vertretung der Millî-Görüş-Bewegung die Millî Nizam Partisi (MNP, Nationale Ordnungspartei) gegründet. 1973 verfasste Erbakan das für die Ideologie der Bewegung noch immer wegweisende Buch „Millî Görüş“. Über Parteiverbote und Parteineugründungen sowie ein zweimal verhängtes Politikverbot für Erbakan führte der Weg der Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei bis zur 2001 gegründeten und noch heute existenten SP. Erbakan war in der Türkei mehrere Male stellvertretender Ministerpräsident und bekleidete 1996/97 das Amt des Ministerpräsidenten.

Millî-Görüş-Bewegung in Deutschland | 1976 entstand in Köln (Nordrhein-Westfalen) als Ableger der Millî-Görüş-Bewegung die Türkische Union Europa e. V. Sie benannte sich 1982 in Islamische Union Europa e. V. (IUE) um. 1984 kam es innerhalb der IUE zu Auseinandersetzungen über die politische Ausrichtung des Vereins. Als Folge gründete sich 1985 in Köln die Avrupa Millî Görüş Teşkilatları (AMGT, Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V.) als Nachfolgeorganisation der mittlerweile bedeutungslos gewordenen IUE.

Aus der AMGT gingen 1995 die Europäische Moscheebau und Unterstützungsgemeinschaft (EMUG) und die IGMG hervor. Organisatorisch waren beide in einen wirtschaftlichen und einen ideellen Bereich getrennt. Aufgabe der EMUG war die umfangreiche Grundstücksverwaltung und Betreuung der AMGT- und IGMG-Vereine. Die IGMG war auf die religiösen Belange ihrer Mitgliedsvereine ausgerichtet. Viele Moscheevereine änderten in der Folge den Namenszusatz AMGT in IGMG. Die Zugehörigkeit zur Millî-Görüş-Bewegung blieb jedoch teilweise bis in die Gegenwart erhalten und zeigte sich oftmals auch in personellen Überschneidungen von AMGT und IGMG.

SP als Repräsentantin der Millî-Görüş-Bewegung | Auf politischer Ebene vertritt die von Necmettin Erbakan im Jahr 2001 gegründete SP die Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei. Die SP ging aus der verbotenen Fazilet Partisi (FP, Tugendpartei) Erbakans hervor, aus der damals auch die jetzige türkische Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) entstand. Obwohl sich die AKP mit der Zeit von der ursprünglichen Ideologie der Millî-Görüş-Bewegung distanzierte, verbinden sie identische konservative Wurzeln mit der SP. Der Einfluss der SP auf die politische Willensbildung in der Türkei ist aufgrund ihres begrenzten Wählerpotenzials sehr gering.

Rolle der IAC in der Türkei | Die IAC ist der Bruderschaft der Naqshbandiya zuzuordnen, die im 14. Jahrhundert in Zentralasien entstand. Ihr Gründer, Bahaud-Din Naqshband aus Buchara (heutiges Usbekistan), steht in einer Reihe sogenannter Meister in Zentralasien, die mystische Gemeinschaften gründeten. Die sunnitische Naqshbandiya entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten zur bedeutendsten Bruderschaft und ist heute weltweit verbreitet. Ihr Handeln beruht auf einer religiös geprägten Lebensführung, wobei eine enge emotionale Bindung zwischen Schüler und Meister besteht. Unter anderem mithilfe spezieller Meditationstechniken wird die unmittelbare mystische Gotteserfahrung angestrebt, durch schweigendes Denken an Allah (arab. dhikr ) suchen die Gläubigen diesem so nahe wie möglich zu kommen.

Obwohl 1925 durch Atatürk verboten, spielte die Naqshbandiya-Bruderschaft im religiösen Leben in der Türkei eine bedeutende Rolle. Necmettin Erbakan und das in der Türkei lebende spirituelle Oberhaupt der Bruderschaft, Scheich Mahmud Ustaosmanoğlu, pflegten engen Kontakt zu dem einflussreichen türkisch-sunnitischen Naqshbandiya-Scheich Mehmet Zaid Kotku und wurden durch ihn geprägt. Kotku war eine der führenden Personen des Naqshbandiya-Ordens.

Ideologie/Ziele

Ebenso wie andere islamistische Bewegungen will die Millî-Görüş-Bewegung eine auf den Rechtsvorschriften der Scharia beruhende islamische Ordnung realisieren. Da in der früher streng laizistisch orientierten Türkei das Propagieren eines entsprechenden Konzepts gravierende rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte, führte Erbakan neue Begrifflichkeiten ein.

Auf einen Blick
  • „Gerechte“ und „nichtige“ Ordnung
  • „Neue Welt für die gesamte Menschheit“
  • Alleinvertretungsanspruch und Antisemitismus in der Millî-Görüş-Bewegung

„Gerechte“ und „nichtige“ Ordnung | Gemäß Erbakans Grundsätzen gibt es in der Welt eine gerechte (türk. adil düzen ) und eine nichtige Ordnung (türk. batıl düzen ). Ziel müsse es sein, die schlechte, tyrannische, auf menschlicher Willkür sich gründende und daher vergängliche Ordnung durch die gute, von Allah vorgegebene und angeblich auf Wahrheit fußende Ordnung zu überwinden. Dies sei allein durch die Millî Görüş zu erreichen.

„Neue Welt für die gesamte Menschheit“ | Die Verwirklichung dieser Gedanken propagiert die Millî-Görüş-Bewegung insbesondere in der Türkei, wo eine islamische Staats- und Gesellschaftsordnung nach den Grundlagen von Koran und Sunna geschaffen werden soll. Die Millî-Görüş-Bewegung verbindet in ihrer Gesamtheit einen universalen türkisch-nationalistischen mit einem islamistischen Ansatz. So hielt der Generalsekretär der türkischen SP im Januar 2019 einen Vortrag in Dortmund (Nordrhein-Westfalen), wobei er laut der Millî Gazete sagte, dass es die Partei für ihre Aufgabe halte, sich um die Probleme der Landsleute zu kümmern sowie eine „lebenswerte Türkei“, eine „neue Großtürkei“ und eine „neue Welt für die gesamte Menschheit“ zu schaffen.

Alleinvertretungsanspruch und Antisemitismus in der Millî-Görüş-Bewegung | In einem Interview nahm Erbakan im Jahr 2010 für sich und die SP in Anspruch: „Wir sind das Volk, deswegen verändern wir die Türkei“. Darüber hinaus erklärte er:

„Wir werden eine neue Welt schaffen, auf der Basis von Wissenschaft und Vernunft, auf den Grundlagen der gerechten Ordnung, die uns die Osmanen hinterließen. Darin bekommt jeder sein Recht, auf den ihm angemessenen Platz. Auch den Juden und Christen würde so Recht zuteil, auch sie würden befreit.“

Offen artikulierte Erbakan in Bezug auf Juden und die territoriale Integrität des Staats Israel:

„Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen. Sehen Sie sich diese Ein-Dollar-Note an. Darauf ist ein Symbol, eine Pyramide von 13 Stufen, mit einem Auge in der Spitze. Es ist das Symbol der zionistischen Weltherrschaft. Die Stufen stellen vier ,offene‘ und andere geheime Gesellschaften dar, dahinter gibt es ein ,Parlament der 300‘ und 33 Rabbinerparlamente, und dahinter noch andere, unsichtbare Lenker. Sie regieren die Welt über die kapitalistische Weltordnung. […] Wenn die Israelis in Frieden leben wollen, wäre es vielleicht besser, wenn sie zum Beispiel in Amerika lebten.“

Strukturen

Die Millî-Görüş-Bewegung setzt sich aus verschiedenen, grundsätzlich türkischstämmigen, Gruppierungen zusammen. Ihre gemeinsame Basis bildet – in unterschiedlich starker Ausprägung – die Orientierung an den ideologischen und religiösen Vorstellungen Necmettin Erbakans, gepaart mit der fortwährenden Verehrung seiner Person und vielfältigen Aktivitäten zur Verbreitung seiner Botschaften.

Auf einen Blick
  • SP
  • Erbakan Vakfı (Erbakan Stiftung)
  • Millî Gazete
  • Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG)

SP | Seit einigen Jahren etablieren sich deutschlandweit Ableger der europäischen SP-Vertretung, die Anhänger und Wählerpotenzial in Deutschland zu aktivieren versuchen, um die Politik der Mutterpartei in der Türkei zu unterstützen. Dabei vertraten die SP-Strukturen in Deutschland die politische Ausrichtung der Ideologie Necmettin Erbakans innerhalb der Millî-Görüş-Bewegung. In Hessen war dies der Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. einschließlich seiner nachgeordneten Strukturen.

Erbakan Vakfı (Erbakan-Stiftung) | Das Ziel der laut eigenen Angaben im Jahr 2013 in der Türkei von Vertretern der Millî-Görüş-Bewegung, Angehörigen der SP sowie Weggefährten Necmettin Erbakans gegründeten Erbakan Vakfı ist es, dessen Ideologie zu vertreten und die Erinnerung an ihn aufrechtzuerhalten. Dabei sollen sich Aktivitäten der Erbakan Vakfı weltweit entfalten und auf den Prinzipien der Millî Görüş beruhen. Vorsitzender der Erbakan Vakfı ist der Sohn Necmettin Erbakans, Fatih Erbakan. In Deutschland wurde ebenfalls im Jahr 2013 die Europavertretung der Stiftung gegründet.

Millî Gazete | Die türkische Tageszeitung Millî Gazete, deren Europaausgabe in Frankfurt am Main verlegt wird, informierte ursprünglich über die IGMG. Inzwischen berichtet sie in zunehmendem Maße über die Aktivitäten der SP im In- und Ausland. In ihrem Selbstverständnis sah sich die Millî Gazete als einzige und konstante Vertreterin der Millî-Görüş-Ideologie unter den Printmedien. Immer wieder hob die Zeitung in ihren Artikeln Erbakan als den Retter der Welt hervor und rühmte dessen Ideologie der Errichtung einer neuen Welt, in welcher der Islam wiederbelebt werde und über allen anderen Ordnungen stehe. Die Millî Gazete nahm für die verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Millî-Görüş-Bewegung die Rolle eines wichtigen, verbindenden Mediums ein.

Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) | Die IGMG ist laut ihrer Selbstdarstellung eine staatenübergreifend vernetzte Religionsgemeinschaft, die sich in Regionalverbände, Moscheegemeinden und weitere Zweigstellen aufgliedert. Die IGMG ist nicht in der Gesamtheit ihrer Mitglieder der islamistischen Millî-Görüş-Bewegung zuzurechnen. Teile der IGMG befinden sich in einem bereits seit Jahren andauernden Prozess des Abwendens von der islamistischen Ideologie Erbakans. Im Berichtsjahr lagen jedoch tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass einige Strukturen der IGMG in Hessen weiterhin der Ideologie Erbakans folgten und bestrebt waren, dessen Ziele umzusetzen. In Hessen gehören weiterhin der IGMG-Landesverband mit seinen angegliederten Verbänden der Frauen, Jugend und Studierenden sowie einzelne IGMG-Ortsvereine der Millî-Görüş-Bewegung an.

Bewertung/Ausblick

Zu Beginn des Berichtsjahres waren die einzelnen Gruppierungen der Millî-Görüş-Bewegung mit verschiedenen Veranstaltungen und mit vielfältigen Bildungs- und Freizeitangeboten in gewohnter Weise aktiv. Insbesondere die seit Frühjahr in Deutschland und in Hessen eingeführten Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben wirkten sich unzweifelhaft auch auf derartige Aktivitäten aus. Geplante Vorhaben konnten in der Folge nur begrenzt stattfinden. Darauf reagierten die Gruppierungen relativ schnell, waren mithilfe vielfältiger Online-Angebote weiterhin präsent und hielten so regen Kontakt zu Mitgliedern, Anhängern und Interessierten.

Es ist davon auszugehen, dass die einzelnen Gruppierungen innerhalb der Millî-Görüş-Bewegung nach einer Lockerung der Anti-COVID-19-Maßnahmen ihre üblichen Aktivitäten entfalten werden. Die Mitglieder der Millî-Görüş-Bewegung organisieren oftmals Präsenzveranstaltungen, die zum Teil der Öffentlichkeit zugänglich sind. In Zeiten der Pandemie war die Bewegung dazu gezwungen, Treffen im virtuellen Raum abzuhalten. Bewährt sich dies als Kommunikationsmittel, wird es wahrscheinlich weiterhin genutzt werden.

Sonstige Beobachtungsobjekte

Harakat al-Shabaab al-Mujahidin (al-Shabaab, Bewegung der Mujahidin-Jugend) | 2012 schwor die terroristische Organisation al-Shabaab dem Nachfolger Osama bin Ladens, Dr. Aiman al-Zawahiri, die Gefolgschaft und gilt seitdem als regionaler al-Qaida-Ableger. Ziele al-Shabaabs sind die Errichtung eines islamischen Gottesstaats am Horn von Afrika, der Sturz der somalischen Regierung sowie die Beteiligung am weltweiten gewaltsamen Jihad. Die Terrormiliz kontrollierte Teile Südsomalias und setzte dort die Scharia in strenger Form durch. Aufgrund des militärischen Engagements der Afrikanischen Union (AU) wurde al-Shabaab mithilfe des internationalen Truppenkontingents African Mission in Somalia (AMISOM) zwar im Jahr 2012 aus Mogadischu und weiteren Gebieten verdrängt, dennoch verübte die Terrormiliz in den vergangenen Jahren in Somalia und im Nachbarland Kenia schwere Anschläge, die zahlreichen Menschen das Leben kosteten. Bevorzugte Anschlagsziele waren Hotelgebäude, Militärstützpunkte und Regierungsgebäude.

Auch im Berichtsjahr wurden bei Terroranschlägen in Afrika zahlreiche Menschen getötet. In Kenia griffen Kämpfer der al-Shabaab im Januar eine gemeinsame Militärbasis von kenianischer und amerikanischer Armee nahe der Ferieninsel Lamu an. Dabei wurden ein amerikanischer Soldat und zwei Angestellte eines Dienstleisters des Verteidigungsministeriums getötet sowie zwei weitere Personen verwundet. Wenige Tage später kamen in der Hauptstadt Mogadischu durch eine Autobombe in der Nähe des somalischen Parlaments fünf Menschen ums Leben, bei einem Terrorangriff auf ein Hotel wurden im August mindestens 16 Menschen getötet, darunter die fünf Angreifer, und 28 verletzt.

Zum 19. Jahrestag der Anschläge vom 11. September bezeichnete al-Zawahiri die USA und Israel als „Kopf des Unglaubens“ und benannte deren lokale Verbündete als weitere Ziele möglicher Anschläge. In einer Videobotschaft an seine Anhänger betonte er das angebliche Recht der Mujahidin (Kämpfer für den Jihad), sich gegen Herrscher aufzulehnen, die Muslime unterdrückten, und diese zu bekämpfen.

In Deutschland verfügte al-Shabaab über keine organisierte Unterstützungsstruktur, einzelne Sympathisanten und ehemalige Mitglieder der Terrormiliz gab es jedoch auch in Hessen.

Ansaar International e. V. | Die in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) ansässige Gruppierung rief bundesweit zu Spenden für bedürftige Muslime in arabischen Ländern auf und propagierte die entsprechenden Kampagnen wie in den Vorjahren ausführlich auf verschiedenen Internetseiten und in den sozialen Medien. Die Gruppierung hat den vordergründigen Zweck, humanitäre Hilfe für Muslime weltweit, schwerpunktmäßig für Bürgerkriegsopfer in Syrien zu organisieren. In Deutschland fungieren regionale Teams als Sammelstellen für die Geld- und Sachspenden.

Nachdem das Bundesministerium des Innern, für Sport und Heimat 2019 ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Ansaar International e. V. eingeleitet hatte, verbot der Bundesminister des Innern am 29. April 2021 die Vereinigung einschließlich acht Teilorganisationen. Hiervon war in Hessen das Somalische Komitee Information und Beratung in Darmstadt und Umgebung e. V. (SKIB) betroffen. Dazu fanden Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen in insgesamt zehn Ländern statt.

Ansaar International e. V. verfolgte gegen die Strafgesetze gerichtete Zwecke und Tätigkeiten und richtete sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung sowie die verfassungsmäßige Ordnung. Die Vereinigung einschließlich ihrer Teilorganisationen nutzte ein Geflecht aus Vereinen und Einzelpersonen, um Spenden zu erheben, die sie entgegen ihrer eigenen Angaben nicht nur für humanitäre Zwecke, sondern insbesondere zur Unterstützung terroristischer Organisationen wie Jabhat al-Nusra, Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) sowie al-Shabaab verwendete. Zudem betrieb Ansaar International e. V. aktiv salafistische Missionierung und verbreitete in diesem Zusammenhang islamistische Inhalte.

Hizb Allah („Partei Gottes“) im Spektrum des schiitischen Islamismus | Die Anfang der 1980er Jahre im Libanon infolge israelischer Militäroperationen im Libanon gegründete Hizb Allah fungierte zunächst als Miliz. Sie operierte überwiegend im Verborgenen und wurde primär zur „Verteidigung“ des Libanon gegen Israel eingesetzt. Über die Jahrzehnte hinweg artikulierte die Gruppierung politische Ziele und etablierte sich als feste Größe in der libanesischen Parteienlandschaft. Viele Bestandteile ihrer islamistischen Programmatik wichen inzwischen einem pragmatisch-opportunistischen Politikstil. Ungeachtet ihrer Akzeptanz demokratischer Willensbildungsprozesse rückte die Hizb Allah nicht von ihrem erklärten Ziel ab, eine islamische Herrschaftsordnung im Libanon nach dem Vorbild der iranischen Theokratie zu errichten. Die iranische Staatsführung gilt bis heute als gewichtiger Einflussfaktor für die Gruppierung. Unverändert verfügt die Hizb Allah über einen paramilitärischen Arm, der die Widerstandfähigkeit gegen Israel herstellen soll und in den vergangenen Jahren als Akteur gegen den IS in Syrien auftrat.

Als unmittelbare Reaktion auf die Tötung des hochrangigen Quds-Kommandeurs Qasem Soleimani am 3. Januar durch einen Drohnenangriff des amerikanischen Militärs fand lediglich am 4. Januar vor dem iranischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main eine Demonstration statt, bei der regimetreue Anhänger ihre Solidarität mit dem Getöteten und dem iranischen Regime bekundeten. Die Quds-Brigaden werden vom Iran befehligt und operierten in der Vergangenheit überwiegend im Irak und in Syrien. Der bis Ende des Berichtsjahrs amtierende Vorstandsvorsitzende des regimenahen Dachverbands Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS) veröffentlichte am 6. Januar auf seinem privaten Facebook-Profil und der Webseite seines Frankfurter Moscheevereins einen Beitrag, worin er Soleimani als einen „reinen, liebenswürdigen und freien Menschen“ und als „Märtyrer“ bezeichnete. Die Tötung selbst bezeichnete er als „unmenschlich oder unmoralisch“, als eine „terroristische Handlung“ und einen „grausamen Terroranschlag“. Auch auf weiteren Facebook-Profilen von Hizb-Allah-Anhängern in Hessen wurde gegen die Tötung Soleimanis protestiert; in einem einzelnen Beitrag wurde Vergeltung befürwortet.

Mit Verbotsverfügung vom 26. März, bekanntgemacht am 30. April, erließ das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein Betätigungsverbot für die Hizb Allah, da sich die Tätigkeit der Organisation gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet und Strafgesetzen zuwiderläuft. Dabei ist es unerheblich, ob die Hizb Allah als politische, soziale oder terroristische Struktur in Erscheinung tritt. Da es sich bei der Hizb Allah um eine ausländische Vereinigung ohne eine feste Organisationsstruktur in Deutschland handelt, war es nicht möglich, die Organisation zu verbieten und aufzulösen. Aus Deutschland heraus wurde die Hizb Allah vor allem durch Spenden unterstützt.

Im Zuge der Umsetzung der Verbotsverfügung kam es am 30. April zu Durchsuchungen in Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen. Hessen, das keinen Schwerpunkt von Aktivitäten der Hizb Allah bildet, war hiervon nicht betroffen. Die Zahl der Hizb-Allah-Anhänger sowie des Sympathisantenkreises bewegte sich in Hessen im mittleren zweistelligen Bereich. Das Betätigungsverbot rief bundesweit keine signifikanten Reaktionen hervor. Es gab empörte Reaktionen in den sozialen Netzwerken, jedoch kam jedoch nicht zu einer Mobilisierung zum Beispiel in Form von Protestkundgebungen. Zu gewaltorientierten, terroristischen oder anderweitig staatsgefährdenden Aktivitäten, die auf die Hizb Allah zurückzuführen waren, lagen im Berichtszeitraum keine Erkenntnisse vor.

Islamistische Straf- und Gewalttaten

Im Vergleich zum Berichtsjahr 2019 blieb die Anzahl der islamistischen Straf- und Gewalttaten konstant, wobei es zwei Körperverletzungen (2019: eine) gab. Insgesamt fiel der überwiegende Teil der Delikte in den Bereich „andere Straftaten“, wobei im Berichtsjahr vermehrt Fälle von Terrorismusfinanzierung und gegen das Vereinsgesetz gerichtete Verstöße zu verzeichnen waren. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität zur Erfassung politisch motivierter Straf- und Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.)

2020 2019 2018 2017 2016
Deliktart
Tötung
Versuchte Tötung
Körperverletzung 2 1 1
Brandstiftung/Sprengstoffdelikte
Landfriedensbruch
Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs, Luft- und Straßenverkehr
Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte 1
Gewalttaten insgesamt 2 1 1 1
Sonstige Straftaten
Sachbeschädigung 2 3 1 1
Nötigung/Bedrohung 2 1 3 5 10
Andere Straftaten (insbesondere Propagandadelikte) 29 34 20 92 51
Straf- und Gewalttaten insgesamt 35 36 27 99 62
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