Glossar
Anhang

Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2016

Reichsbürger und Selbstverwalter

Reichsbürger und Selbstverwalter

Unter der Bezeichnung Reichsbürger und Selbstverwalter fasst der Verfassungsschutz Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch gewählten Repräsentanten nicht anerkennen. Vor diesem Hintergrund sind Reichsbürger der Auffassung, dass das Deutsche Reich weiterhin besteht. Dabei berufen sie sich unter anderem auf Verschwörungstheorien und ein von ihnen selbst definiertes Naturrecht. Da sich Reichsbürger und Selbstverwalter als außerhalb der Rechtsordnung stehend sehen, sind sie in hohem Maße bereit, gegen Gesetze zu verstoßen.

Selbstverwalter unterscheiden sich von Reichsbürgern im Wesentlichen dadurch, dass sie sich nicht am Deutschen Reich orientieren, sondern darauf beharren, in einem von der Bundesrepublik Deutschland völlig unabhängigen, eigenen Hoheitsgebiet zu leben. Sie glauben, durch eine entsprechende Erklärung aus der Bundesrepublik Deutschland „austreten“ zu können.

Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachten die Reichsbürger und Selbstverwalter seit dem 22. November in Gänze.

Angehörige: In Hessen etwa 500, bundesweit etwa 10.000
Medien: Internetpräsenzen

Heterogenes Spektrum | Das Spektrum der Reichsbürger und Selbstverwalter besteht aus einer Vielzahl kleiner Gruppierungen sowie aus Einzelpersonen. Die Szene ist vielschichtig, unübersichtlich und umfasst vor allem Verschwörungstheoretiker, Geschäftemacher, wirtschaftliche Gescheiterte und Leichtgläubige. Von Teilen des Reichsbürgermilieus werden rechtsextremistische Ideologien vertreten. Die Gruppierungen und Einzelpersonen konkurrieren häufig miteinander, weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf. Im Berichtszeitraum gab es sowohl länderübergreifende als auch regional agierende Organisationen, wobei die Szene vorwiegend über das Internet und soziale Netzwerke kommunizierte.

In der Reichsbürger-Szene griffen manche Aktivisten auf rechtsextremistische Ideologieelemente zurück, das Verwenden dieser Elemente war aber unterschiedlich stark ausgeprägt. Während ein kleiner Teil der Szene eindeutig rechtsextremistisch agierte, verzichteten viele Akteure nahezu gänzlich darauf.

Warum die Reichsbürger- und Selbstverwalter-Szene beobachtet wird | Die grundsätzliche Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesetze und Institutionen bietet hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen. Dies ist unabhängig davon, ob diese Bestrebungen dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zuzuordnen sind. Indem Reichsbürger und Selbstverwalter die Gesetzgebung und die verfassungsmäßige Ordnung ablehnen, wenden sie sich gegen die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und gegen die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Dies gilt ebenso, wenn Reichsbürger und Selbstverwalter von Behörden und Gerichten fordern, geltendes Recht nicht anzuwenden.

Darüber hinaus können sich Bestrebungen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern auch gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. Wenn solche Aktivitäten mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, steht dies nicht mit dem Gedanken der Völkerverständigung in Einklang.

Bei der Forderung nach der Wiederherstellung eines Deutschen Reichs berufen sich die entsprechenden Akteure zum Teil völlig wahllos auf unterschiedliche historische und völkerrechtliche Situationen Deutschlands, zum Beispiel in seinen Grenzen von 1871, 1918, 1933 oder 1937 im Rahmen der damals gültigen Verfassungen. Diese völkerrechtswidrigen und gebietsrevisionistischen Vorstellungen und Bestrebungen von Reichsbürgern richten sich gegen die territoriale Integrität von Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland und verstoßen damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung.

Gebietsrevisionismus | Exemplarisch hierfür steht folgende Aussage der Exilregierung Deutsches Reich unter der Überschrift „3. Oktober − Der wahre Volkstrauertag!“:

„Der Begriff Wiedervereinigung ist demnach irreführend, da nur zwei Teile Deutschlands, die Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) und die Deutsche Demokratische Republik (Mitteldeutschland), vereinigt wurden, Ostdeutschland aber immer noch besetzt ist und deutsche Staaten wie Österreich, Luxemburg oder Lichtenstein immer noch eigene Kleinstaaten sind“.

Reichsbürger und Selbstverwalter berufen sich auf eine Vielzahl pseudojuristischer Erwägungen. Die Bundesrepublik stellte für sie lediglich ein „Besatzungskonstrukt“ dar: Deutschland sei seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 kein souveräner Staat, sondern ein von den alliierten Streitkräften − vor allem von der „Hauptsiegermacht“ USA − militärisch besetztes Gebiet. Entsprechend behauptete die Szene, die Bundesrepublik Deutschland existiere nicht, sei nicht souverän bzw. lediglich eine „Firma“. So agierten und polemisierten Reichsbürger und Selbstverwalter gegen eine angebliche „BRD-GmbH“ sowie gegen Parlament und Regierung, Justiz und Polizei. Das Grundgesetz, die Rechtsordnung, Gerichtsurteile und behördliche Bescheide erkannten Reichsbürger und Selbstverwalter nicht an. Stattdessen beanspruchten sie, eine eigene Staatsgewalt auszuüben: Sie vergaben „staatstragende“ Ämter, verkauften „Reichsausweise“ und selbstgefertigte „Reichsführerscheine“, die auch im Internet zum Ausdrucken und Ausfüllen abrufbar waren.

Exemplarisch und das Agieren der Reichsbürger erhellend ist ein im Oktober vom „Auswärtigen Amt“ eines „Bundesstaats Bayern“ „an alle Dienststellen, Finanzämter, Gerichte und öffentliche Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland“ versandtes Telefax, das an dieser Stelle bewusst in einem längeren Auszug abgedruckt wird. Darin stellte ein

„Präsidium des Deutschen Reichs des seit 1871 weiterhin legal existierenden Staatenbundes Deutsches Reich im Rechtsstand der Verfassung vom 16. April 1871, innerhalb der Reichsgrenzen 2 Tage vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, wiederhergestellte Handlungsfähigkeit seit 3. Oktober 2015 und gemäß völkerrechtskonformer Reorganisation der Gliedstaaten, für den Freistaat Preußen im Rechtsstand vom 18. Juli 1932, Verfassungsstand 30. November 1920 […]

Strafanzeige und Strafantrag und Internationale Schadensersatzklage“

gegen die

„Bundesrepublik Deutschland, BRD, Bund, Germany etc. pp. […] und die Geschäftsführerin Frau Angela Merkel“

wegen

„Täuschung im Rechtsverkehr und Annexion von Staatsgebieten“, „schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Verstoß[es] gegen die Haager Landkriegsordnung“.

Weiterhin heißt es in dem Fax:

„Die sich in Reorganisation befindenden Staaten teilen mit, daß das Präsidium des Deutschen Reichs am 03. Oktober 2015 auf der Burg Brandenstein die Wiederherstellung seiner Handlungsfähigkeit proklamiert hat. Der Freistaat Preußen besitzt die Vorrechte im Präsidium und befindet sich bereits seit dem 19. Oktober 2012 in Reorganisation in Verbindung mit den daraus resultierenden Restitutionspflichten gemäß § 185 Völkerrecht, Beendigung des völkerrechtswidrigen Verhaltens und Wiederherstellung des status quo ante (bellum), für die Staaten und den seit 1871 existierenden Staatenbund Deutsches Reich in den Reichsgrenzen 2 Tage vor Ausbruch des 1. Weltkriegs (2. Deutsches Reich). […]
Wir, die indigenen deutschen Völker sind eigenständige Ethnien, Menschengruppen gemäß § 6 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) und legitimieren uns aus den germanischen Völkern, den autochthonen Angehörigen der indigenen Völker des Staatenbundes Deutsches Reich im Verfassungsstand 1871 und im Rechtsstand zwei Tage vor Ausbruch des 1. Weltkrieges (2. Deutsches Reich). Für den Freistaat Preußen gilt der Verfassungsstand vom 30. November 1920 im Rechtsstand vom 18. JuIi 1932. Wir sind die Ureinwohner der angestammten (ab 1945 besetzten, später mit dem Grundgesetz für die BundesrepubIik Deutschland verwaIteten) Territorien/Gebiete und wir erklären aus Gründen VN(UN)-ResoIution 61/295 i. V. m. VN(UN)-Resolution 217 A(III) keinen Verzicht auf unsere indigenen, ureinwohnerrechtlichen, humanitären Rechte […].
Während der Reorganisation gemäß § 185 Völkerrecht haben die BRDBediensteten den Anordnungen der Amtsträger der sich in der Reorganisation befindenden Glied-/Bundesstaaten sowie des Präsidiums des 2. Deutschen Reichs im Rahmen der Amtshilfepflicht Folge zu leisten.
Die BRD-Bediensteten werden von Amts wegen durch uns, Ihre oberste Aufsichtsbehörde, deshalb sofort und unmittelbar aufgefordert, Ihre Selbstjustiz, Nötigung und Bedrohung, welche die BRD-Bediensteten unrechtmäßig an den Staatsangehörigen der Glied-/Bundesstaaten unter Inszenierung von Urkundenfälschung und Vortäuschung falscher Tatsachen betreiben, zu unterlassen. […]
Aufgrund der offenkundigen Tatsache, dass die BRD-Dienststellen lediglich private Firmen sind, ist hier klarzustellen, daß die immer wieder versuchte Anbahnung der Vollstreckung im öffentlichen Recht (→Verwaltungsvollstreckung), die an den Staatsangehörigen unter Inszenierung von Scheinverfahren ausgeübt wird, unrechtmäßig ist. Für die Durchsetzung ihrer Firmeninteressen verbleibt den BRD-Einrichtungen der Weg der privatrechtlichen Zwangsvollstreckung, bei dem gemäß §126 BGB die Schriftform einzuhalten ist. Dazu sind von Ihren Auftraggebern rechtsgültige Handelsverträge gemäß § 17 HGB, mit der Unterschrift des Kaufmanns, der diesen Vertrag mit dem Staatsangehörigen abgeschlossen haben will, und der Unterschrift der betroffenen Menschen vorzulegen. Diese Nachweise haben die BRD-Bediensteten in notariell beglaubigter Form zu erbringen. Können sie das nicht, handelt es sich offenkundig um unbestellte Dienstleistungen zum Schaden Dritter, die eine sofortige Haftung der BRD-Geschäftsführer auslösen“.
(Schreibweise wie im Original.)

Antisemitismus | Weitverbreitet unter Reichsbürgern und Selbstverwaltern war der Glaube an Verschwörungstheorien (etwa in Bezug auf den 11. September 2001), gepaart mit Antisemitismus:

„Es regieren die sogenannten ‚Rothschild-Banken‘ und so ziemlich alle Menschen rennen im Hamsterrad dem ‚Rothschild-Geld‘ hinterher. […] Das stärkt die Macht der Betreiber des Geldsystems ins unermessliche, von denen wir wissen, dass sie die wahren Herrscher der Welt sind“.
(Schreibweise wie im Original.)

In einzelnen Fällen leugneten Szeneangehörige den Holocaust. Darüber hinaus war in der Szene völkisches Gedankengut verbreitet.

Mitunter gewalttätiger Widerstand gegen Staat und Verwaltung | Reichsbürger und Selbstverwalter hielten nicht nur öffentlichkeitswirksame Vorträge mit pseudo-juristischen Inhalten, um neue Anhänger zu gewinnen und die Gesellschaft mit der „Wahrheit“ bekannt zu machen, wobei teilweise „Reichsdokumente“ verkauft wurden. Darüber hinaus weigerten sich Szeneangehörige, Steuern und Gebühren zu entrichten und widersetzten sich verbal aggressiv − mitunter auch tatsächlich gewalttätig − dem rechtmäßigen Verwaltungshandeln von Polizei, Gerichtsvollziehern und anderen Amtsträgern. Bei Behörden reichten sie absurde Anfragen und − wie oben ausführlich zitiert − abstruse, häufig umfangreiche Schriftsätze ein, manchmal wohl auch zu dem Zweck, die Verwaltung zu behindern. Im Englischen wird hierfür der Ausdruck paper terrorism verwendet.

Zu etlichen Reichsbürgern lagen der Polizei Erkenntnisse zu Gewaltdelikten (Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Widerstandsdelikte) vor. Außerdem begingen Reichsbürger etwa Betrug, Hausfriedensbruch, Nötigung, Sachbeschädigung, Amtsanmaßung, Urkunden- und Kfz-Kennzeichenfälschung, Beleidigung und Verleumdung. Manche verstießen gegen das Kunsturheber- sowie das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz.

Rechtsansprüche gegenüber Reichsbürgern mussten die Behörden oft mittels Zwangsvollstreckung durchsetzen. Hierbei besteht die Gefahr, dass sich Reichsbürger mit Gewalt einer Maßnahme widersetzen. Ihr teilweise erhebliches Gewaltpotenzial richtete sich vornehmlich gegen Gerichtsvollzieher und Polizeibeamte. Deren Einsätze bezeichneten Reichsbürger als „Überfälle“, gegen die angeblich „Notwehr“ geboten sei. Dabei waren Angehörige der Reichsbürger-Szene bereit, auf Beamte zu schießen, so etwa im August in Reuden (Sachsen-Anhalt) und im Oktober in Georgensgemünd (Bayern), wo ein Polizeibeamter nach dem Angriff eines Reichsbürgers seinen schweren Verletzungen erlag. Daher begleiten Spezialeinsatzkräfte der Polizei, wenn es geboten ist, die Maßnahmen der Ordnungsbehörden.

Etwa ein Zehntel der den Sicherheitsbehörden in Hessen bekannten Reichsbürger besaß eine waffenrechtliche Erlaubnis. Rund drei Viertel dieser Personen waren im Besitz von Waffen. Liegen den Behörden extremistische Erkenntnisse in Bezug auf diesen Personenkreis vor, wird der Widerruf waffenrechtlicher Erlaubnisse geprüft und gegebenenfalls vollzogen.

Malta-Masche | Reichsbürger und Selbstverwalter versuchten mitunter, sich nicht nur behördlichem Zugriff zu entziehen, sondern ihrerseits Behördenmitarbeiter widerrechtlich zu belangen. Hierfür wurden im Zuge der „Malta-Masche“ Schulden eines Behördenmitarbeiters erfunden und in das Online-Handelsregister Uniform Commercial Code (UCC) eingetragen. Anschließend wurden die Forderungen an ein von „Reichsbürgern“ gegründetes Inkassounternehmen abgetreten. Durch eine Besonderheit im maltesischen Rechtssystem können diese erfundenen Forderungen, ohne eine Prüfung ob ihrer Echtheit, versucht werden zu vollstrecken.

Nach Ansicht des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) und des Auswärtigen Amtes (AA) stellt dieses missbräuchliche Verfahren einen Betrugsversuch dar. Um sich jedoch nicht auf einen möglichen Rechtsstreit einlassen zu müssen, ist es entscheidend, unberechtigten Forderungen unmittelbar zu widersprechen. Außerdem wird empfohlen, solche Versuche des Prozessbetrugs zur Anzeige zu bringen. Darüber hinaus gibt es für Behörden einen Ansprechpartner bei UCC, so dass bereits unberechtigte Eintragungen direkt gelöscht werden können und somit der „Malta-Masche“ die Grundlage entzogen wird.

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