Glossar
Anhang

Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2016

Extremismus in Hessen

Extremismus in Hessen – Ein Überblick

Rechtsextremismus | Mit der Identitären Bewegung Deutschland (IBD) nahmen sowohl bundes- als auch hessenweit die Aktivitäten eines innerhalb des Rechtsextremismus relativ neuen Phänomens zu. In Hessen konzentrierte sich die IBD auf ihren fremdenfeindlichen Protest gegen die „Einwanderung“ und die Flüchtlingspolitik und führte entsprechende Spray- und Aufkleberaktionen durch. Dabei präsentierte sich die IBD im Internet − vor allem in den sozialen Medien − und bei Aktionen „modern“, „intellektuell“ und „dynamisch“. In ihrer Sprache vermied die IBD typisch rechtsextremistische Begriffe wie „Volksgemeinschaft“ und „Rasse“. Stattdessen sprach sie scheinbar unverfänglich von „Identität“, „Ethnie“ und „Ethnopluralismus“ und kleidete damit alte Ideen der Konservativen Revolution in ein vermeintlich neues Gewand. In der Weimarer Republik (1918 bis 1933) hatten Verfechter der Konservativen Revolution zu den maßgeblichen geistigen Wegbereitern des Unrechts- und Terrorregimes des Nationalsozialismus gehört.

Mit Hilfe dieser sprachlichen Camouflage versuchte die IBD vor allem internetaffine Jugendliche und junge Erwachsene zu gewinnen. Ihr ging es nicht nur darum, eine neue völkische Jugendkultur bzw. politische Strömung, die mit zeitgemäßen Elementen der Popkultur operiert, zu etablieren, sondern ihre rechtsextremistischen Positionen „gesellschaftsfähig“ zu machen. Ein Angehöriger der Identitären Bewegung sagte: „Wir sprechen die Sprache der Jugend und erzeugen die Bilder, die die Mediengesellschaft versteht“. So hieß es in einem Video auf Facebook: „Möchtest auch Du aktiv werden und Teil einer dynamischen Jugendbewegung sein? Dann melde Dich bei der Identitären Bewegung Hessen!“ Um entsprechende Anreize zu setzen, adaptierte die IBD, so wie sie es selbst formulierte, „Aktionen der Studentenbewegung oder von Greenpeace“ und besetzte im August öffentlichkeitswirksam das Brandenburger Tor in Berlin, wo sie ein Banner mit der Aufschrift „Sichere Grenzen − Sichere Zukunft“ entrollte.

Auch Neonazis konzentrierten sich auf öffentlichkeitswirksame propagandistische Aktionen: Sie nahmen insbesondere an Demonstrationen und an Mahnwachen teil und verteilten Aufkleber und Flugblätter. Dabei wurde in Plauen (Sachsen) am 1. Mai das Gewaltpotenzial der Neonazis deutlich, als Angehörige des Antikapitalistischen Kollektivs (AKK) Steine und Flaschen auf Polizisten und Gegendemonstranten warfen. In der mehrheitlich lose strukturierten hessischen Neonazi-Szene betätigte sich auch insbesondere das AKK. In Kontinuität zu seiner Beteiligung an den linksextremistisch beeinflussten Protesten gegen die Neueröffnung der Europäischen Zentralbank (EZB) im März 2015 in Frankfurt am Main protestierte das AKK mit einer Schlauchbootaktion auf dem Main im September 2016 gegen „CETA & TTIP“ und „die Banken“. In der Begründung ihrer − nach wie vor auch gegen die EZB gerichteten − Proteste war die Argumentation des AKK mitunter nicht von derjenigen antikapitalistischer Linksextremisten zu unterscheiden. So verschlossen in der Silvesternacht Rechtsextremisten, darunter AKK-Angehörige, in einem symbolischen Akt die EZB, indem sie vor dem Metallzaun ein Seil mit einem Schloss spannten. Auf Facebook erschien hierzu ein aktionsorientiertes Video; im Internet machten die Jungen Nationaldemokraten (JN), die Jugendorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), die EZB verantwortlich für die „Krisen der letzten Jahre, für Austeritätspolitik und Verelendung, soziale Spaltung und Unterdrückung“ als Ausdruck der „Repression“ der „kapitalistischen Staaten“. Bemerkenswert war bei dieser Aktion der Schulterschluss zwischen Neonazis und JN. Ebenso wie die Identitäre Bewegung vertrieb das AKK über das Internet verschiedene Devotionalien (unter anderem Kleidungsstücke, Aufkleber), was dem Aufbau bis hin zur Festigung einer eigenen „Kultur“ dienen soll, um letztlich in der Mehrheitsgesellschaft Fuß zu fassen.

Die NPD war in Hessen nur sehr eingeschränkt handlungsfähig, wenige Kreisverbände waren aktiv und traten öffentlich in Erscheinung. Den Agitationsschwerpunkt der Partei bildeten die Themen „Asylmissbrauch“ und „Flüchtlinge“, mit denen sie ihren − insgesamt erfolglosen − fremdenfeindlichen Wahlkampf zur hessischen Kommunalwahl am 6. März gestaltete. Mit dem Ergebnis von 3,0  % der Zweitstimmen bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern am 4. September war die NPD bundesweit in keinem Landtag bzw. in keiner Bürgerschaft mehr vertreten.

Auch die Partei Der Dritte Weg/Der III. Weg agitierte mit fremdenfeindlichen Verlautbarungen auf ihrer Internet- und Facebook-Seite und mittels entsprechender Flugblattverteilungen gegen Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik. Die Partei, deren Mitglieder überwiegend aus dem neonazistischen Spektrum − vereinzelt aus der NPD − stammen, baute ihre bundesweiten Strukturen aus, erhielt aber bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz am 13. März lediglich 0,1 % der Zweitstimmen. Darüber hinaus führte Der Dritte Weg − im Unterschied zu der Identitären Bewegung und dem AKK − historisch rückwärtsgewandt einen bundesweiten „Heimatvertriebenen-Aktionstag“ durch, wobei einzelne Aktionen auch in Hessen stattfanden.

Da die (Sicherheits-)Behörden alle rechtlich möglichen Anstrengungen unternehmen, um rechtsextremistische Konzerte in Hessen zu unterbinden, fand hier keine entsprechende Veranstaltung statt. Konzerte auch in Zukunft zu verhindern, ist von eminenter Bedeutung, da diese sowohl als zentrale Anlaufstelle innerhalb der rechtsextremistischen Szene als auch als Scharnier zu Jugendlichen dienen, die (noch) außerhalb des Rechtsextremismus stehen. Dass generell Faszination und Mobilisierungskraft, die rechtsextremistische Musik und das damit verbundene Lebensgefühl auf manche Jugendliche und auch Erwachsene ausüben, immer noch sehr ausgeprägt sind, zeigte das „Rocktoberfest“. Maßgeblich von Rechtsextremisten aus Deutschland organisiert, reisten etwa 5.000 Personen in die Schweiz zu einem der größten rechtsextremistischen Konzerte der letzten Jahre in Europa.

Rechtsextremisten bedienten sich intensiv des Internets, das heißt in sozialen Netzwerken, in geschlossenen Foren und vor allem auf eigenen Internetseiten publizierten sie unverhohlen Hassparolen gegen Flüchtlinge. Vor allem diese fremdenfeindliche Agitation im Internet bereitet den Sicherheitsbehörden sehr große Sorge. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellte fest, dass sich hier in einer „enthemmten Hetze“ mittels einer verrohten Sprache mitunter zivilisatorische Werte und Schranken gänzlich auflösen. In zahlreichen Bereichen des Internets wird der Boden für Hass und Gewalt bereitet.

Angesichts solcher zutiefst menschenverachtenden Propaganda und des damit verbundenen radikalisierenden Einflusses − gerade auf Jugendliche und junge Erwachsene − besteht die Gefahr, dass sich rechtsterroristische Gruppierungen herausbilden und schwerste Straf- und Gewalttaten verüben. Dies trifft auch auf potenzielle Einzeltäter zu. Dass dieses Bedrohungsszenarium real ist, zeigen etwa − jeweils im März 2017 − das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) München gegen die rechtsterroristische Vereinigung Old School Society und die Verfahrenseröffnung gegen die Gruppe Freital vor dem OLG Dresden. Das LfV ist − insbesondere vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) − in höchstem Maße sensibilisiert und entsprechend tätig, um solche Entwicklungen früh- und rechtzeitig wahrzunehmen und in Zusammenarbeit mit anderen zuständigen Behörden Straftaten zu verhindern.

Reichsbürger und Selbstverwalter | Unter der Bezeichnung Reichsbürger und Selbstverwalter beobachten die Verfassungsschutzbehörden seit dem 22. November 2016 Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch gewählten Repräsentanten nicht anerkennen.

Reichsbürger sind der Auffassung, dass das Deutsche Reich weiterhin besteht; Selbstverwalter hängen der Meinung an, in einem von der Bundesrepublik Deutschland völlig unabhängigen, eigenen Hoheitsgebiet zu leben. Beide Strömungen betrachten sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und sind in hohem Maße bereit, gegen Gesetze zu verstoßen. Zu etlichen Personen lagen den Behörden Erkenntnisse zu Gewaltdelikten und Straftaten vor. Rund ein Zehntel der in Hessen im Berichtsjahr bekannten 500 Reichsbürger und Selbstverwalter besaß eine waffenrechtliche Erlaubnis, etwa drei Viertel von ihnen war tatsächlich im Besitz von Waffen. Verfügen die Behörden über extremistische Erkenntnisse in Bezug auf diese Personen, wird der Widerruf waffenrechtlicher Erlaubnisse geprüft und gegebenenfalls vollzogen. Unter den Reichsbürgern und Selbstverwaltern befanden sich auch Rechtsextremisten, in einzelnen Fällen Antisemiten, die den Holocaust leugneten.

Linksextremismus | Von ihrem undogmatischen und organisationskritischen Politikverständnis nahmen Teile der autonomen Szene Abstand, da sie deren mangelnde Strategie sowie deren Organisations- und Theoriefeindlichkeit als realitätsfern und wenig zielführend betrachteten. Außerdem setzten diese Autonome, die sich selbst als Postautonome bezeichnen, anstelle der Revolution auf die langfristige Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Um diese Umgestaltung zu verwirklichen, griffen sie gesellschaftlich relevante Themen auf und konzentrierten sich unter anderem auf eine das gesamte linksextremistische Spektrum umfassende Bündnispolitik. Dabei schlossen sie eine Kooperation mit nichtextremistischen Akteuren ausdrücklich ein. Postautonome vermieden in der Regel ein offenes Bekenntnis zur Gewalt und verwendeten verschleiernde Begriffe wie „ziviler Ungehorsam“. Damit wollten sie für ihre „Aktionen“ einen weiten Interpretationsspielraum eröffnen, der sowohl gewaltorientierten als auch gewaltablehnenden Personen eine Teilhabe ermöglichte.

Im Themenfeld „Antifaschismus“ waren Autonome vorrangig gegen Parteien und Organisationen aktiv, die aus ihrer Sicht mitverantwortlich für das Wiedererstarken von Rassismus und Nationalismus in Teilen der Gesellschaft waren. Hierfür gründeten Linksextremisten in Frankfurt am Main die bundesweite Kampagne Nationalismus ist keine Alternative (NIKA). In diesem Rahmen kam es zu Störungen von Veranstaltungen des politischen Gegners, Sachbeschädigungen, Outings und teilweise körperlichen Angriffen. Insbesondere nahmen Linksextremisten die Alternative für Deutschland (AfD) als den zentralen „faschistischen“ Feind wahr und leiteten aus ihrem „antifaschistischen“ Kampf die Legitimation ab, entsprechende Straftaten zu verüben.

Im Zusammenhang mit dem Themen-feld „Antirassismus“ besetzten Autonome im Januar und Juli in Frankfurt am Main Häuser, um ihrem Anliegen, ein „Willkommens- und Beratungszentrum mit Wohnmöglichkeiten für obdachlos Geflüchtete und Migrant*innen“ zu schaffen, Nachdruck zu verleihen. Zu „antirassistischen“ Demonstrationen kam es in Dreieich (Landkreis Offenbach), in Limburg (Landkreis Limburg-Weilburg) und am Frankfurter Flughafen. Aus „Solidarität“ mit einem in Berlin zum Teil geräumten autonomen Szenetreffpunkt begingen offensichtlich Linksextremisten Sachbeschädigungen an Gebäuden und Fahrzeugen. Als Grund bezeichneten die Täter sowohl die fortschreitende Gentrifizierung als auch „rassistische Kontrollen“ durch die Polizei.

Nicht mehr so sehr im Vordergrund stand für Linksextremisten das mit den gewaltsamen Protesten gegen die Neueröffnung der EZB 2015 verbundene Thema „Antikapitalismus“. Das linksextremistisch beeinflusste Blockupy-Bündnis verlagerte seinen Schwerpunkt nach Berlin, verlor dort aber an Bedeutung. Seit Ende 2016 konzentrierte sich die linksextremistische Szene vor allem auf das Planen der Proteste gegen das Zusammentreffen der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) in Hamburg im Juli 2017. In diesem Zusammenhang kam es im Vorfeld bundesweit zu zahlreichen Sachbeschädigungen bzw. Brandanschlägen, die auf einer eigens hierfür eingerichteten linksextremistischen Internetseite „dokumentiert“ wurden, um eine „kontinuierliche Diskussion zu ermöglichen und den Angriff gegen die Herrschaft auszuweiten und zu intensivieren“.

Kommunalwahl: Wahlkampf und Wahlergebnisse von Rechts- und Linksextremisten | Bei der Kommunalwahl am 6. März erreichte die NPD landesweit0,3 % und verlor gegenüber 2011 0,1 Prozentpunkte. In den Kreistagen Main-Kinzig-Kreis, Wetteraukreis und Lahn-Dill-Kreis behielt die NPD jedoch ihre Sitze. Bei den Gemeindewahlen schied sie in Frankfurt am Main aus der Stadtverordnetenversammlung aus, war dagegen in Altenstadt (Wetteraukreis) mit vier Sitzen neu im Stadtparlament vertreten. In Büdingen (Wetteraukreis) ge-wann die NPD zu einem bereits bestehenden Mandat drei Sitze hinzu, in Leun (Lahn-Dill-Kreis) erhöhte sie die Anzahl ihrer Sitze von einem auf drei, in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis), wo sie zuletzt nicht in der Stadtverordnetenversammlung vertreten war, gewann die NPD sogar auf Anhieb fünf Sitze. Diese Wahlerfolge sind offensichtlich auf die ausschließliche Fokussierung der NPD auf die Themen „Flüchtlinge“ und „Flüchtlingspolitik“ zurückzuführen. Der eindeutig rechtsextremistische Charakter der NPD gab für die Wähler der NPD offensichtlich nicht den Ausschlag, weshalb die lokalen Wahlergebnisse im Wetterau- und im Lahn-Dill-Kreis als sehr ernst zu nehmende Zeichen für eine relevante Stimmung und Positionierung in einem Teil der Bevölkerung anzusehen sind.

Im Phänomenbereich Linksextremismus erzielten die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Ökologische Linke (ÖkoLinX), die beide nicht landesweit angetreten waren, punktuell Gewinne. Die DKP/Linke Liste (DKP/LL) gewann in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) zwei Sitze hinzu (= 13,8 %) und verfügte nunmehr über sechs Mandate in der Stadtverordnetenversammlung. In Reinheim (Landkreis Darmstadt-Dieburg) blieb die Anzahl der Sitze für die DKP mit vier Sitzen (= 11,1 %) unverändert. Die ÖkoLinX-Antirassistische Liste (ÖkoLinX-ARL) erhöhte in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung die Zahl ihrer Sitze von einem auf zwei.

Islamismus/Salafismus | Nach dem Verbot der salafistischen Vereinigung Die Wahre Religion (DWR) im Oktober durch den Bundesminister des Innern kamen die „LIES!“-Verteilaktionen endgültig zum Erliegen. Zuvor hatten bereits die Maßnahmen der Behörden zu einem Rückgang der „LIES!“-Aktivitäten geführt. Von dem Prediger Pierre Vogel initiiert, starteten Salafisten im November mit „We love Muhammad“ ein neues Projekt. In Frankfurt am Main verteilten sie unter anderem Mohammed-Biographien, um − so ihre Verlautbarung − „Wissen über den Propheten“ zu verbreiten.

Die am 25. Oktober verbotene Vereinigung DWR hatte den bewaffneten Jihad befürwortet und ein Rekrutierungs- und Sammelbecken für jihadistische Salafisten und weitere Personen gebildet, die nach Syrien bzw. in den Irak ausreisen wollten. In zehn Ländern, darunter auch Hessen, fanden nahezu 200 Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen statt. Der sogenannte Islamische Staat (IS) reagierte auf das Verbot mit einem Aufruf zur Rache: „Füllt ihre Straßen [gemeint sind die Feinde Allahs] mit Terror und vergießt ihr Blut zu Flüssen, denn die Rechnung ist wahrlich lang geworden und die Zeit der Vergeltung ist gekommen“.

Zeitlich nahezu parallel zu dem DWR-Verbot durchsuchte die Polizei am 23. November in Kassel mehrere Objekte mit Bezügen zur dortigen sogenannten Medina-Moschee. Hier hatte im Mai ein „Wochenendseminar“ stattgefunden, für das unter anderem der Salafist und IS-Anhänger Ahmad Abdulaziz Abdullah („Abu Walaa“), Imam im Deutschsprachigen Islamkreis Hildesheim (DIK) in Niedersachsen, angekündigt worden war. Am 8. November wurde Abu Walaa aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs in Untersuchungshaft genommen. Er soll unter anderem Personen für die salafistische Szene angeworben und sie zum Zweck des gewaltsamen Jihad für den IS in die Krisenregion Syrien/Irak geschleust haben.

Das Hessische Ministerium des Innern und für Sport verbot im März 2017 den Almadinah Islamischen Kulturverein e. V., das heißt den Trägerverein der Medina-Moschee, da er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtete, ein jihadistisch-salafistisches Netzwerk förderte und in der Moschee eine Plattform für den Aufruf zu Hass und Gewalt gegen andere Religionsgruppen, Staaten und Völker sowie allgemein gegen anders denkende Menschen unterhielt. Ebenso verbot im März 2017 das Niedersächsische Ministerium des Innern und für Sport den DIK. Beide Verbotsverfügungen sind bestandskräftig.

Im Jahr 2016 stellte der IS erneut unter Beweis, dass die Terrororganisation trotz der gegen sie geführten Militäroffensive in Syrien und im Irak sowie empfindlicher personeller Verluste in der Lage ist, jihadistisch motivierte Anschläge in Europa – auch in Deutschland – zu planen, anzuleiten und durchzuführen. Der IS bekannte sich im Berichtsjahr unter anderem zu Terrorakten in der Türkei, Belgien, Frankreich und Deutschland, die vielen Menschen das Leben kosteten und zahlreiche zum Teil sehr schwer verletzten. Für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ist es vor dem Hintergrund dieser Anschläge von entscheidender Bedeutung, Rückkehrer aus Syrien und dem Irak als solche zu erkennen. Von ihnen geht derzeit die größte Gefahr für Leib und Leben der Menschen in Deutschland aus. Bundesweit lagen im Dezember 2016 Erkenntnisse zu mehr als 890 deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland vor, die seit Beginn des Bürgerkriegs in Richtung Syrien/Irak reisten, um dort auf Seiten des IS und anderer Terrorgruppen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese zu unterstützen. Von den 890 Personen lagen Erkenntnisse zu etwa 140 Islamisten aus Hessen vor, die in Richtung Syrien/Irak reisten. Insgesamt zeichnete sich eine verringerte Ausreisedynamik in die Konfliktregion ab.

Das Internet und insbesondere die sozialen Medien avancierten zur wichtigsten Plattform für die − vor allem durch den IS − stark intensivierte Verbreitung jihadistischer Propaganda. Eine Person kann sich hierdurch radikalisieren, wobei aber auch das soziale Umfeld eine Rolle spielt. Vielfach trifft erst in diesem Gesamtkontext ein extremistisch verzerrtes Islamverständnis auf eine individuelle Lebenssituation, die zum Begehen eines Anschlags führt. Die Anschläge im Berichtsjahr verdeutlichen, dass es keinen universellen, vorherbestimmbaren jihadistischen Tätertyp gibt. Die Wege, die zur entsprechenden Radikalisierung − gerade von Einzelpersonen − führten, sowie Tatvorbereitung und -modus wichen stark voneinander ab. Daher verstärken und modifizieren die Sicherheitsbehörden fortlaufend ihre Anstrengungen und ihre Methodik, um Einzelpersonen, aber auch Netzwerke zu identifizieren, die möglicherweise in der Lage und willens sind, Terroranschläge zu verüben.

Die Maßnahmen der Sicherheits- und Verwaltungsbehörden (wie etwa Pass-entzug und Ausreiseverbotsverfügung) verringern die Wahrscheinlichkeit einer Ausreise von Jihadisten in die Konfliktregion.

Neben zahlreichen Maßnahmen richtete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport Anfang 2017 − nach einer vorherigen Pilotphase − ein Referat im Landespolizeipräsidium zur Umsetzung des Konzepts der beschleunigten Rückführung „besonders auf- und straffälliger Ausländer“ ein. Das Referat ist zuständig für aufenthaltsbeendende Maßnahmen, einschießlich der freiwilligen Rückkehr. Es erarbeitet die strategischen Leitlinien für eine wirkungsvolle Umsetzung der Rückführung von vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern. Dies gewährleistet eine bessere Verzahnung der Behörden in Bezug auf die Verfahrensweise mit ausländischen Intensiv- und Mehrfachtätern, wobei Sicherheitsbehörden, Staatsanwaltschaft sowie Ausländer- und Sozialbehörden enger denn je kooperieren, um keine Informations- und Handlungsdefizite entstehen zu lassen.

Mit der Absetzung des ägyptischen Präsidenten und hochrangigen Funktionärs der Muslimbruderschaft (MB) Mohammed Mursi im Jahr 2013 durch die Armee und der Einstufung der MB als Terrororganisation befand sich ein Großteil der Führungsspitze der Organisation in Haft.

Die Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) verfestigte als Teil der islamistischen Millî-Görüş-Bewegung ihre Strukturen in Hessen und ist seit Dezember 2016 ein eingetragener Verein. An Veranstaltungen mit hochrangigen europäischen und türkischen SP-Funktionären nahmen ehemalige Anhänger der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG) teil. Während sich innerhalb der IGMG in Hessen Teile vom Islamismus abwendeten, blieben andere weiterhin der Ideologie Necmettın Erbakans, des Gründers der Bewegung, verhaftet und waren der Millî-GörüşBewegung zuzurechnen. Trotz der Ausweisung des Oberhaupts der Ismail Aĝa Cemaati (IAC, Ismail-Aĝa-Gemeinschaft) aus Deutschland wurden dessen Vorträge live aus dem Ausland übertragen und waren für IAC-Angehörige im Raum Frankfurt am Main zu empfangen. Auch die IAC war Teil der Millî-Görüş-Bewegung.

Unter den Vereinen der Türkischen Hizbullah (TH) war die Moscheegemeinde in Wiesbaden besonders aktiv, indem sie im März in Hofheim am Taunus (Main-Taunus-Kreis) die jährlich stattfindende zentrale TH-Feier anlässlich der Geburt des Propheten Mohammed ausrichtete. Hatten diese als Kutlu Doğum bezeichneten Veranstaltungen in Hessen bislang meist regionalen Charakter, so war die diesjährige Feier mit prominenten TH-Rednern hochkarätig besetzt. Hunderte Personen aus dem TH-Spektrum waren aus Frankreich, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Belgien und Großbritannien angereist.

Allgemeiner Ausländerextremismus | Anhänger der Partiya Karkerên Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) protestierten mittels zahlreicher Veranstaltungen gegen die Repressionen des türkischen Staats, insbesondere gegen Mitglieder und Abgeordnete der prokurdischen Halklarin Demokratik Partisi (HDP, Demokratische Partei der Völker).

Ebenso führten die Kampfansage der türkischen Regierung gegen die Fetullah-Gülen-Bewegung, die sogenannten Anti-Terror-Ermittlungen gegen HDP-Mitglieder, die Verhaftungswelle nach dem gescheiterten Putsch im Juli, die Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz sowie der Presse- und Versammlungsfreiheit zu etlichen weiteren Demonstrationen. Angesichts der zunehmend unüberschaubaren Lage in der Türkei thematisierten PKK-Anhänger daraus − in ihrer Sicht − möglicherweise resultierende Gefahren für Gesundheit und Leben ihres Anführers Abdullah Öcalan („Apo“). Aktionen kurdischer Jugendlicher nahmen zu, so besetzten sie etwa in Frankfurt am Main im August das Foyer des Hessischen Rundfunks und brachten in Kassel unterhalb der Herkules-Statue ein Plakat mit der Aufschrift „Freiheit für Abdullah Öcalan“ an und entzündeten ein bengalisches Feuer.

Auf einer Internetplattform deutscher Linksextremisten bekannte sich eine Apoistische Jugendinitiative im September zu Brandanschlägen auf zwei Fahrzeuge eines türkischen Lebensmittelhändlers in Kassel. Diese seien ein Prostest „gegen die seit 17 Jahren andauernde Gefangenschaft unseres Vorsitzenden Rêber Apo“ und eine „Racheaktion für all unsere Gefallenen im Widerstand in Nordkurdistan, Rojava und den Qandil-Bergen“. Auch im Bundesgebiet kam es zu ähnlichen Anschlägen. Bei einer ansonsten friedlichen Großdemonstration in Köln (Nordrhein-Westfalen) wurden Polizeibeamte aus einer Gruppe von etwa 500 jugendlichen PKK-Anhängern mit Flaschen und Steinen beworfen. In der Türkei verübten die Teyrêbazên Azadîya Kurdistan (TAK, Freiheitsfalken Kurdistans), eine Splittergruppe der der PKK, mehrere Anschläge, bei denen etliche Menschen ums Leben kamen.

Das nach dem gescheiterten Putsch offensive und zum Teil provokante Auftreten von Anhängern des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und türkischen Nationalisten führte darüber hinaus zu einer Zunahme der Auseinandersetzungen mit PKK-Sympathisanten. Daran waren im April in Frankfurt am Main auch deutsche Linksextremisten involviert, indem sie Flaschen und Feuerwerkskörper auf Teilnehmer eines „Friedensmarschs für die Türkei und die EU“ warfen, aus deren Reihen heraus immer wieder der türkische nationalistische „Wolfsgruß“ gezeigt wurde.

Halten diese Entwicklungen in der Türkei, die von maßgeblichen Protagonisten nach Deutschland hineingetragen werden, an, wird sich die traditionell bestehende Polarisation zwischen türkischen Nationalisten und Regierungsanhängern auf der einen sowie (links)extremistischen Türken und Kurden sowie Regierungsgegnern auf der anderen Seite verstärken. Darüber hinaus sind „Aktionen“ von PKK-Anhängern wahrscheinlich, die sich gegen Türken, türkische Einrichtungen und Repräsentanten des türkischen Staats richten können.

Flüchtlinge im Visier von Extremisten | Die Zahl der bundesweit gegen Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte gerichteten Straftaten betrug im Berichtsjahr 988, davon entfielen − ebenso wie im Jahr 2015 − 923 Delikte auf den Phänomenbereich Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) − rechts −. In Hessen gab es im Berichtszeitraum 25 (2015: 28) Straftaten, die sich gegen Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte richteten, davon entfielen 22 (2015: 25) auf den Bereich PMK − rechts −. Gegen Asylbewerber/Flüchtlinge gab es im Berichtsjahr bundesweit 2.545 Straftaten, davon entfielen 2.417 auf den Bereich PMK − rechts −. In Hessen gab es im Berichtszeitraum 72 Straftaten, die sich gegen Asylbewerber/Flüchtlinge richteten, davon entfielen 67 auf den Bereich PMK − rechts −.

Die Agitation gegen Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik bildete ein zentrales Thema des Rechtsextremismus in Hessen. Vor dem Hintergrund ihres rassistischen Weltbilds − gepaart mit Nationalismus und Angst vor „kultureller Überfremdung“ − betrachteten Rechtsextremisten Flüchtlinge als Feinde und instrumentalisierten dieses Feindbild, um Ressentiments und Ängste in der teilweise verunsicherten Bevölkerung zu schüren. Dabei missbrauchten Rechts-extremisten das Internet, indem sie etwa Hasskommentare, Aufrufe zur Gewalt und Drohungen verbreiteten sowie Politiker, Flüchtlingshelfer und Medienhelfer beschimpften. Diese fremdenfeindliche Agitation birgt das Risiko, dass sich Einzelpersonen und Gruppierungen radikalisieren, was zum Begehen schwerer Straftaten führen kann.

Auch Linksextremisten instrumentalisierten die Themen „Flüchtlinge“ und „Flüchtlingspolitik“, um die Legitimation ihrer traditionellen Themen- und Aktionsfelder „Antirassismus“ und „selbstverwaltete Freiräume“ zu unterstreichen und für ihre Ziele Gehör im demokratischen Spektrum zu finden. Die PKK versuchte einzelne kurdischstämmige Personen unter den Flüchtlingen anzusprechen, um sie für ihre Zwecke zu ideologisieren und zu rekrutieren. Ebenso nahmen Islamisten − überwiegend zum Zweck der Missionierung − Kontakt zu Flüchtlingen auf. Hierbei handelte es sich um Fälle, bei denen möglicherweise − zum Beispiel über Unterstützungs-, Hilfeleistungen oder Zuwendungen − versucht wurde, die Notsituation der Flüchtlinge für islamistische Interessen auszunutzen. Dabei ging es sowohl um den Ausbau der jeweiligen Mitgliederbasis Werbungs- und Rekrutierungsmaßnahmen als auch um die Radikalisierung von Flüchtlingen unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe.

Organisierte Kriminalität | Vor dem Hintergrund der vom Hessischen Ministerium des Innern und für Sport im Jahr 2011 gegen die Hells Angels MC (HAMC) Charter Westend und Frankfurt erlassenen und vom Bundesverwaltungsgericht rechtskräftig bestätigten Verbote versuchten Rocker mit Migrationshintergrund, das entstandene Machtvakuum zu nutzen. Es zeichneten sich weiterhin Neugründungen rockerähnlicher Clubs ab, deren Mitglieder fast ausschließlich einen Migrationshintergrund besaßen. Diese Clubs bezeichneten sich nicht als Motorrad-, sondern als Boxclubs (BC) bzw. Streetgang. Ihre Mitglieder waren zum überwiegenden Teil in der Türsteher-Szene aktiv, weshalb es zu Auseinandersetzungen mit konkurrierenden etablierten kriminellen Rockergruppierungen kam. Weitere Folgeerscheinungen waren auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen türkisch- und kurdischstämmigen Gruppen. Die von großer Emotionalisierung geprägten Ereignisse und Entwicklungen in der Türkei zum Nachteil der kurdischen Minderheit befeuerten diese Konflikte.

Generell bemühten sich die Verantwortlichen der beteiligten Rockergruppierungen, die Situation zu deeskalieren und eine Befriedung zu erreichen. Die Konflikte um die Einflussbereiche zwischen „old-school-Rockern“ und den neuen „Migrantenchartern“ dauerten unterschwellig jedoch an, wobei beide Seiten versuchten, den Behörden keinen Anlass für staatliche Maßnahmen zu geben.

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