Glossar
Anhang

Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2016

Islamismus

Merkmale

Der Islam als Religion wird vom Verfassungsschutz nicht beobachtet. Muslime genießen – wie Anhänger aller anderen Religionen auch – in Deutschland das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes. Der Grundrechtsschutz endet jedoch, wo religiöse islamische Gebote und Normen als verbindliche politische Handlungsanweisungen gedeutet werden - der Islamismus also beginnt.

Begriff des Islamismus | In diesem Sinne beschreibt der Begriff Islamismus alle Erscheinungsformen des islamischen Extremismus, das heißt politisch-totalitäre Ideologien, die den Islam als ein alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens umfassendes System begreifen. Islamisten lehnen die Trennung von Staat und Religion ab und wollen das gesamte politische und gesellschaftliche Leben religiös begründeten Normen unterwerfen. Eine Demokratie ist ihrer Überzeugung nach nicht mit dem Willen Allahs vereinbar.

Ziel des Islamismus | Das Ziel islamistischer Bestrebungen ist ein Staatswesen, das nach den Bestimmungen der Scharia regiert wird. Diese aus dem Koran und der Sunna abgeleiteten Vorschriften sind nach Ansicht der Islamisten der unveränderliche Wille Allahs und dürfen daher von keiner Regierung geändert werden. Damit wenden sich Islamisten gegen das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Volkssouveränität: Nicht das Volk, sondern allein Allah darf ihrer Auffassung nach in letzter Instanz Gesetze erlassen und aufheben. Darüber hinaus richten sich Islamisten gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, da sie Konflikte zwischen Religionen schüren bzw. andere Religionen abwerten.

Unvereinbarkeit mit den Menschenrechten | Im Gegensatz zum Grundgesetz, das die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen in den Mittelpunkt stellt, bemessen islamistische Ideologien den Wert eines Menschen nur nach seinem Glauben. Die von Islamisten geforderte wortgetreue Befolgung der Scharia führt zu einer Benachteiligung von Frauen, Homosexuellen und Andersgläubigen sowie zu einer wesentlichen Einschränkung der Meinungsfreiheit und zur Außerkraftsetzung weiterer grundlegender Menschenrechte.

Indem Islamisten die große Bedeutung einer islamischen Identität betonen, setzen sie in aller Regel „Ungläubige“ herab. Diese Herabsetzung äußert sich oft in der Abgrenzung gegenüber der von Islamisten als „moralisch verkommen“ empfundenen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland.

Antisemitismus | Besonders ausgeprägt ist die islamistische Ablehnung des Judentums. Dabei werden entsprechende religiöse Inhalte – etwa Koranverse oder Aussagen des Propheten Mohammed – mit Versatzstücken europäischer rechtsextremistischer Ideologien verknüpft, um angeblich negative Charaktereigenschaften oder Absichten von Juden zu belegen. Islamisten sehen die USA und Israel als Instrumente einer vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung an, die sich zum Ziel gesetzt habe, den Islam zu zerstören. (Siehe hierzu auch das Kapitel Bedeutung und Rolle des Antisemitismus im Islamismus.)

Ausprägungen des Islamismus | Die Erscheinungsformen des Islamismus unterscheiden sich in ihrer ideologischen Ausrichtung und bei der Wahl der Mittel, mit denen Gesellschaft und Staat verändert werden sollen. Einige islamistische Organisationen − wie zum Beispiel die Muslimbruderschaft (MB) − versuchen, ihren Vorstellungen entsprechend den demokratischen Willensbildungsprozess zu beeinflussen. Sie nehmen gezielt Einfluss auf die hiesige Politik, die öffentliche Meinungsbildung und die Gesellschaft, um ihr langfristiges Ziel der Errichtung eines islamistischen Gottesstaates zu verwirklichen.

Salafistische Gruppierungen dagegen lehnen die Beteiligung am demokratischen Willensbildungsprozess in der Bundesrepublik Deutschland ab. Sie streben eine weltweite Islamisierung von Gesellschaft und Politik an, um langfristig ein „Kalifat“ zu errichten, dessen Oberhaupt als Nachfolger des Propheten Mohammed alle religiöse und weltliche Autorität ausübt. Die Ablehnung anderer Glaubensgemeinschaften und vor allem der „westlich“ geprägten Lebensweise ist dabei ein zentrales Merkmal salafistischer Ideologie. Hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele lassen sich zwei Arten des Salafismus identifizieren: politischer und jihadistischer Salafismus. In ihrem ideologischen Kern unterscheiden sich beide jedoch nicht.

Andere islamistische Gruppierungen verfolgen ihre Ziele vor allem in ihren Herkunftsländern mit Gewalt: So nutzen die palästinensische Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) und die libanesische Hizb Allah (Partei Gottes) Deutschland als Rückzugsraum, in dem sie neue Anhänger rekrutieren und finanzielle Unterstützung organisieren. Ebenso wie die Jihadisten glorifizieren beide Gruppierungen gefallene Kämpfer als „Märtyrer“, denen es nachzueifern gelte.

Personenpotenzial1

Der leichte Anstieg des Personenpotenzials in Hessen gegenüber dem Berichtsjahr 2015 resultierte aus der gewachsenen Anzahl der Anhänger im Bereich der Türkischen Hizbullah. Im Bereich der übrigen Beobachtungsobjekte blieb die Anzahl der Islamisten unverändert.

Dagegen lagen zu mehreren der bundesweit aktiven islamistischen Organisationen bzw. Gruppierungen keine gesicherten Anhängerzahlen vor, sodass ein personenscharfes Potenzial der Islamisten in Deutschland nicht ausgewiesen werden kann. Abgebildet ist die Tabelle islamistisches Personenpotenzial. In der linken Spalte stehen die Namen der islamistischen Beobachtungsobjekte. Die weiteren drei Spalten enthalten Zahlenangaben zu diesen Beobachtungsobjekten jeweils für die Jahre 2016, 2015 und 2014 für Hessen.
Im Jahr 2016 gab es insgesamt 4.170 Islamisten, im Jahr 2015 lag dieses Personenpotenzial in Hessen bei 4.150, im Jahr 2014 lag das Personenpotenzial bei 4.000 .
Im Jahr 2016 waren von insgesamt 4.170 Islamisten in Hessen 1.650 Personen Salafisten. Im Jahr 2015 waren von insgesamt 4.150 Islamisten in Hessen 1.650 Personen Salafisten. Im Jahr 2014 waren von insgesamt 4.000 Islamisten in Hessen 1.500 Personen Salafisten.

1 Die Zahlen sind teilweise geschätzt und gerundet. Die in früheren Verfassungsschutzberichten des LfV Hessen getroffene Differenzierung des islamistischen Personenpotenzials nach der Herkunft ist mittlerweile für die Gesamtbetrachtung und -bewertung des Phänomenbereichs Islamismus nicht mehr aussagekräftig, da sich das Personenpotenzial insbesondere im Bereich des Salafismus in Bezug auf die Herkunft sehr heterogen gestaltet.

Salafismus

Definition/Kerndaten

Als Salafismus bezeichnet der Verfassungsschutzverbund eine extremistische Strömung innerhalb des Islamismus. Der Begriff geht auf die arabische Bezeichnung as-salaf as-salih (dt. die frommen Altvorderen) zurück, worunter die ersten drei Generationen von Muslimen (7. bis 9. Jahrhundert) zu verstehen sind. Diese nehmen innerhalb der Ideologie des Salafismus eine zentrale Stellung ein, da ihre Handlungen − neben denen des Propheten Mohammed − als die authentische Überführung der „wahren“ Glaubenslehre in die Praxis gelten und als solche zu imitieren sind.

Die „frommen Altvorderen“ dienen nicht nur als Vorbilder für die individuelle Lebensführung, sondern gelten auch in Bezug auf Glaubens- und Rechtsfragen als Autoritäten. Salafisten sehen sich durch ihren Rückbezug auf die „unverfälschte“ Glaubenslehre in der Nachfolge dieser Generationen als elitäre Vertreter des „wahren“ Islam. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die islamische Glaubensdoktrin und -praxis von unerlaubten Neuerungen und Verfälschungen zu reinigen und die im Frühislam geltenden Herrschafts- und Rechtsformen (Kalifat) in der Gegenwart anzuwenden.

Über die Frage, mit welchen Methoden dieses Ziel zu erreichen ist, gibt es innerhalb des Salafismus verschiedene Auffassungen. Das Spektrum umfasst sowohl diejenigen Salafisten, welche die Ideologie mit politischen Mitteln durchsetzen wollen (politischer Salafismus), als auch solche, die hierfür Gewalt als legitimes Mittel ansehen (jihadistischer Salafismus).

Koran und Prophetentradition (arab. sunna) als einzige legitime Glaubensquellen | Salafisten nehmen für sich in Anspruch, ihre Glaubensvorstellungen und Rechtsnormen direkt aus den islamischen Quellen abzuleiten. Dabei zeichnet sich die salafistische Auslegung durch ein streng wortgetreues Verständnis von Koran und Sunna aus, jegliche sinnbildhafte Interpretation wird abgelehnt. Dennoch greifen Salafisten zusätzlich auf ausgewählte islamische Gelehrte zurück, um ihre jeweiligen Positionen in Bezug auf islamgetreue Lebensführung bzw. Disziplinierungsmaßnahmen bei Zuwiderhandlungen zu legitimieren.

Dualistische Weltsicht | Die „Attraktivität“ der salafistischen Ideologie ist vor allem in ihrer dualistischen Weltsicht begründet. Sie propagiert einfach zu verstehende und umzusetzende Freund-Feind-Bilder. So teilen Salafisten Menschen und Handlungen entgegen jeglicher Lebensrealität ein in gut und böse, gläubig und ungläubig, islamisch und unislamisch sowie erlaubt und verboten. Dadurch wird vor allem jungen und beeinflussbaren Menschen ein vermeintlich allzeit gültiger Handlungskatalog angeboten, der Orientierungshilfe und feste Strukturen in einer als komplex wahrgenommenen Welt suggeriert. Außerdem vermittelt die salafistische Szene als jugendliche Subkultur mit einer bestimmten Art von Kleidung, Sprache und Symbolik, durch die sich Salafisten optisch von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen, ein hohes Maß an Zugehörigkeitsgefühl und identitätsstiftenden Charakteristika. So übt die salafistische Ideologie in Europa vor allem auf muslimische Migranten der zweiten und dritten Einwanderergenerationen sowie auf Konvertiten eine hohe Anziehungskraft aus.

Politischer und jihadistischer Salafismus | Obgleich Salafisten das Ziel vereint, die „frommen Altvorderen“ zu imitieren und die angeblich „wahre“ Glaubenslehre in die Praxis umzusetzen, ziehen sie unterschiedliche Schlüsse aus den religiösen Quellen und leiten daraus unterschiedliche Handlungsweisen ab. Der Verfassungsschutz unterscheidet daher − je nach Mittel, das gewählt wird, um die angestrebten gesellschaftlichen und politischen Veränderungen umzusetzen − zwischen politischem und jihadistischem Salafismus.

Während der politische Salafismus die Missionierungsarbeit in den Vordergrund stellt, sieht der jihadistische Salafismus die Anwendung von Gewalt und den bewaffneten Kampf (arab. jihad) als unabdingbar an. Auch wenn sich Anhänger beider Strömungen in der genauen Ausgestaltung der salafistischen Ideologie unterscheiden, sind die Übergänge aufgrund der gemeinsamen ideologischen Grundlagen fließend.

In Hessen war der Großteil der Salafisten dem politischen Spektrum zuzurechnen. Seit Beginn der Bürgerkriegswirren sind etwa 140 Personen von Hessen nach Syrien und in den Irak ausgereist (Stand Dezember 2016), um dort auf Seiten des sogenannten Islamischen Staates (IS) und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese in sonstiger Weise zu unterstützen. Dies verdeutlicht das Potenzial der Jihadisten, die bereit sind, den Kampf gegen ihre „Feinde“ mit Gewalt zu führen.

Mit etwa 1.650 Personen blieb in Hessen die Zahl der Salafisten im Vergleich zum Vorjahr konstant und damit weiterhin besorgniserregend hoch.

Ereignisse/Entwicklungen im politischen Salafismus

Mit dem Verbot der Vereinigung Die Wahre Religion (DWR) kamen die „LIES!“-Verteilaktionen, initiiert von dem Salafisten Ibrahim Abou-Nagie, endgültig zum Erliegen. Dagegen begannen Salafisten um den Prediger Pierre Vogel mit „We love Muhammad“ ein neues Projekt, um unter anderem mit der Verteilung von Mohammed-Biographien „Wissen über den Propheten“ zu verbreiten.

Rückgang und Ende der „LIES!“-Aktionen | Hessenweit gingen die „LIES!“-Verteilaktionen, die zuletzt nur noch in Frankfurt am Main stattfanden, zurück und endeten gänzlich im November mit dem Vollzug des Verbots der Vereinigung DWR. Zuvor durchgeführte „LIES!“-Aktionen hatten unregelmäßig und mit einer geringeren Teilnehmerzahl als im Jahr 2015 stattgefunden. Der Rückgang der Aktionen resultierte unter anderem aus bereits vor dem DWR-Verbot veranlassten behördlichen Maßnahmen. Darüber hinaus war der Hauptverantwortliche und Organisator der im bundesweiten Vergleich besonders aktiven „LIES!“-Kampagne in Frankfurt am Main, Bilal Gümüs, Ende März aus dem Projekt ausgeschieden. Hintergrund war ein Zerwürfnis mit Ibrahim Abou-Nagie, dem Initiator des bundesweiten „LIES!“-Projekts.

„We love Muhammad“ | Wenige Tage vor dem DWR-Verbot starteten Salafisten das Projekt „We love Muhammad“. Von dem salafistischen Prediger Pierre Vogel initiiert, lief „We love Muhammad“ am zweiten Novemberwochenende zeitgleich in Deutschland und in der Schweiz an. Seit Sommer war in sozialen Netzwerken für eine gleichnamige App geworben worden. Bei entsprechenden Verteilaktionen wurden Biographien Mohammeds (arab. sira), Hörbücher für Kinder und Visitenkarten als Kontaktadressen kostenlos angeboten und für die App geworben. Laut Pierre Vogel sollte mit dieser Aktion unter den Muslimen „Wissen über den Propheten“ verbreitet werden. In Hessen fand am 12. November eine erste Verteilaktion in Frankfurt am Main statt, zu einer weiteren kam es im Februar 2017. Unter den Teilnehmern befanden sich Akteure, die bereits bei „LIES!“ aktiv gewesen waren; auch Bilal Gümüs unterstützte öffentlich das „We-loveMuhammad“-Projekt. Derzeit wird geprüft, ob es sich bei „We love Muhammad“ um eine Nachfolgeorganisation von DWR handelt.

Verbot der Vereinigung DWR

Am 25. Oktober verbot der Bundesminister des Innern die Vereinigung DWR alias LIES! Stiftung/Stiftung LIES einschließlich ihrer Teilorganisationen LIES! Verlag, ReadLiesLTD und Insamslingstiflesen Al Quaran Foundation (im Folgenden insgesamt als DWR bezeichnet). Das Verbot gründet sich auf die Tatsache, dass sich DWR gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtete. Die Vereinigung vertrat eine Ideologie, die die verfassungsmäßige Ordnung ersatzlos verdrängen wollte und den bewaffneten Jihad befürwortete. Bundesweit stellte DWR ein hervorgehobenes Rekrutierungs- und Sammelbecken für jihadistische Islamisten sowie für solche Personen dar, die aus jihadistischen Motiven nach Syrien bzw. in den Irak ausreisen wollten. Das Verbot wurde am 15. November vollzogen, die Vereinigung aufgelöst, ihre Kennzeichen und Internetauftritte verboten sowie ihr Vermögen beschlagnahmt und eingezogen. Das Verbotsverfahren war auch auf Initiative Hessens hin in Gang gesetzt und mit umfangreicher hessischer Unterstützung vorangetrieben worden.

Abgebildet ist die linke Hand einer Person, die in einer Fußgängerzone eine Ausgabe des Koran und einen Flyer des LIES-Projekts hält. Verbreitung salafistischer Ideologie | Seit 2011 hatten DWR-Aktivisten im Rahmen des „LIES!“-Projekts in Fußgängerzonen kostenlose Koran-Exemplare verteilt, um neue Anhänger für die salafistische Ideologie zu werben. Der Initiator der „LIES!“-Kampagne und bundesweit aktive Salafist Ibrahim Abou-Nagie hatte seinerzeit das Ziel formuliert, 25 Millionen deutschsprachige Koranübersetzungen zu verteilen und damit nahezu jedem Haushalt in Deutschland einen Koran zur Verfügung zu stellen. Bis zum Verbot des Vereins wurden nach eigener Angabe innerhalb von rund fünf Jahren etwa 3,5 Millionen Koranübersetzungen verteilt. Daneben bediente sich DWR eines Netzwerks aus Predigern, um die salafistische Ideologie im Rahmen von Seminaren und öffentlichen Veranstaltungen zu verbreiten.

Verbotsgründe | Die von DWR propagierte salafistische Ideologie richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung, so vertrat sie ein Scharia-Verständnis, das im Widerspruch zum Grundgesetz steht. In zahlreichen im Internet veröffentlichten Videos positionierten sich wichtige DWR-Akteure unter Berufung auf „die Scharia“ gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, die Volkssouveränität, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. DWR warb in kämpferisch-aggressiver Weise bei ihren überwiegend jungen − zum Teil minderjährigen − Anhängern dafür, dieses extremistische Islamverständnis in die Tat umzusetzen.

Darüber hinaus richtete sich DWR gegen den Gedanken der Völkerverständigung. So riefen Aktivisten in ihren Botschaften zum Beispiel zur Vernichtung von Juden und „Zionisten“ auf und befürworteten den bewaffneten Jihad. Indem DWR auch Sympathisanten der jihadistischen Ideologie anwarb, wurde sie zum Sammelbecken für bundesweit mindestens 140 „LIES!“-Aktivisten und -Unterstützer, die nach Syrien bzw. in den Irak ausreisten, um sich dort dem terroristischen Kampf anzuschließen.

Bundesweite Durchsuchungen | In zehn Ländern (Hessen, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Hamburg und Bremen) fanden über 190 Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen statt, allein in Hessen mehr als 60, unter anderem in Frankfurt am Main, Kassel, Offenbach am Main, Darmstadt, Hanau, Dietzenbach und Mühlheim am Main.

Reaktionen der salafistischen Szene | Am 15. Dezember reichte Ibrahim Abou-Nagie fristgerecht Klage gegen die Vereinsverbotsverfügung beim Bundesverwaltungsgericht ein. Auf Facebook reagierte die salafistische Szene unterschiedlich auf diesen Schritt. Neben zustimmenden Kommentaren fanden sich Äußerungen, in denen Abou-Nagie vorgeworfen wurde, sich durch die Klage innerhalb des demokratischen Systems zu bewegen und sich zu dessen Teil zu machen, wogegen die Demokratie − nach salafistischer Auffassung − als unislamisch abzulehnen sei.

In seiner vierten (auf Deutsch) im Internet erschienenen Ausgabe warf das IS-Propagandamagazin Rumiyah den DWR-Verantwortlichen vor, ein „entstelltes und falsches Bild vom Islam zu präsentieren, mit dem die Kreuzzügler zufrieden sein würden“. In Bezug auf Abou-Nagie bemängelte das Magazin, dass es „keine Feindschaft und keinen Hass gegenüber den Feinden Allahs in seinem Herzen“ gebe. Der Artikel endete mit einem gegen die „Feinde“ des tauhid (arab. für Einzigkeit und Einzigartigkeit Allahs) gerichteten Aufruf:

„Öffnet die Tore des Dschihads in ihrem Land. Detoniert den Vulkan der Wut in ihren Gesichtern, füllt ihre Straßen mit Terror und vergießt ihr Blut zu Flüssen, denn die Rechnung ist wahrlich lang geworden und die Zeit der Vergeltung ist gekommen. […] Ihr wisst über die Teilnahme der deutschen Truppen an der Schlacht in Mossul […]. Und wenn manch einer von euch nicht dazu imstande ist einen Sprengsatz oder Munition zu beschaffen, so wird er nicht unfähig sein ein Messer oder Steine zu benutzen“.
(Schreibweise wie im Original.)

Ereignisse/Entwicklungen im jihadistischen Salafismus

Auf die gegen ihn in Syrien und im Irak geführte Militäroffensive reagierte der IS, indem er Anschläge in Europa – auch in Deutschland – plante, diese anleitete und durchführte. Der IS bekannte sich im Berichtsjahr unter anderem zu Terrorakten in Belgien, Frankreich und Deutschland, die vielen Menschen das Leben kosteten und zahlreiche zum Teil sehr schwer verletzten.

Dass der IS im Jahr 2014 ein „Kalifat“ ausgerufen hatte, bildete innerhalb der Anhängerschaft des globalen Jihad nach wie vor einen schwerwiegenden Streitpunkt und sorgte weiterhin für eine Zersplitterung der verschiedenen jihadistischen Strömungen. Al-Qaida und mit ihr ideologisch verwandte Gruppierungen lehnten das „Kalifat“ des IS unverändert ab, da es aus ihrer Sicht keine religiöse Legitimation besitzt. Vor diesem Hintergrund kam es in den Konfliktregionen nicht nur zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den verfeindeten jihadistischen Lagern, sondern auch zu einem regelrechten Propagandakrieg im Internet bzw. in den sozialen Netzwerken.

Für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ist es von entscheidender Bedeutung, Rückkehrer aus Syrien und dem Irak als solche zu erkennen. Von diesen Personen geht nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden derzeit die größte Gefahr für Leib und Leben der Menschen in Deutschland aus. Sind Rückkehrer als solche identifiziert, werden sie von den Sicherheitsbehörden im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten überwacht und bei ausreichender Beweislage festgenommen. Darüber hinaus wurde im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport Anfang 2017 − nach einer Pilotphase im vorangegangenen Jahr − ein Referat im Landespolizeipräsidium zur Umsetzung des Konzepts der beschleunigten Rückführung „besonders auf- und straffälliger Ausländer“ eingerichtet. Das Referat ist zuständig für aufenthaltsbeendende Maßnahmen, einschließlich der freiwilligen Rückkehr. Es erarbeitet die strategischen Leitlinien für eine wirkungsvolle Umsetzung der Rückführung von vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern. Dies gewährleistet eine bessere Verzahnung von Behörden in Bezug auf ausländische Intensiv- und Mehrfachtäter, wobei Sicherheitsbehörden, Staatsanwaltschaft sowie Ausländer- und Sozialbehörden enger denn je kooperieren, um möglichst keine Reibungsverluste entstehen zu lassen.

Abgebildet sind ein ehemaliges Kampfgebiet des Islamischen Staats im Irak, massive Kriegszerstörungen und aufsteigender Rauch, der von den Zerstörungen rührt.

IS auf dem Rückzug | Seit Anfang 2016 war der IS gezwungen, von ihm in Syrien und im Irak erobertes Territorium gegen die von den USA geführte Koalition, das russisch-syrische Militärbündnis und eigenständig aktive Gruppierungen zu verteidigen. Die Terrororganisation gab Gebiete auf, darunter den für ihre Propaganda wichtigen und symbolträchtigen Ort Dabiq (Syrien) an der Grenze zur Türkei. Laut einer islamischen Überlieferung soll in Dabiq am Ende aller Zeiten eine wichtige Schlacht zwischen Muslimen und „Ungläubigen“ stattfinden. Davon überzeugt, dass sich diese Prophezeiung erfüllen werde, hatten IS-Kämpfer den militärisch-strategisch bedeutungslosen Ort im Jahr 2014 besetzt. Dessen ideologisch-propagandistische Bedeutung wurde sichtbar, als der IS ein Propagandamagazin mit gleichem Namen herausgab.

Strategiewechsel des IS − jihadistische Propaganda | Während die Anti-IS-Koalition weiter auf die von der Terrororganisation besetzten Städte Raqqa (Syrien) und Mossul (Irak) vorrückte, verwickelte der IS die Koalitionskräfte in einen Guerilla-Kampf. Ungeachtet der erfolgreichen Militärschläge gegen den IS, die zum Tod einflussreicher und ranghoher Funktionäre wie des IS-Medienchefs und Leiters Externe Operationen, Abu Muhammad al-Adnani, führten, verbreiteten die Jihadisten Durchhalteparolen und versuchten vor allem mittels ihrer Propaganda Stärke zu demonstrieren. So reagierte der IS auf den anhaltenden militärischen Druck und die Gebietsverluste mit zwei Strategien: Zum einen verlagert er Kräfte in Gebiete außerhalb Syriens und des Iraks − zum Beispiel nach Libyen −, um sich dort sowohl militärisch als auch logistisch zu reorganisieren; zum anderen drohte er den „Ungläubigen“ vermehrt mit brutalen Vergeltungsmaßnahmen. In diese Drohungen mischten sich Aufrufe zu Anschlägen gegen Europa und teilweise explizit gegen Deutschland.

Vor diesem Hintergrund gewannen das Internet bzw. die sozialen Medien für den IS eine noch größere Bedeutung, als sie bereits in der Vergangenheit in Bezug auf die Legitimation und Verbreitung jihadistischer Ideologie besessen hatten: Propagandamaterial in Form von Texten und Audio-/Videobotschaften wurde hauptsächlich über offene Kanäle in den sozialen Netzwerken gestreut, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Zugleich wollte der IS auf diese Weise das Erkennen und Löschen jihadistischer Inhalte durch die Sicherheitsbehörden in Kooperation mit den verantwortlichen Netzbetreibern erschweren.

Seit einigen Jahren haben sich jihadistische Medienportale und Einzelakteure „professionalisiert“, indem sie Qualität und Quantität ihrer Propagandaveröffentlichungen sukzessive erhöhten. Neben gängigen Medienformaten verbreiteten die Jihadisten Online-Publikationen im modernen Design und im Hochglanzlook mit einer aussagekräftigen Bildersprache, mittels derer sie die Welt plakativ in „Gläubige“ und „Ungläubige“ sowie „Gut“ und „Böse“ unterteilten. Jihadistische Terrororganisationen wie der IS und al-Qaida veröffentlichten derartige Magazine in regelmäßigen Abständen im Internet.

DABIQ und Rumiyah | Zu den bekanntesten Magazinen zählte DABIQ, das zuletzt im Juli mitunter auch in deutscher Sprache erschien. DABIQ verherrlichte vor allem das „Kalifat“ und beschrieb entsprechend positiv die dortigen Verhältnisse, um Muslime aus aller Welt zum Verlassen des Westens sowie zum Leben im „Kalifat“ zu verlocken, wobei das „Kalifat“ tatsächlich lediglich eine realitätsferne Utopie ist. Im September verbreitete der IS ein weiteres Magazin mit dem Titel Rumiyah, was im Arabischen Rom bedeutet und sinnbildlich für den Untergang des Römischen Reiches nach dem Fall Konstantinopels im Jahr 1453 steht. Rumiyah erschien in verschiedenen Sprachen − unter anderem auf Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch und Türkisch − und rief sehr viel intensiver als DABIQ zum Töten von Nicht-Muslimen auf. Rumiyah bezeichnete dies als religiöse Pflicht der Muslime.

Terroranschläge in Europa | Die Ereignisse in Paris (Frankreich) im Januar 2015 − Angriff auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo, Mord an einer Polizistin und Ermordung von vier Geiseln in einem Supermarkt − markierten den Beginn einer Reihe europaweiter jihadistisch motivierter Anschläge mit hunderten von Toten und Verletzten. Im Berichtsjahr kam es unter anderem zu folgenden Anschlägen:

  • Am 12. Januar sprengte sich ein Attentäter in unmittelbarer Nähe einer deutschen Reisegruppe auf dem Sultan-Ahmed-Platz in Istanbul (Türkei) in die Luft. Elf deutsche Staatsangehörige kamen ums Leben, 13 Personen wurden verletzt. Der syrische Attentäter soll dem IS angehört haben.
  • Am 26. Februar stach eine 15-jährige deutsch-marokkanische Staatsangehörige mit einem Messer gezielt auf einen Beamten der Bundespolizei im Rahmen einer Kontrolle im Hauptbahnhof in Hannover (Niedersachsen) ein und verletzte ihn schwer. Die Angreiferin sympathisierte mit dem IS und hatte im Januar versucht, nach Syrien auszureisen. Im Januar 2017 verurteilte das Oberlandesgericht Celle die mittlerweile 16-Jährige zu sechs Jahren Freiheitsstrafe; ein Mitwisser der Tat erhielt zweieinhalb Jahre Haft. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.
  • Am 22. März verübten in Brüssel (Belgien) Selbstmordattentäter sowohl im Flughafen Zaventem als auch in der U-Bahnstation Maelbeek einen Sprengstoff- und Bombenanschlag. Dabei kamen 38 Menschen, darunter eine deutsche Staatsangehörige, ums Leben. Mehr als 340 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Der IS bekannte sich zu den Anschlägen.
  • Am 16. April verübten zwei 16- und 17-jährige türkische Staatsangehörige − mutmaßliche Sympathisanten des IS − einen Sprengstoffanschlag auf eine Hochzeitsgesellschaft in einem Gemeindezentrum der Sikhs in Essen (Nordrhein-Westfalen). Durch die Explosion wurden ein Priester schwer und zwei weitere Männer leicht verletzt, zur Tatzeit hielten sich 100 bis 150 Personen im Gemeindezentrum auf.
  • Am 13. Juni ermordete in Magnanville (Frankreich) ein marokkanischer Staatsangehöriger einen Polizeibeamten und dessen Lebensgefährtin. Der Täter wurde getötet, als die Polizei das Haus stürmte, der dreijährige Sohn des Paars blieb unverletzt. Während der vorherigen Verhandlungen mit der Polizei hatte der Täter geäußert, Muslim zu sein und den Treueeid auf Abu Bakr al-Baghdadi, den Anführer des IS, geschworen zu haben.
  • Am 28. Juni verübten drei mutmaßliche IS-Sympathisanten einen Anschlag auf den internationalen Flughafen Atatürk in Istanbul (Türkei), indem sie getrennt voneinander in kurzer zeitlicher Abfolge mit Sturmgewehren und Sprengsätzen 45 Menschen töteten und mindestens 240 − darunter eine deutsche Staatsangehörige − zum Teil schwer verletzten. Die Attentäter sprengten sich schließlich in die Luft bzw. sie wurden von der Polizei getötet.
  • Am 14. Juli überfuhr auf einer Strandpromenade in Nizza (Frankreich) ein Attentäter während einer Veranstaltung zum französischen Nationalfeiertag auf einer Strecke von etwa zwei Kilometern Länge Besucher mit einem Lastwagen. Dabei tötete der Attentäter 86 Menschen − darunter drei deutsche Staatsangehörige − und verletzte mehr als 70, unter ihnen ebenfalls eine Deutsche, zum Teil schwer. Die Polizei erschoss den Täter, einen tunesischen Staatsangehörigen, der in Frankreich zuvor wegen allgemeinkrimineller Delikte in Erscheinung getreten war. Der IS reklamierte die Tat für sich.
  • Am 18. Juli fügte ein afghanischer Staatsangehöriger in einem Regionalzug bei Würzburg (Bayern) fünf Menschen mit einer Axt und einem Messer schwere Verletzungen zu. Im Zuge der polizeilichen Festnahme kam der Täter ums Leben. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Täter den Sicherheitsbehörden nicht aufgefallen. Der IS bekannte sich zu dem Anschlag.
  • Am 24. Juli verübte in der Nähe der Eingangskontrolle zu einem Musikfestival in Ansbach (Bayern) ein syrischer Staatsangehöriger ein Sprengstoffattentat, wobei er selbst ums Leben kam. 14 Personen wurden verletzt, vier davon schwer. Der Attentäter hatte zuvor versucht, auf das Veranstaltungsgelände, auf dem sich 2.000 bis 2.500 Menschen befanden, zu gelangen. Als er abgewiesen wurde, da er keine Eintrittskarte vorweisen konnte, zündete er den Sprengsatz vor einer Gaststätte. Der Täter war der Polizei wegen Drogen- und Nötigungsdelikten bekannt. Der IS bekannte sich zu dem Anschlag.
  • Am 19. Dezember steuerte in Berlin ein Attentäter einen Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt, dabei tötete er zwölf Menschen und verletzte 62, davon 14 schwer. Dem Täter, einem tunesischen Staatsangehörigen, gelang die Flucht; er wurde am 23. Dezember in einem Vorort von Mailand (Italien) in der Nähe des Bahnhofs von Polizeibeamten erschossen, als er versuchte, sich mit Waffengewalt einer Personenkontrolle zu entziehen.

Jihadistisch motivierte Ausreisen | Mit Stand Dezember lagen Erkenntnisse zu mehr als 890 deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland vor, die seit Beginn des Bürgerkriegs in Richtung Syrien/Irak gereist sind, um dort auf Seiten des IS und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese in sonstiger Weise zu unterstützen. Von den 890 Personen lagen Erkenntnisse zu etwa 140 Islamisten aus Hessen vor, die in Richtung Syrien/Irak reisten. Etwa ein Fünftel der bundesweit ausgereisten Personen war weiblich. Der überwiegende Teil der insgesamt ausgereisten Personen war jünger als 30 Jahre. Nicht in allen Fällen lagen Erkenntnisse vor, dass sich diese Personen tatsächlich in Syrien bzw. im Irak aufhielten oder aufgehalten haben. Insgesamt zeichnete sich eine verringerte Ausreisedynamik in die Konfliktregion ab. Andererseits ist weiterhin damit zu rechnen, dass gerade Jihadisten aus Deutschland, die − trotz der Unabwägbarkeiten vor Ort − nach wie vor ausreisen möchten, zunehmend wegen der Maßnahmen der Behörden sensibilisiert sind. Daher ist von einer Dunkelziffer nicht registrierter Ausreisen auszugehen.

Etwa ein Drittel der 890 bundesweit ausgereisten Personen befand sich im Dezember wieder in Deutschland. Zu der Mehrzahl dieser Rückkehrer lagen keine belastbaren Informationen vor, dass sie sich aktiv an Kampfhandlungen in Syrien bzw. im Irak beteiligten.

Etwa ein Viertel der rund 140 aus Hessen ausgereisten Personen hielt sich im Dezember wieder in Hessen auf. Zu der Hälfte dieser Rückkehrer lagen keine belastbaren Informationen vor, dass sie sich aktiv an Kampfhandlungen in der Konfliktregion beteiligten.

Als Ergebnis der kontinuierlichen Aus- und Bewertung der Erkenntnislage zu zurückgekehrten Personen lagen den Sicherheitsbehörden im Dezember bundesweit zu über 70 Personen Erkenntnisse vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten. In Hessen lagen zu etwa 20 Personen entsprechende Erkenntnisse vor. Gegen sie wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Ferner lagen bundesweit zu etwa 140 (in Hessen zu rund 25) Personen Hinweise vor, dass diese in Syrien oder im Irak ums Leben gekommen sind.

Zudem wurden weitere Ausreiseplanungen bekannt. Die Sicherheitsbehörden sind bestrebt, möglichst viele dieser Ausreiseplanungen frühzeitig wahrzunehmen, um deren Verwirklichung zu unterbinden. Die Anzahl der behördlich verhängten Ausreiseverbotsverfügungen bewegte sich bundesweit im niedrigen dreistelligen − in Hessen im mittleren zweistelligen − Bereich.

Jihadistische Szene in Hessen | Innerhalb der salafistischen Szene in Hessen machten die Jihadisten einen geringen Anteil aus. Nicht jeder Jihadist plante eine vermeintlich islamisch legitimierte Gewalttat. Der Großteil des jihadistischen Personenspektrums nutzte in der Regel städtische Regionen, da gerade sie − wie zum Beispiel das Rhein-Main-Gebiet − für konspirative Zwecke geeignet sind, um die Gewaltideologie des Jihadismus unterstützend zu verwirklichen. Dazu zählten etwa Finanztransaktionen, Schleusungsaktivitäten und die Indoktrinierung von Personen.

Ähnlich wie die Szene des politischen Salafismus war die jihadistische in heterogene, mitunter ideologisch verfeindete Gruppierungen und Lager gespalten. Ungeachtet ihrer internen Konflikte registrierte die jihadistische Szene − insbesondere mit Bezug auf Syrien − jede Entwicklung innerhalb des globalen Jihad. Umgekehrt erreichte der IS in bislang unvergleichbarer Weise mit seinen „professionell“ gestalteten Propagandabotschaften Menschen, die unter bestimmten Bedingungen indoktriniert und radikalisiert werden können, so dass sie eventuell eine jihadistisch motivierte Gewalttat begehen.

Salafistische Veranstaltung in Kassel − Vereinsverbot | Ein seit Mitte April auf salafistischen Facebook-Profilen und über andere soziale Netzwerke für Kassel angekündigtes „Wochenendseminar“ fand dort vom 6. bis 8. Mai in der sogenannten Medina-Moschee statt. Als Referenten sollten die salafistischen Prediger „Scheikh Bassam, Scheikh Abu Walaa & Bruder Abu Khadijah“ auftreten. Bei Abu Walaa handelt es sich um Ahmad Abdulaziz Abdullah, Imam im Deutschsprachigen Islamkreis Hildesheim (DIK) in Niedersachsen. Er bekannte sich in der Vergangenheit offen zum IS und trat bei salafistischen Veranstaltungen als Redner auf. İie Polizei kontrollierte in Kassel mehr als 200 Teilnehmer und nahm Personalienfeststellungen vor. Unter den Besuchern befanden sich Abu Walaa und mehrere Angehörige der salafistischen Szene, die aus verschiedenen deutschen Städten und aus dem benachbarten europä-ischen Ausland angereist waren.

Am 8. November wurde Abu Walaa aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs in Untersuchungshaft genommen. Unter anderem soll er Personen für die salafistische Szene angeworben und sie zum Zweck des gewaltsamen Jihad für den IS in die Krisenregion Syrien/Irak geschleust haben. Hierfür soll Abu Walaa zusammen mit vier weiteren Personen ein Netzwerk gegründet und angeführt haben.

Nach Durchsuchungsmaßnahmen am 23. November in mehreren Objekten in Kassel verbot das Hessische Ministerium des Innern und für Sport im März 2017 den Almadinah Islamischen Kulturverein e. V. Der Trägerverein der Medina-Moschee richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung, förderte ein jihadistisch-salafistisches Netzwerk und bot in der Moschee eine Plattform für den Austausch und für den Aufruf zu Hass und Gewalt gegen andere Religionsgruppen, Staaten und Völker sowie allgemein anders denkende Menschen. Damit setzte der Verein letztendlich auf diese Art und Weise ggf. auch eine Ursache für Ausreisen in die Krisenregionen. Ebenso verbot im März 2017 das Niedersächsische Ministerium des Innern und für Sport den DIK.

Islamisten verurteilt | Am 4. Juli verurteilte die Staatsschutzkammer des Landgerichts Frankfurt am Main Halil D. wegen Urkundenfälschung und verbotenem Waffen- und Sprengstoffbesitz zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft. Das Urteil ist rechtskräftig. Im Keller von Halil D. hatte die Polizei im April 2015 neben verschiedenen Waffen eine funktionsfähige Rohrbombe entdeckt, auf einem Rechner hatten sich unter anderem Propagandavideos des IS und Ausgaben von DABIQ befunden. Das Radrennen „Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt“ war daraufhin wegen Terrorverdachts kurzfristig abgesagt worden. Aufgefallen war Halil D., als er gemeinsam mit seiner Frau unter falschem Namen große Mengen Wasserstoffperoxid gekauft hatte, das auch zum Bombenbau verwendet werden kann. Die Verkäuferin hatte die Polizei alarmiert. Der Anklagepunkt der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat konnte im Verlauf des Prozesses nicht bestätigt werden; die Anklage wurde diesbezüglich fallengelassen.

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verurteilte am 8. November einen deutsch-marokkanischen Staatsangehörigen wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Kriegsverbrechen und Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu einer Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Dem Verurteilten war vorgeworfen worden, gegen Ende 2013 mit seiner nach islamischem Recht angetrauten Ehefrau und deren zwei Kindern über die Türkei nach Syrien ausgereist zu sein, um sich dem IS anzuschließen. Dort ließ sich der Verurteilte im Umgang mit Waffen ausbilden und beteiligte sich am jihadistischen Kampf gegen das syrische Regime. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Verurteilte zusammen mit anderen Personen die Leiche eines Gegners geschändet und davon mit seinem Handy Bildaufnahmen gefertigt hatte.

Entstehung/Entwicklung

Begriffsentstehung | Mit dem arabischen Begriff salafiyya wurde erstmals im frühen 20. Jahrhundert eine islamische Reformbewegung beschrieben, die sich aus verschiedenen Erneuerungsbewegungen mit unterschiedlichen geographischen und politischen Umständen formierte und in den städtischen Zentren des Osmanischen Reichs wirkte.

Als Vertreter der „klassischen“ salafiyya gelten muslimische Intellektuelle und Gelehrte wie Jamal al-Din al-Afghani (1838 bis 1897), Muhammad Abduh (1849 bis 1905) und Rashid Rida (1865 bis 1935). Sie propagierten als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus eine Rückbesinnung auf die islamischen Wurzeln und auf die „frommen Altvorderen“ (arab. as-salaf as-salih), um − in ihrer Sichtweise − die muslimische Gemeinschaft aus der politischen und intellektuellen Unmündigkeit zu führen. Als Ursache für die damals bestehenden politischen Verhältnisse betrachteten Jamal al-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Rashid Rida die islamischen Volkstraditionen, die im Laufe der Jahrhunderte den „wahren Islam“ verfälscht hätten. In der Zurückweisung dieser Traditionen und im eigenständigen Forschen in den islamischen Quellen (arab. ijtihad) sahen sie die Möglichkeit, Islam und Moderne in Einklang zu bringen.

Historische Vorbilder in der islamischen Frühzeit | Der Rückbezug auf die „frommen Altvorderen“ ist bereits in der Frühzeit der sunnitischen Geistesgeschichte erkennbar. Salafistische Akteure zitieren als ideologische Vorbilder häufig vormoderne islamische Gelehrte wie Ahmad Ibn Hanbal (780 bis 855), Taqi al-Din Ahmad Ibn Taymiyya (1263 bis 1328) und dessen Schüler Ibn Qayyim al-Jawziyya (1292 bis 1350). Es gab jedoch im vormodernen Islam keine Bewegung oder Strömung, die als salafiyya bezeichnet wurde oder sich selbst so nannte. Da es sich bei den „Altvorderen“ nicht um eine Bewegung oder ein klar definiertes Konzept handelt, gestaltet sich dieser Rückgriff auf sie − je nach historischen, politischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Umständen − sehr unterschiedlich und führte in der Moderne zu stark divergierenden Interpretationen und verschiedenen, teils widersprüchlichen Strömungen innerhalb des Salafismus.

Wahhabismus als puristische Reformbewegung | Im aktuellen allgemeinen Sprachgebrauch wird mit dem Begriff Salafismus vor allem eine puristisch ausgerichtete Reformbewegung in Verbindung gebracht, die im späten 18. Jahrhundert von Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703 bis 1792) auf der arabischen Halbinsel (im heutigen Saudi-Arabien) begründet wurde. Wahhabs Ziel war es, die islamische Glaubenslehre und deren Praktiken von unerlaubten Neuerungen (arab. bid’a) zu reinigen. Im Zentrum der theologischen Betrachtung Muhammad Ibn Abd al-Wahhabs stand die strenge Betonung des Monotheismus (arab. tauhid) und damit einhergehend die Zurückweisung von Heiligenverehrung und anderen von ihm als unislamisch gebrandmarkten Verhaltensweisen.

Abd al-Wahhab praktizierte eine stark am Text orientierte Auslegung des Koran und denunzierte andere Muslime, vor allem Schiiten, als „Ungläubige“. Anders als die „klassische“ salafiyya lehnte er jegliche moderne Errungenschaften in gesellschaftlichen, politischen und intellektuellen Belangen ab und forderte, gemäß der Verhaltensregeln und Tugenden der „frommen Altvorderen“ zu leben. Mit seinen gesellschaftlichen und religiösen Reformideen lieferte er dem Stammesführer Muhammad Ibn Sa‘ud (1710 bis 1765) die religiöse Legitimation für dessen territoriale Expansionsbestrebungen, die später zur Gründung des Königreichs Saudi-Arabien mit wahhabitischer Staatsreligion führten.

Salafismus in Deutschland | In Deutschland wurden salafistische Prediger etwa seit 2002 aktiv und begannen, überregionale Missionierungsnetzwerke aufzubauen. Einige Prediger dieser ersten Generation erhielten ihre religiöse Ausbildung an Universitäten in Saudi-Arabien, was sich in ihrer Interpretation der islamischen Glaubenslehre nach wahhabitischer Lesart widerspiegelt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie die Loyalität gegenüber dem saudischen Königshaus teilen, die traditionelle wahhabitische Gelehrte auszeichnet. Da es auch innerhalb des Wahhabismus heterogene Lehrmeinungen gibt, berufen sich salafistische Akteure in Deutschland auf unterschiedliche Gelehrte und vertreten daher unterschiedliche Positionen, etwa in Bezug auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gewalt erlaubt ist. Anders als die Prediger der ersten Generation hat die wachsende Anzahl der gegenwärtigen Unterstützer und Sympathisanten des Salafismus oftmals keine religiöse Ausbildung an Universitäten erhalten, sondern schöpft ihr „Wissen“ aus Islamseminaren in Deutschland, Internetpredigten und privaten Lerngruppen.

Ideologie/Ziele

Strikter Monotheismus | Um ihre Vorstellungen zu propagieren, greifen Salafisten auf theologische und islamrechtliche Begriffe zurück, die sie ideologisch und extremistisch auslegen. Zentral ist dabei die Betonung des Monotheismus (arab. tauhid), den Salafisten auf Fotos gerne durch das Erheben des Zeigefingers symbolisieren. Unter tauhid wird im Allgemeinen die Eigenschaft Allahs als alleiniger Schöpfer und die sich daraus ergebende Konsequenz verstanden, dass allein er anbetungswürdig ist. Nach salafistischem Verständnis hat dieses Konzept eine politische Dimension: Allah wird die alleinige Herrschafts- und Gesetzgebungskompetenz zugesprochen, was zur Ablehnung demokratischer Regierungsformen führt, da diese auf menschlicher Logik und Rationalität beruhen. Diese Auslegung ermöglicht es Salafisten, ihren muslimischen Gegnern vorzuwerfen, sie würden durch die Akzeptanz demokratischer Prinzipien gegen das tauhid-Prinzip verstoßen und damit vom islamischen Glauben abfallen. Vermeintliche Verstöße gegen das zentrale Glaubenskonzept ziehen jihadistische Salafisten außerdem als Legitimation dafür heran, aus ihrer Sicht unislamische Regierungen oder andere Gegner gewaltsam zu bekämpfen (arab. jihad).

Forderung nach kompromissloser Einhaltung der islamischen Rechtsordnung (Scharia) | Wegen der alleinig Allah zugesprochenen absoluten Gewalt über die Gesetzgebung erkennen Salafisten nur göttliches Recht als gültig an. Sie fordern daher, nur Gesetze anzuwenden, die aus Koran und Sunna hervorgehen (Scharia). Obwohl es sich bei der Scharia nicht um einen kodifizierten Gesetzeskanon handelt, sondern − je nach angewandter Rechtsfindungsmethode − um teilweise sehr unterschiedliche Interpretationen der religiösen Quellen, stellen Salafisten die Scharia als die Gesamtheit der islamischen Gesetze als eindeutiges Rechtssystem dar. Zitate aus dem Koran und Aussprüche des Propheten − losgelöst aus ihrem jeweiligen historischen und koranischen Kontext − dienen als Antwort für jedes ethische, theologische, soziale und politische Alltagsproblem. Besonders die Anwendung der im Koran für bestimmte Vergehen vorgeschriebenen Körperstrafen (arab. hadd) stellt eine zentrale Forderung der Salafisten dar.

Kampf gegen die „Ungläubigen“ | Als „Kenner“ des einzig „wahren“ Weges zu Allah werfen Salafisten allen, die ihrer Ideologie nicht folgen, vor, den Islam durch unerlaubte Neuerung (arab. bid‘a) zu verfälschen. Dabei verurteilen sie das Anerkennen demokratischer Regierungsformen als „Vielgötterei“ oder „Götzendienst“ (arab. schirk oder taghut), die den Abfall vom islamischen Glauben zur Folge haben. „Ungläubig“ (arab. kafir, Mehrzahl kuffar) sind demnach nicht nur Anhänger anderer Religionen, sondern auch nicht-salafistische Muslime. Besonders rigoros fordern Salafisten die Bekämpfung von Schiiten und Sufis (Anhänger der islamischen Mystik), da deren Theologie und Religionspraktiken eine Abweichung vom Islam seien.

Gegen die „westliche“ Kultur | Im Einklang mit dem Kampf gegen die „Ungläubigen“ richten sich salafistische Propagandaaktivitäten gegen „westliche“ Normen, Werte und Institutionen, die diese repräsentieren. Salafisten legitimieren diese Ablehnung durch die Berufung auf das Konzept der „Loyalität und Lossagung“ (arab. al-wala’ wal-bara’). Auf zwischenmenschlicher Ebene besagt dieses Konzept, „Ungläubige“ zu meiden und sich nur mit Gleichgesinnten zusammenzutun, auf politischer Ebene verbietet es das Eingehen militärischer oder politischer Allianzen mit Nicht-Muslimen. Im europäischen Kontext rufen salafistische Prediger vor allem dazu auf, sich von der „ungläubigen“ Mehrheitsgesellschaft zu distanzieren und unter Umständen in muslimische Länder oder den im Sommer 2014 proklamierten sogenannten islamischen Staat auszuwandern (arab. hijra).

Antisemitismus | Im Rahmen der Diffamierung anderer Religionen ist die Ächtung der jüdischen Religion und des Staates Israel in der salafistischen Propaganda besonders ausgeprägt. Entsprechende Äußerungen reichen von klassischen antisemitischen Stereotypen über die Leugnung des Holocaust bis hin zu Warnungen vor einer „jüdischen Weltverschwörung“. Darüber hinaus erkennen Salafisten das Existenzrecht Israels nicht an und legen den Israel-Palästina-Konflikt als Folge einer historischen Feindschaft der Juden gegen Muslime aus.

Politischer Salafismus | Die Mehrheit der Salafisten in Hessen versucht ihre Forderung nach Durchsetzung der Scharia mit politischen Mitteln zu erreichen. Dafür wählen diese Aktivisten in erster Linie das Mittel der Missionierung (arab. da’wa), um in Form von Vorträgen, Islamseminaren, Publikationen und Internetauftritten Muslime und Nicht-Muslime von ihrer Sicht des „wahren“ Islam und der Notwendigkeit, sich aktiv für diesen einzusetzen, zu überzeugen. Charismatische Prediger rufen dazu auf, die islamischen Quellen zu studieren und die individuelle Lebensführung dem Vorbild der „Altvorderen“ anzupassen. Durch öffentlichkeitswirksame Aktionen wie zum Beispiel die bundesweite Koranverteilaktion „LIES!“ erreichen politische Salafisten ein zunehmend breiteres Spektrum in der Gesellschaft.

Auch wenn politische Salafisten nicht offen zur Gewaltanwendung aufrufen, ist der Jihad als legitimes Mittel des klassischen islamischen Kriegsrechts integraler Bestandteil ihrer Ideologie. Insofern unterscheiden sie sich von jihadistischen Salafisten in ihrer Beurteilung dessen, unter welchen Umständen der Kampf gegen welchen Feind islamisch gerechtfertigt werden kann. Obgleich auch politische Salafisten demokratische Institutionen, Prozesse und Prinzipien wie Volksherrschaft und Mehrparteiensystem ablehnen, sind sie deutlich zurückhaltender, wenn es darum geht, deswegen andere Muslime offen des Abfalls vom Islam zu bezichtigen (arab. takfir) bzw. zu „Ungläubigen“ zu erklären.

Jihadistischer Salafismus | Ausgehend von denselben religiösen Quellen schlussfolgern jihadistische Salafisten, dass die Umsetzung ihrer Bestrebung, den „wahren“ Islam anzuwenden, nur mit gewaltsamen Mitteln möglich ist. Für ihre Wahl der anzuwendenden Strategie und Vorgehensweise ist entscheidend, ob der zu bekämpfende „Feind“ lokal (unislamische Regierung) oder global („westlicher Imperialismus“) verortet wird und dementsprechend Kampfhandlungen oder Anschläge gegen eine bestimmte („unislamische“) Regierung oder gegen „westliche“ Länder im Vordergrund stehen. In beiden Fällen verläuft die islamrechtliche Legitimation der jihadistischen Salafisten entlang der Argumentation, dass sich der Islam in einer permanenten Verteidigungsposition befinde, da „Ungläubige“ ihn vernichten wollten. Die Pflicht, sich für den Islam in den Kampf zu begeben, fordern jihadistische Salafisten dabei entweder als individuell oder kollektiv wahrzunehmende Aufgabe der Muslime ein.

In ihrer Propaganda werben jihadistische Salafisten für den Jihad, indem sie die Vorzüge des „Märtyrertods“ in Aussicht stellen. Er garantiere dem Kämpfer oder Selbstmordattentäter eine erhöhte Stellung im Paradies. Die Bereitschaft, sich für Allah und den Islam zu opfern, sei der einzige Weg, um die Gesellschaft zum Guten zu verändern und führe zu Ruhm und Anerkennung. In Propagandavideos veröffentlichen jihadistische Salafisten Bilder von „Märtyrern“ und untermalen diese mit religiösen Gesängen, die den Jihad preisen (arab. naschid, Mehrzahl anaschid), wodurch potenzielle Jihadisten emotional angesprochen und in Kampfstimmung versetzt werden sollen. Dabei ist es das Ziel, entweder neue Unterstützer für unterschiedliche jihadistische Gruppierungen im syrisch-irakischen Kampfgebiet zu gewinnen oder zu Terroranschlägen in Europa zu motivieren. Der jihadistische Salafismus stellt daher innerhalb des internationalen islamistischen Terrorismus unverändert die größte Bedrohung für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Auch im Berichtsjahr ging eine besondere Gefahr von Personen aus, die aus dem Jihad-Kampfgebieten Syrien und Irak nach Deutschland zurückkehrten.

Bewertung/Ausblick

Salafismus als Gesamtphänomen | Die Anzahl der Salafisten in Hessen war mit 1.650 Personen im Berichtsjahr weiterhin besorgniserregend hoch, wobei der Großteil dem politischen Salafismus zuzuordnen ist. Aufgrund der Resonanz, welche die anschlussfähige und in weitem Rahmen interpretierbare salafistische Ideologie vor allem unter Jugendlichen erfährt, ist nicht mit einem Rückgang dieser Zahl zu rechnen.

Politischer Salafismus | Dabei bleiben die vom politischen Salafismus ausgehenden Gefahren − allen voran die mögliche Radikalisierung hin zum gewalttätigen Jihadismus − unvermindert hoch. Die Sicherheitsbehörden räumen der Bekämpfung dieser Gefahren höchste Priorität ein. Dies zeigt unter anderem das bundesweite Verbot von DWR, das bis dahin als größtes Sammelbecken von jihadistischen Islamisten in Deutschland fungierte und unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit salafistische Ideologie verbreitete. Das Verbot setzt insbesondere ein Signal in Bezug auf die dem politischen Salafismus eigene doppeldeutige Einstellung zur Gewalt und verdeutlicht, dass entsprechende Bestrebungen nicht toleriert werden.

Genau zu beobachten ist für die Zukunft, welche Rückschlüsse innerhalb der Szene des politischen Salafismus aus dem Verbot und seiner Begründung gezogen werden. Da es sich um eine heterogene Szene handelt, in der ständig um das „wahre“ Verständnis der salafistischen Ideologie und die richtigen Mittel der da‘wa-Arbeit gerungen wird, ist das Entstehen neuer Personenkoalitionen möglich. Dies kann mit einer Distanzierung von Gewalt befürwortender Ideologie und dem Ausschluss jihadistischer Akteure einhergehen und stärkt möglicherweise diejenigen Strömungen innerhalb des Salafismus, die nicht gewaltorientiert agieren. Gleichzeitig könnte eine solche (vordergründige) Distanzierung aber auch aus der strategischen Überlegung resultieren, sich sicherheitsbehördlichen Maßnahmen in Zukunft zu entziehen.

Die Gründung neuer Missionierungsvereinigungen, die sich ähnlichen Verteilaktionen wie „LIES!“ widmen, ist wahrscheinlich. Dies zeigt sich zum Beispiel anhand der Verteilung von Prophetenbiographien im Namen von „We love Muhammad“. Allerdings ist abzuwarten, ob sich dieses Projekt in Hessen etablieren wird, da Neugründungen dieser und ähnlicher Art durch das DWR-Verbot erschwert werden. Eine Vereinigung, die sich zu einem Großteil aus ehemaligen „LIES!“-Aktivisten zusammensetzt, kann als Nachfolgeorganisation ebenfalls verboten werden. Ob es sich vorliegend um Nachfolgebestrebungen handelt, prüfen die Sicherheitsbehörden sorgfältig.

Jihadistischer Salafismus | Von salafistischen Jihadisten geht weiterhin die größte Bedrohung für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland aus. In diesem Kontext stellen Rückkehrer aus den Bürgerkriegsgebieten im Nahen Osten eine sehr ernstzunehmende Gefahr dar. Selbst wenn nicht in allen Fällen Erkenntnisse über eine aktive Teilnahme am jihadistisch motivierten Kampf nachzuweisen sind, ist es wahrscheinlich, dass die vor Ort gemachten Erfahrungen, begangene Taten und die terroristische Ausbildung etliche Rückkehrer verrohen ließen und sie in die Lage versetzen, Anschläge zu begehen.

Neben dieser Gefährdungslage, die − wie das Berichtsjahr leider zeigte − sehr schnell in Anschläge münden kann, avancierten das Internet und insbesondere die sozialen Medien zur wichtigsten Plattform für die seitens des IS stark intensivierte Verbreitung jihadistischer Propaganda. Die Auseinandersetzung mit solchen Inhalten kann zur Radikalisierung einer Person beitragen. Studien belegen, dass dabei auch das soziale Umfeld für eine salafistische bzw. jihadistische Radikalisierung eine Rolle spielt. Vielfach entsteht erst durch soziale Kontakte und Beeinflussung der Rahmen, in dem ein extremistisch verzerrtes Islamverständnis auf eine individuelle Lebenssituation trifft, die in diesem Zusammenspiel zu einer Radikalisierung bis hin zu einem Anschlag führen.

Obwohl sich die Dynamik der jihadistisch motivierten Ausreisen verringert hat, ist weiterhin mit konspirativen Reisen in die Kampfgebiete zu rechnen. Die Maßnahmen der Sicherheits- sowie der Verwaltungsbehörden (wie etwa Passentzug und Ausreiseverbotsverfügung) verringern die Wahrscheinlichkeit einer unentdeckten Ausreise von Jihadisten.

Auch wenn im Berichtsjahr vor allem die Aktivitäten des IS im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit standen, geht von anderen jihadistischen Terrororganisationen wie etwa al-Qaida weiterhin eine nicht zu unterschätzende Gefahr aus. Die jihadistische Szene in Deutschland hat den Rahmen, innerhalb dessen diese Terrororganisationen agieren, und die Entwicklungen in den Bürgerkriegsgebieten sehr genau im Blick und reagiert darauf, wenn etwa − so wie geschehen − der IS seine Strategie ändert und seine mörderische Propaganda im Internet intensiviert.

Vor diesem Hintergrund analysieren die Sicherheitsbehörden die vergangenen Terroranschläge, ziehen ihre Schlüsse daraus und nehmen die anhaltende Bedrohungslage weiterhin äußerst ernst. So wurden im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport ein Referat im Landespolizeipräsidium zur Umsetzung des Konzepts der beschleunigten Rückführung „besonders auf- und straffälliger Ausländer“ eingerichtet und im Rahmen eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens in Kassel verschiedene Objekte durchsucht und der Verein Almadinah Islamischer Kulturverein e. V. verboten, da sich hier ein Nährboden für IS-nahe salafistisch-jihadistische Bestrebungen gebildet hatte.

Die Anschläge im Berichtsjahr verdeutlichen, dass es keinen universellen, vorherbestimmbaren jihadistischen Tätertyp gibt. Die Wege, die zur Radikalisierung − gerade von Einzelpersonen − führten, sowie die Tatvorbereitung und der Tatmodus weichen stark voneinander ab. Daher verstärken und modifizieren die Sicherheitsbehörden laufend ihre Anstrengungen und ihre Methodik, um Einzelpersonen zu identifizieren, die möglicherweise in der Lage sind, Terroranschläge zu verüben.

Gelingt es Jihadisten auch in Zukunft, Konflikte in bestimmten Krisenregionen, die in ihrer Entstehung und in ihrem Verlauf kompliziert sind, stark vereinfachend auf angeblich religiös motivierte Spannungen zu reduzieren und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, werden sie nach wie vor Personen motivieren, terroristische Anschläge zu begehen. Daher ist es das Ziel der zuständigen staatlichen Behörden, der wachsenden Infrastruktur des Salafismus durch Vereinsverbote und andere geeignete Maßnahmen, hier insbesondere Präventionsmaßnahmen, den Boden für Extremismus und Gewalt zu entziehen.

Muslimbruderschaft (MB)/Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD)

Definition/Kerndaten

Die MB ist in zahlreichen Staaten der Welt, dabei in nahezu allen Ländern des Nahen Ostens, vertreten. Sie ist die einflussreichste und älteste islamistische Bewegung unter den Sunniten. Ziel der MB ist die Errichtung eines weltumspannenden Gemeinwesens als Gottesstaat auf der Grundlage von Koran und Sunna. In Deutschland ist die IGD die größte Organisation, welche die Ideologie der MB vertritt. In Anlehnung an ihre ägyptische Mutterorganisation versucht die IGD, durch soziales und religiöses Engagement sowie durch Dialogangebote Akzeptanz in der Gesellschaft zu finden. Letztlich zielen diese Versuche darauf ab, die Ideologie der MB in Deutschland gesellschaftsfähig zu machen.

Führung: Muhammad Badi (Ägypten)
Anhänge/Mitglieder: In Hessen etwa 300, bundesweit etwa 1.040
Zuzurechnende Organisationen: Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) in den palästinensischen Autonomiegebieten (Gazastreifen) in Israel, al-Nahda (Tunesien), al-Ikhwan al-Muslimum fi Suriya (Muslimbruderschaft von Syrien)
Abgebildet ist das Logo der Muslimbruderschaft. Auf einem kreisförmigen grünen Hintergrund befinden sich zwei übereinander gekreuzte Krummsäbel, über denen sich ein Buch mit rotem Einband befindet. Auf dem Bucheinband und unter dem Säbeln befinden sich arabische Schriftzeichen.

Ereignisse/Entwicklungen

Mit der Absetzung des ägyptischen Präsidenten und hochrangigen MB-Funktionärs Mohammed Mursi im Jahr 2013 durch die Armee und der Einstufung der MB als Terrororganisation befand sich die gesamte Führungsspitze der Organisation in Haft bzw. setzte sich ins Ausland ab. Gerichte verurteilten zahlreiche MB-Anhänger zum Tode, wobei bislang nur wenige Urteile vollstreckt wurden. 2015 setzte Präsident Abdel Fattah al-Sissi ein neues Anti-Terror-Gesetz in Kraft. Als Reaktion auf die staatlichen Maßnahmen wurden insbesondere innerhalb der jüngeren MB-Anhängerschaft Stimmen laut, welche die Anwendung von Gewalt im Kampf gegen die ägyptische Regierung legitimierten.

Proteste gegen die äygyptische Regierung | Im November hob das oberste ägyptische Berufungsgericht das Todesurteil gegen den ehemaligen Präsidenten Mursi wegen Mangels an Beweisen auf. Ihm war vorgeworfen worden, im Januar 2011 − im Zuge der politischen Unruhen des arabischen Frühlings − mit Gewalt und bewaffneter Hilfe aus einem ägyptischen Gefängnis ausgebrochen zu sein. Ebenso ordnete das Gericht an, den gegen ihn geführten Prozess um mutmaßliche Spionage für die palästinensische HAMAS neu aufzurollen. Eine untere Instanz hatte Mursi 2015 in diesem Zusammenhang zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Bundesweit − unter anderem in Frankfurt − führten MB-Anhänger Demonstrationen durch, um gegen die politische Situation und die Verfolgung von Muslimbrüdern in Ägypten zu protestieren.

Aktivitäten der IGD | Um Kinder und Jugendliche frühzeitig in ihre Strukturen einzubinden, veranstaltete die IGD mehrere Kinder- und Jugendcamps. So fand in Hessisch-Lichtenau (Werra-Meißner-Kreis) vom 28. bis 30. Oktober das „9. IGD-Kindercamp“ für Jungen und Mädchen im Alter von 8 bis 12 Jahren statt. Darüber hinaus führte die IGD vom 26. bis 28. August in Kirchheim (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) ihre traditionelle überregionale Veranstaltung „Islamleben“ unter dem Motto „Einheit in Vielfalt“ durch.

Rat der Imame und Gelehrten e. V. (RIG) | Am 22. Februar veranstaltete der MB-nahe RIG ein Seminar in Frankfurt am Main zu dem Thema „Prioritäten des religiösen Diskurses im aktuellen europäischen Kontext“. Als Referent trat ein Mitglied der Partei al-Nahda, die den tunesischen Zweig der MB bildet, auf. Der Redner war früherer Minister für religiöse Angelegenheiten in Tunesien.

Am 11. September hielt der Vorsitzende des RIG in einer Moschee in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) einen Vortrag. Dagegen sagte er seine Rede bei einer Jubiläumsveranstaltung der Moschee („60 Jahre Muslime in Marburg und 30 Jahre Moschee“) ab, nachdem die Verbindungen des RIG zu der MB Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung geworden waren. Darüber hinaus richtete der RIG zusammen mit der IGD am 7. und 8. Oktober in Frankfurt am Main eine „Benefizfeier zum 3. Deutschen Quranwettbewerb“ aus.

Europäisches Institut für Humanwissenschaften in Deutschland e. V. (EIHW) | Das EIHW unterstützte Bildungsangebote für Kinder. So fand im März ein Workshop für Arabischlehrer statt, in dem Unterrichtsmethodik vermittelt wurde. Bildungsangebote sind stets Teil der Ideologievermittlung des EIHW.

Gründung eines Fatwa-Ausschusses in Deutschland | Am 12. März fand in Berlin die „Eröffnungsfeier“ für einen neuen Fatwa-Ausschuss in Deutschland statt. Laut eigenen Angaben handelt es sich bei der Organisation um einen Ausschuss für islamische Rechtsprechung (arab. fiqh), der dem European Council for Fatwa and Research (ECFR, Europäischer Rat für Fatwa und Forschung) angehört. Der ECFR wiederum ist dem europäischen Netzwerk der MB zuzurechnen.

Aufgabe des neuen Ausschusses ist es, islamische Rechtsgutachten sowohl auf Arabisch als auch auf Deutsch zu verfassen. Die Mitglieder des Ausschusses sind nach eigenen Angaben Gelehrte und Imame, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben und so ihr theologisches Wissen mit dem „Wissen über die deutsche Realität“ vereinen können. Auf Leitungsebene bestehen personelle Verbindungen zum EIHW.

Entstehung/Geschichte

Staat im Staat | In einer Phase des sozialen Umbruchs in Ägypten, in der sich ein neuer Mittelstand herausbildete, gründete 1928 der Volksschullehrer Hasan al-Banna (1906 bis 1949) die MB als Reaktion auf die zunehmende Europäisierung des Landes. Als Wohlfahrtsorganisation islamischer Prägung, die unter anderem Krankenhäuser und Schulen unterhielt, entwickelte sich die streng hierarchisch aufgebaute MB zunehmend zum Staat im Staat.

Unter der Führung al-Bannas verfolgte die MB nach und nach im Wesentlichen die Eliminierung des britischen Einflusses in Ägypten, die Islamisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Errichtung eines weltweiten Kalifats. Vor allem mit ihrer karitativen Arbeit gewannen die MB und ihre in anderen Ländern gegründeten Ableger immer mehr Anhänger.

Vom Verbot zur Regierung | In den 1940er und 1950er Jahren waren die Beziehungen zwischen der MB und dem ägyptischen Staat von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt. 1948 wurde der ägyptische Ministerpräsident Mahmud Fahmî an-Nuqrâshî (geb. 1888) ermordet, 1949 fiel Hasan al-Banna einem Attentat zum Opfer. 1954 verbot die Regierung die MB; ihr maßgeblicher Ideologe, Sayyid Qutb (geb. 1906), wurde 1966 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Ungeachtet der Generalamnestie für führende MB-Funktionäre im Jahr 1971 dauerten die Gewalttaten militanter islamistischer Gruppen, die ihre Aktionen unter Berufung auf die Schriften Sayyid Qutbs rechtfertigten, an. Eine militante Abspaltung der MB ermordete 1981 den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat (geb. 1918). Sein Nachfolger Husni Mubarak gewährte der MB den Status als religiöse Bewegung, nicht aber den einer politischen Partei. Als Konsequenz entsandte die MB vermeintlich unabhängige Bewerber und Kandidaten auf Wahllisten anderer Parteien in die Parlamentswahlen. Bei den Wahlen im Jahr 2005 vervierfachte die MB die Zahl ihrer Abgeordneten auf 88 und errang damit etwa ein Fünftel der Sitze im ägyptischen Parlament. Nach dem von Massenprotesten der Opposition erzwungenen Rücktritt Mubaraks 2011 erlangten die MB und andere Islamisten bei den Wahlen etwa 70 Prozent der Abgeordnetenmandate.

Als politischer Arm der MB gründete sich im Februar 2011 die Hizb al-Hurriya wal-Adala (Partei der Freiheit und Gerechtigkeit). Ihr Vorsitzender Muhammad Mursi, zugleich ein führender MB-Funktionär, wurde 2012 zum ägyptischen Staatspräsidenten gewählt. Aufgrund der angespannten Wirtschaftslage und anhaltender Proteste gegen die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit setzte das ägyptische Militär Muhammad Mursi im Juli 2013 ab. Im September 2013 verbot ein ägyptisches Gericht die MB nebst allen ihr zugehörigen Organisationen. Seit dem Dezember 2013 ist die MB in Ägypten als Terrororganisation eingestuft.

Die MB in Deutschland | 1960 gründete Said Ramadan (1926 bis 1995), ein Schwiegersohn al-Bannas und hoher MB-Funktionär, in München (Bayern) die Moscheebau-Kommission e. V. Zusammen mit Sayyid Qutb hatte er in den 1950er Jahren Ägypten verlassen und Ableger der MB in Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien und im Libanon ins Leben gerufen. Durch Umbenennungen gingen aus der Moscheebau-Kommission e. V.. im Jahr 1962 die Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland e. V. und 1982 die IGD hervor.

Ideologie/Ziele

Durchsetzung der Scharia | Der ideologische Ursprung der MB geht auf ihren Gründer Hasan al-Banna zurück. Zentrale Elemente der MB-Ideologie sind bis heute im Selbstverständnis zahlreicher islamistischer und islamistisch-terroristischer Organisationen präsent. Wesentlicher Bestandteil der MB-Ideologie ist die Durchsetzung der Scharia als Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie als wichtigste Grundlage des politischen und sozialen Lebens.

„Der Koran ist unsere Verfassung“ | Das Motto der MB lautet: „Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Allah ist unser nobelster Wunsch“. Ebenso wie sein Vorgänger Muhammad Mahdi Akif gehört Muhammad Badi, der „oberste Führer“ (arab. murshid amm) der MB, dem konservativen Lager der Organisation an. Er fordert von der arabischen Welt, die Verhandlungen mit Israel einzustellen und durch den „heiligen Jihad“ zu ersetzen.

Strukturen

Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE) | In Europa wird die streng hierarchisch organisierte MB durch die FIOE, einen europäischen Dachverband MB-naher Organisationen mit Sitz in Brüssel (Belgien) vertreten. Eigenen Angaben zufolge vereinigt die FIOE Organisationen aus 28 Staaten, darunter viele nationale Dachverbände.

Strukturen der IGD | In Deutschland ist die IGD mit Hauptsitz in Köln (Nordrhein-Westfalen) die mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern. Sie repräsentiert den ägyptischen Zweig der MB und ist seit ihrer Gründung Mitglied der FIOE. Der IGD sind bundesweit verschiedene Moscheegemeinden und sogenannte Islamische Zentren zuzuordnen, die formal von ihr unabhängig sind. In Hessen befanden sich solche Zentren in Frankfurt am Main und Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf).

RIG in Frankfurt am Main | Ähnlich wie der ECFR unter dem Vorsitz des MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi auf europäischer Ebene erhebt der RIG für Deutschland den Anspruch, als wissenschaftliche Autorität in Fragen der Koranauslegung für hier lebende Muslime zu fungieren. Der RIG, der seit 2004 mit Sitz in Frankfurt am Main besteht, ist sowohl organisatorisch als auch ideologisch der IGD nahe.

EIHW als Kaderschmiede für MB- und IGD-Funktionäre | 2012 wurde das EIHW mit Sitz in Frankfurt am Main nach dem Vorbild der Europäischen Institute für Humanwissenschaften in Großbritannien (European Institute of Human Sciences, EIHS) und in Frankreich (Institut Européen des Sciences Humaines, IESH) als Verein gegründet. 2013 nahm das EIHW seinen Lehrbetrieb auf. Der Verein wird durch den RIG und die IGD unterstützt. Als Schulungsstätte dient das EIHW der Verbreitung der MB-Ideologie und ist eine Kaderschmiede für MB- und IGD-Funktionäre.

Bewertung/Ausblick

Da sich die MB unverändert der Verfolgung durch den ägyptischen Staat ausgesetzt sieht, besteht die Gefahr, dass sich Einzelpersonen oder Kleingruppen, die mit dem legalistischen Kurs der MB nicht einverstanden sind, von der Organisation abspalten und eine gewaltorientierte Strategie einschlagen werden. Die Tatsache, dass die MB − aus ihrer Sicht − wegen der seit 2013 anhaltenden Exekutivmaßnahmen mit dem Rücken zur Wand steht, könnte diese Gefahr verstärken.

Ein wesentlicher Faktor für die weitere Entwicklung ist die Frage, ob die in Ägypten gegen MB-Funktionäre/-Mitglieder verhängten Todesurteile tatsächlich vollstreckt werden, was bisher nur in wenigen Fällen geschah. Sollte es jedoch zunehmend Hinrichtungen geben, ist sowohl in Ägypten als auch in Deutschland mit entsprechenden Protesten seitens der MB-Angehörigen und -Sympathisanten zu rechnen. Da sich die Maßnahmen der ägyptischen Regierung mittlerweile gegen etliche missliebige Personen − also nicht nur Islamisten − richten, ist es möglich, dass sich das Mobilisierungspotenzial der MB bei Solidaritätsbekundungen in Hessen erhöhen wird.

In Bezug auf die MB-nahen Vereine in Hessen ist davon auszugehen, dass sie ihre Angebote, insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, weiter ausbauen werden. Ziel ist das frühzeitige Heranführen an die MB-Ideologie und das Herstellen einer Bindung zur IGD als der Vertretung der MB in Deutschland. Dabei ist beabsichtigt, Anhänger der MB in möglichst einflussreiche gesellschaftliche Positionen zu positionieren.

Die Gründung eines Fatwa-Ausschusses in Deutschland, der sich maßgeblich am ECFR orientiert, ist als Institutionalisierung des Einflusses internationaler MB-Strukturen in Deutschland zu bewerten. Aufgrund der organisatorischen und personellen Verbindungen ist nicht auszuschließen, dass die islamistische Agenda der MB, die letztlich die Islamisierung der Gesellschaft anstrebt, auch Einzug in die Rechtsgutachten hält, was einer Integration von Muslimen in die Mehrheitsgesellschaft zuwiderliefe.

Millî-Görüş-Bewegung

Definition/Kerndaten

Abgebildet ist das Logo der Partei der Glückseligkeit. Auf rotem rechteckigem Untergrund befindet sich in der unteren linken Bildhälfte ein Halbmond in weißer Farbe. In der oberen rechten Bildhälfte befinden sich − der geöffneten Mondsichel zugewandt − fünf Sterne in unterschiedlicher Größe, ebenfalls in weißer Farbe. Unter der Bezeichnung Millî-GörüşBewegung fasst das LfV bestimmte islamistische Bestrebungen türkischen Ursprungs zusammen. Ihr verbindendes Element liegt in der grundlegenden Orientierung an der Ideologie der türkischen Bewegung Millî Görüş (nationale Sicht). Diese beruht auf den Ideen zur „Errichtung einer Großtürkei“ des Gründers der Bewegung, Necmettın Erbakan (1926 bis 2011). Zur MillîGörüş-Bewegung (etwa 1.400 Anhänger in Hessen, bundesweit rund 10.000) gehörten

  • der Landesverband Hessen der Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit),
  • die Ismail Aĝa Cemaati (IAC, Ismail-Aĝa-Gemeinschaft),
  • Teile der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG) und
  • die Millî Gazete (Nationale Zeitung), die Tageszeitung der Millî-GörüşBewegung.

Ereignisse/Entwicklungen

Die SP verfestigte ihre Strukturen in Hessen und ist seit Dezember ein eingetragener Verein. An Veranstaltungen mit hochrangigen europäischen und auch türkischen SP-Funktionären nahmen ehemalige IGMG-Anhänger teil. Während sich innerhalb der IGMG in Hessen Teilbereiche vom Islamismus abwendeten, blieben andere weiterhin der Ideologie Necmettın Erbakans verhaftet und sind der islamistischen Millî-Görüş-Bewegung zuzurechnen. Trotz der Ausweisung des für die IAC wichtigen Predigers Nusret Çayir wurden die Vortragsveranstaltungen per Live-Übertragung fortgesetzt und waren für IAC-Angehörige im Raum Frankfurt am Main zu empfangen.

Aktivitäten der SP | Die seit 2014 in Hessen aktive SP hielt im Dezember 2015 die Versammlung zur Gründung eines Landesverbands ab und ließ sich ein Jahr später als Saadet Deutschland Regionalverein Hessen mit Sitz in Frankfurt am Main ins Vereinsregister eintragen. Laut Satzung kann der Regionalverband durch Zweigstellen in Form von Ortsvereinen seine regionalen Vereinsstrukturen ausbauen. Die Vorstandsmitglieder werden für die Dauer von zwei Jahren vom Vorstand des SP-Regionalverbands Hessen oder der SP-Deutschland ernannt. Vorsitzender des Landesverbands ist Ibrahim Gümüşoğlu, der zugleich die Funktion des Vorsitzenden der Abteilung für Bildung und Erziehung der SP-Europa innehatte.

Die SP in Hessen führte zahlreiche Veranstaltungen durch, um neue Mitglieder zu werben und die Ideologie Erbakans zu vermitteln. Dabei griff die SP auf wichtige Repräsentanten wie ihren Vorsitzenden Ibrahim Gümüşoğlu, einem ehemaligen Mitglied der IGMG, und SPFunktionäre aus anderen europäischen Ländern sowie aus der türkischen Mutterpartei als Redner zurück. Bei der Erbakan-Gedenkveranstaltung der SP Hessen im Februar trat neben dem SP-Vorsitzenden aus Österreich der stellvertretende SP-Vorsitzende in der Türkei als Gast auf. Letzterer habe, so die Millî Gazete, Necmettın Erbakan als Führer und Staatsmann bezeichnet.

Im Zusammenspiel mit anderen der Millî-Görüş-Bewegung zugehörigen Gruppierungen zeigte sich die gemeinsame Ausrichtung an der Ideologie Erbakans. So trat ein in Europa bedeutender Wanderprediger der IAC im November bei einer Gebetsveranstaltung der SP-Hessen in Frankfurt am Main auf.

IGMG | Die IGMG war in der Gesamtheit ihrer Mitglieder nicht der Millî-Görüş-Bewegung zuzurechnen, da sich Teile der Organisation von der islamistischen Ideologie Erbakans abwendeten. Diese Abkehr berücksichtigten die Verfassungsschutzbehörden in ihrer Beobachtung der IGMG. Es lagen aber tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass einige Bereiche der IGMG der Millî-Görüş-Ideologie nach wie vor folgten und diese langfristig umsetzen wollten. Zu den Anhängern der Millî-Görüş-Ideologie gehörten der IGMG-Landesverband in Hessen und einige seiner Ortsvereine. Ihre Zugehörigkeit zur Ideologie Erbakans unterstrichen sie zum einen durch gemeinsame Aktivitäten mit der SP, zum anderen führten sie Veranstaltungen mit hochrangigen ehemaligen Funktionären der IGMG durch, etwa im Dezember, als der Ortsverein Limburg ein ehemaliges Mitglied des Vorstands der IGMG-Zentrale in Nordrhein-Westfalen als Gastredner einlud.

Die Verehrung Erbakans und seiner Ideologie wurde bereits im Kinder- und Jugendalter gefördert und nahm in den Jugendabteilungen der IGMG in Hessen einen hohen Stellenwert ein. So wurden ideologische Schulungen durchgeführt und bei verschiedenen Veranstaltungen an den Gründer der Bewegung erinnert.

Dass eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Teilen der Millî-Görüş-Bewegung bestand, zeigt zum Beispiel die Berichterstattung der erbakantreuen türkischen Tageszeitung Millî Gazete über die jährlich im Februar stattfindende Gedenkwoche anlässlich Erbakans Todestag, die auch in IGMG-Ortsvereinen in Hessen begangen wurde.

IAC | Nusret Çayir, das selbsternannte Oberhaupt der europäischen IAC-Gemeinde, hielt sich nach seiner Ausweisung im Oktober 2015 wahrscheinlich in der Türkei auf, seine Predigten wurden jedoch weiterhin in einer Moschee im Raum Frankfurt am Main per Live-Übertragung aus der Türkei vor Publikum übertragen. Zu diesen regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen, zu denen auch IAC-Anhänger aus anderen Bundesländern kamen, mobilisierte Çayir − wie vor seiner Ausweisung − mehrere hundert Anhänger. Seine Predigten waren nach wie vor von verfassungsfeindlichen und antisemitischen Elementen geprägt und propagierten die Einführung eines weltweiten Gottesstaats. Insgesamt standen in der IAC Verehrung, Huldigung und absoluter Gehorsam gegenüber ihren Führungsfiguren und dem in der Türkei lebenden spirituellen Oberhaupt, Mahmud Ustaosmanoğlu, im Vordergrund.

Entstehung/Geschichte

Versuch der Re-Islamisierung | 1969 gründete Necmettın Erbakan (1926 bis 2011) in der Türkei die Millî-GörüşBewegung und stellte sich damit gegen die vom Gründer der modernen Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk (1881 bis 1938), eingeführte Trennung von Staat und Religion. Auf diese Weise wollteErbakan die Säkularisierung des Landes rückgängig machen und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben erneut islamisieren.

1970 wurde als politische Vertretung der Millî-Görüş-Bewegung die Millî Nizam Partisi (MNP, Nationale Ordnungspartei) gegründet. 1973 verfasste Erbakan das für die Ideologie der Bewegung noch immer wegweisende Buch „Millî Görüş“. Über Parteiverbote und Parteineugründungen sowie ein zweimal verhängtes Politikverbot für Erbakan führte der Weg der Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei bis zur 2001 gegründeten und noch heute existenten Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit). Erbakan war in der Türkei mehrere Male stellvertretender Ministerpräsident und bekleidete 1996/97 das Amt des Ministerpräsidenten.

Millî-Görüş-Bewegung in Deutschland | 1976 entstand in Köln (Nordrhein-Westfalen) als Ableger der Millî-Görüş-Bewegung die Türkische Union Europa e. V. Sie benannte sich 1982 in Islamische Union Europa e. V. (IUE) um. 1984 kam es innerhalb der IUE zu Auseinandersetzungen über die politische Ausrichtung des Vereins. Als Folge gründete sich 1985 in Köln die Avrupa Millî Görüş Teşkilatları (AMGT, Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V.) als Nachfolgeorganisation der mittlerweile bedeutungslos gewordenen IUE.

Aus der AMGT gingen 1995 die Europäische Moscheebau und Unterstützungsgemeinschaft (EMUG) und die IGMG hervor. Organisatorisch waren beide in einen wirtschaftlichen und einen ideellen Bereich getrennt. Aufgabe der EMUG ist die umfangreiche Grundstücksverwaltung und Betreuung der AMGT- und IGMG-Vereine. Die IGMG ist auf die religiösen Belange ihrer Mitgliedsvereine ausgerichtet. Viele Moscheevereine änderten in der Folge den Namenszusatz AMGT in IGMG. Die Zugehörigkeit zur Millî-Görüş-Bewegung blieb jedoch erhalten und zeigte sich oftmals auch in personellen Überschneidungen von AMGT und IGMG.

SP als Repräsentantin der Millî-Görüş-Bewegung | Auf politischer Ebene vertritt die von Necmettın Erbakan gegründete SP die Millî-Görüş-Bewegung in der Türkei. Die SP entstand 2001 aus der verbotenen Fazilet Partisi (FP, Tugendpartei) Erbakans, aus der damals auch die jetzige türkische Regierungspartei AKP hervorging. Der Einfluss der SP auf die politische Willensbildung im Land ist aufgrund ihres geringen Wählerpotenzials kaum wahrnehmbar. Obwohl sich die AKP mit der Zeit von der ursprünglichen Ideologie der Millî-Görüş-Bewegung distanzierte, verbindet sie mit der SP dieselben konservativen Wurzeln.

IAC | Die IAC ist der Bruderschaft der Naqshbandiya zuzuordnen, die im 14. Jahrhundert in Zentralasien entstand. Ihr Gründer, Baha‘ ad-Dîn Naqshbandî (1318 bis 1389) aus Buchara (Usbekistan), steht in einer Reihe sogenannter Meister in Zentralasien, die mystische Gemeinschaften gründeten. Die sunnitische Naqshbandiya entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten dabei zur bedeutendsten Bruderschaft und ist heute weltweit verbreitet. Ihr Handeln beruht auf einer religiös geprägten Lebensführung, wobei eine enge emotionale Bindung zwischen Schüler und Meister besteht. Unter anderem durch spezielle Meditationstechniken sucht der Schüler die unmittelbare mystische Gotteserfahrung. So versucht der Schüler durch schweigendes Denken an Allah (arab. dhikr) diesem so nahe wie möglich zu kommen.

Obwohl 1925 durch Atatürk verboten, spielte die Naqshbandiya-Bruderschaft im religiösen Leben in der Türkei eine bedeutende Rolle. Necmettın Erbakan und das in der Türkei lebende spirituelle Oberhaupt der Bruderschaft, Scheich Mahmud Ustaosmanoĝlu, pflegten engen Kontakt zu dem einflussreichen türkisch-sunnitischen Naqshbandiya-Scheich Mehmet Zaid Kotku (1897 bis 1980) und wurden durch ihn geprägt. Kotku war eine der führenden Personen des Naqshbandiya-Ordens.

Ideologie/Ziele

Gemäß Erbakans Grundsätzen gibt es in der Welt eine gerechte (türk. adil düzen) und eine nichtige Ordnung (türk. batıl düzen). Ziel müsse es sein, die schlechte, tyrannische, auf menschlicher Willkür gründende und daher vergängliche, Ordnung durch die gute, von Allah vorgegebene und angeblich auf Wahrheit fußende, Ordnung zu überwinden. Dies sei allein durch die Millî Görüş zu erreichen, die die Verwirklichung dieser Gedanken in der Türkei propagiert, wo eine islamische Staats- und Gesellschaftsordnung nach den Grundlagen von Koran und Sunna geschaffen werden soll. Die Millî-Görüş-Bewegung verbindet in ihrer Gesamtheit einen universalen türkisch-nationalistischen mit einem islamistischen Ansatz.

Strukturen

SP | Seit einigen Jahren entstehen deutschlandweit Ableger der SP, die versuchen, ihr Wählerpotenzial in Deutschland zu aktivieren, damit die Politik der Mutterpartei in der Türkei unterstützt wird. Die Partei ist auf Wählerstimmen in Deutschland angewiesen, da sie bei den letzten Parlamentswahlen in der Türkei im November 2015 lediglich 0,7 % der Stimmen erhielt.

IAC | Feste Vereinsstrukturen der IAC gab es in Hessen nicht, sie war lediglich im Rahmen regelmäßig stattfindender Veranstaltungen aktiv.

IGMG | Die IGMG als weltweit verbreitete Organisation verfügte über 520 Moscheevereine in 34 Regionalverbänden, von denen jedoch nur ein Teil als islamistisch einzustufen ist. In Deutschland zählte dieser Teil der IGMG zu den mitgliederstärksten islamistischen Organisationen im legalistischen Bereich.

In Hessen waren neben zwölf Ortsvereinen auch der Landes-, Frauen- und Jugendverband sowie die studentische Vereinigung UNICOM der islamistischen Millî-Görüş-Bewegung zuzurechnen. Innerhalb dieses Beobachtungsobjekts gehörten der IGMG in Hessen etwa 1.300 Personen an.

Millî Gazete | Die türkische Tageszeitung Millî Gazete, deren Zentrale für die Europaausgabe sich in Frankfurt am Main befindet, fungierte als Sprachrohr insbesondere der IGMG, seit einiger Zeit jedoch auch der SP im In- und Ausland. In ihrem Selbstverständnis sieht sich die Millî Gazete als einzige und unveränderliche Vertreterin der Millî-Görüş-Ideologie unter den Printmedien. In ihrem Namen führt die Millî Gazete − in deutscher Übersetzung − den Zusatz „die gerechte Ordnung wird kommen“. Die Zeitung bezeichnet in ihren Artikeln Necmettın Erbakan als Retter der Welt und preist dessen Ziel der Errichtung einer neuen Welt, in der der Islam als politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System wiederbelebt wird und über allen anderen Ordnungen steht.

Bewertung/Ausblick

Inwieweit die Eintragung der SP als Verein in Hessen einzelne Ortsverein- sowie Jugend- und Frauenvereinsgründungen nach sich ziehen wird, so wie dies in der Vergangenheit bei der IGMG der Fall gewesen war, muss abgewartet werden. Die Anzahl der Aktivitäten der SP blieb im Vergleich zu 2015 unvermindert hoch. Es ist davon auszugehen, dass die SP ihre Anstrengungen im Bereich der ideologischen Schulungen − speziell für Jugendliche − ausbauen sowie Seminare und Konferenzen für Frauen einführen wird. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass die ideologische Grundlinie der unterschiedlichen Millî-Görüş-Bereiche auch weiterhin betont und durch gegenseitige Besuche der Angehörigen dieser islamistischen Bewegung verfestigt werden wird.

Mit dem ungebrochenen Fortführen der Predigtveranstaltungen ihres Oberhaupts Nusret Çayir via Live-Übertragung aus dem Ausland regierte die IAC-Gemeinde in Hessen flexibel auf die neue Situation nach der Ausweisung ihres Oberhaupts. Nach wie vor übten die Predigten auf die IAC-Anhänger eine große Anziehungskraft aus.

Türkische Hizbullah (TH)

Definition/Kerndaten

Nachdem Angehörige der TH in den 1990er Jahren zahlreiche Morde und andere Gewalttaten begangen hatten, zerschlug der türkische Staat die Terrorgruppe 1999/2000. Dabei wurde der TH-Anführer Hüseyin Velioğlu in einem Feuergefecht mit der Polizei getötet. Durch Flucht nach Westeuropa (unter anderem nach Deutschland, Österreich, Italien und in die Schweiz) entzogen sich TH-Aktivisten den staatlichen Maßnahmen in der Türkei. Einzelne Führungsaktivisten sollen sich in den Iran abgesetzt haben. TH-Angehörige nutzen Deutschland seitdem als Rückzugsraum, um sich personell und logistisch zu reorganisieren. Die Aktivisten sammeln hier vor allem Spenden und vertreiben Publikationen. Die letzte bekannt gewordene Gewalttat der TH in der Türkei, bei der sechs Polizisten getötet wurden, ereignete sich 2001. Nicht zu verwechseln ist die sunnitische TH mit der schiitisch orientierten Hizb Allah (Partei Gottes) im Libanon.

Anhänger/Mitglieder: In Hessen etwa 140, bundesweit etwa 400
Medien (Auswahl): Doğru Haber (Wahre Nachricht), İnzar (Warnung) und das Kindermagazin Çocuk (Kind)
Abgebildet ist das Logo der Türkischen Hizbullah mit dem entsprechenden arabischen Schriftzug, unter dem in Großbuchstaben steht: Hizbullah Cemaati.

Ereignisse/Entwicklungen

Das bedeutendste Ereignis für die TH-Vereine in Hessen war die Ausrichtung der Europaveranstaltung zur Feier der Heiligen Geburt des Propheten Mohammed (türk. Kutlu Doğum). Daran nahmen mehrere hundert Teilnehmer aus dem In- und Ausland teil. Einen Schwerpunkt in den TH-Vereinen bildete wie in der Vergangenheit die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Neben den jährlichen Spenden- und Sammeltätigkeiten für TH-nahe Organisationen fand in Wiesbaden die jährliche Gedenkfeier für den TH-Gründer Hüseyin Velioğlu statt.

Schwerpunkt Wiesbaden | Unter den TH-nahen Moscheevereinen war die Moscheegemeinde in Wiesbaden – bedingt auch durch die Ausrichtung mehrerer Veranstaltungen – besonders aktiv. Die Moschee wurde auch von Funktionären der TH-nahen kurdischen Partei Hüra Dava Partisi (Hüda Par, Partei der rechtsgeleiteten Sache) besucht.

Im Januar wurde in der Moschee in Wiesbaden dem TH-Gründer im Rahmen einer Veranstaltung mit folgenden Worten (in deutscher Übersetzung) gedacht:

„Unsere Aufgabe besteht darin, uns für die Sache einzusetzen und sie fortzusetzen. […] Ist dieser Kampf durch den Tod des letzten Propheten Mohammed unterbrochen worden? Natürlich nicht. […] Neben vielen Märtyrern, die keine anderen Ziele hatten, als die erneute Einführung der Religion Allahs und die Erlangung des Willen Allahs, haben auch der Märtyrerführer Hüseyin Velioğlu und seine Weggefährten alles für Allah gegeben. […] Unsere Aufgabe besteht darin, ihre Sache dort, wo sie aufgehört haben, zu übernehmen, sie fortzusetzen“.

Am 27. März übernahm der Verein in Wiesbaden die wesentliche Organisation und Mitgestaltung der jährlich stattfindenden zentralen Feier der TH anlässlich der Geburt des Propheten Mohammed in Hofheim am Taunus (Main-Taunus-Kreis). Hatten die Kutlu-Doğum-Veranstaltungen in Hessen bislang meist regionalen Charakter, so war die diesjährige Feier mit prominenten TH-Rednern hochkarätig besetzt. Hunderte Personen aus dem TH-Spektrum waren aus Frankreich, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Belgien und Großbritannien angereist.

Entstehung/Geschichte

Islamistischer Gegenentwurf zur Partiya Karkerên Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) | Im Raum Diyarbakır, der Hochburg der PKK, entstand in der Stadt Batman im Südosten der Türkei die TH, als sich in den 1980er Jahren muslimische Kurden zu einer Organisation zusammenschlossen. Als islamistischer Gegenentwurf zur PKK kämpfte die TH zwischen Ende der 1980er und Mitte der 1990er Jahre gewaltsam sowohl gegen die damals säkular-linksextremistisch ausgerichtete kurdische Terrororganisation als auch gegen den türkischen Staat. Dabei folterten und töteten TH-Angehörige mehrere hundert Menschen. Intern bekämpften sich zwei miteinander verfeindete Lager der TH mit Gewalt, wobei die mit der ägyptischen MB sympathisierende Ilim-Gruppe schließlich die Oberhand behielt. Insgesamt werden der TH eine Vielzahl von Morden – unter anderem an liberalen türkischen Journalisten, Staatsvertretern und „Verrätern“ aus den eigenen Reihen – sowie Folterungen zur Last gelegt.

Aktivisten im Untergrund | Im Verlauf umfassender Exekutivmaßnahmen des türkischen Staats gegen die TH wurde im Jahr 2000 in Istanbul (Türkei) der TH-Führer Hüseyin Velioğlu getötet. Funktionäre wurden festgenommen und seitdem mehrere tausend TH-Angehörige verhaftet. 2011 wurden in der Türkei aufgrund einer Gesetzesänderung zahlreiche TH-Funktionäre unter gerichtlichen Meldeauflagen aus der Haft entlassen. Der größte Teil ist seitdem untergetaucht. Ihren militärischen Flügel baute die TH mittlerweile neu auf, sie bildete neue Kämpfer aus und beschaffte sich erneut Waffen und Sprengstoff.

Ideologie/Ziele

Schaffung eines islamischen Gottesstaats | Ziel der TH ist es, in der Türkei einen islamischen Gottesstaat zu errichten und diesen auf die gesamte Welt auszudehnen. Die „westliche“ Welt, insbesondere die USA und der Staat Israel, zählen zu den Feindbildern der TH. Die Anwendung von Gewalt hält die TH grundsätzlich für gerechtfertigt. In der im Jahr 2004 veröffentlichten Schrift „Die Hizbullah in eigenen Worten“ (türk. Kendi Dilinden Hizbullah) beschreibt die TH ihre Ziele wie folgt:

„Tausendfacher Dank an Gott, der uns die Hizbullah-Gemeinde und die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde geschenkt hat, die sich auf das Kampffeld begeben hat, um die Herrschaft des Islam überall zu verbreiten. […] Mit dem Wunsch eine vereinte islamische Umma zu gründen, in der […] die göttliche Gerechtigkeit herrscht und die Hadd-Strafen gelten, haben wir das Kämpfen für diesen Glauben und dieses Ziel als unser islamisches Bekenntnis und als eine Notwendigkeit des Islam nach dem Verständnis des Propheten betrachtet. Für solch eine heilige Mission zu kämpfen, Schmerz und Folter zu erdulden und sogar als Märtyrer zu sterben, haben wir als eine Ehre empfunden. Auch in der Zukunft werden wir dieser heiligen Mission und diesen Werten verbunden bleiben und es als Ehre und Würde empfinden, dafür zu kämpfen“.

Strategiewechsel seit 2000 | Neue Gewalttaten macht die TH von dem „Erfolg“ ihres Strategiewechsels abhängig: In der Türkei will sie sich als einflussreiche gesellschaftliche Organisation etablieren und sich hierdurch steigende politische Unterstützung sichern. Hierfür intensiviert sie – ähnlich wie die HAMAS im Nahen Osten – ihre Anstrengungen unter anderem im sozialen Bereich und verzichtet in ihrer Außendarstellung auf Gewalt. Mit Spendenkampagnen im Rahmen von Notsituationen versuchte die TH Einfluss zu gewinnen.

Antisemitische und antiwestliche Propaganda in TH-Publikationen | Die ideologischen Leitlinien der TH, insbesondere antisemitische und antidemokratische Äußerungen, finden regelmäßig Eingang in Magazine, die der TH nahe stehen oder dieser zuzurechnen sind. So ist zum Beispiel in der Zeitschrift Doğru Haber zu lesen:

„Sie [i. e. die Götzendiener] beschimpften uns mit den Worten wie Demokratie, Laizismus, Freiheit und Menschenrechte. […] Sie wollten den Juden dienen sonst gar nichts! Komm, Scharia, komm und zerschlage alle diese falschen Götter!“

Strukturen

Strukturen der TH bestanden außerhalb der Türkei in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Belgien, den Niederlanden und Frankreich. Deutschland diente dabei als Rückzugsraum zum finanziellen und personellen Aufbau der TH. Sie unterhielt in Deutschland – ebenso wie im Ausland – einige Moscheevereine, wobei die TH insgesamt straff organisiert ist. In Hessen bildete Wiesbaden den Schwerpunkt der Aktivitäten der TH.

Bewertung/Ausblick

Die besonders aktive Moscheegemeinde in Wiesbaden blieb − wie in den vergangenen Jahren − ein wichtiger Stützpunkt der TH in Hessen. Zu ihr zählt nicht nur ein enger Kreis von TH-Aktivisten, sondern sie hat in den letzten Jahren signifikant an Moscheebesuchern hinzugewonnen und damit, wie ihre Ausrichtung der Feier anlässlich der Heiligen Geburt des Propheten Mohammed zeigt, ihre überregionale Bedeutung offenbar ausgebaut.

Es ist damit zu rechnen, dass sich der verfassungsfeindliche und integrationshemmende Einfluss der TH-Ideologie insbesondere auf Kinder und Jugendliche in den TH-Vereinen in Hessen verstetigen wird. Da antisemitische, antiwestliche, antiisraelische und antiamerikanische Propaganda zum festen Bestandteil der TH-nahen Magazine gehören, ist von Seiten der Sicherheitsbehörden zudem darauf zu achten, ob sich entsprechende Einflüsse auch im Umfeld der TH-Vereine zeigen.

Bedeutung und Rolle des Antisemitismus im Islamismus

Antisemitismus ist ein fester Bestandteil in islamistischen Ideologien. Der Begriff steht für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als jüdisch geltenden Einzelpersonen oder Gruppen in verleumderischer und herabwürdigender Weise negative Eigenschaften unterstellen. Damit soll ihre Abwertung, Verfolgung oder gar Vernichtung gerechtfertigt werden. Mit Ausnahme der rassistischen Variante (Zuschreibung rassenbiologischer Negativmerkmale) sind alle Unterformen des vor allem rechtsextremistischen Antisemitismus im Islamismus nachweisbar. Dazu zählen der religiöse Antisemitismus („Gottesmord“), der soziale Antisemitismus („Zinswucher“, „Kontrolle der Finanzmärkte“), der politische Antisemitismus („jüdische Weltherrschaft“), der sekundäre Antisemitismus (Holocaustleugnung) sowie der antizionistische Antisemitismus (Verneinung des Existenzrechts Israels).

Muslimischer Antisemitismus? | Einhergehend mit der Zunahme antisemitischer Äußerungen und Straftaten von Muslimen in europäischen Ländern seit der zweiten Intifada (palästinensischer Protest gegen die israelische „Besatzung“ im Jahr 2000) wurde in der öffentlichen Debatte in Abgrenzung zum „klassischen Antisemitismus“ von einem „neuen“ oder auch „muslimischen Antisemitismus“ gesprochen. Mit diesem Begriff sollte verdeutlicht werden, dass diese antisemitische Agitation nicht vom rechtsextremistischen Spektrum ausgeht. Inwiefern dieser Begriff zutrifft, ist in der Wissenschaft umstritten, da es erhebliche strukturelle und inhaltliche Parallelen zum „klassischen“ europäischen Antisemitismus gibt.

Die genaue Ausgestaltung der antisemitischen Agenda innerhalb der islamistischen Ideologien ist dabei abhängig vom regionalen Schwerpunkt der jeweiligen Gruppierung sowie von deren Einstellung gegenüber der Anwendung von Gewalt. Dominierend in der islamistischen Propaganda insgesamt sind – mit der Behauptung, es gebe eine gezielt gegen den Islam gerichtete jüdische Weltverschwörung – der politische sowie der antizionistische Antisemitismus. Hier reicht das Spektrum der islamistischen Positionen von einer propagandistischen Verneinung des Existenzrechts Israels, die nicht mit Handlungen verknüpft wird, bis hin zur expliziten Benennung des Ziels, Israel zu vernichten (eliminatorischer Antizionismus) und der Durchführung gezielter terroristischer Anschläge auf Juden und jüdische Einrichtungen.

Historische Entwicklung: Vom arabischen Nationalismus zur „Islamisierung“ des Antisemitismus | Ähnlich wie zeitgleich in Europa bediente sich die arabische Nationalbewegung der 1920er und 1930er Jahre antisemitischer Stereotype. Durch diese Abgrenzung gegenüber „dem Juden“ als angeblich innerem und äußerem Feind sollte die Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft gestärkt werden. Dabei nahmen arabische Nationalisten unter anderem Bezug auf Vertreter des europäischen Nationalismus und des deutschen Nationalsozialismus. Die palästinensische Nationalbewegung, dominiert durch den Jerusalemer Mufti (islamischer Rechtsgelehrter) Amin al-Husseini (vermutlich 1893 geboren, verstorben 1974) beobachtete zum Beispiel mit Interesse die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten (1933) und suchte seit 1937 die Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Terrorregime. Abgebildet sind als Schwarz-Weiß-Fotografie Adolf Hitler und Amin el-Husseini, der Mufti von Jerusalem, beide sich auf Sesseln gegenüber sitzend, bei einem Zusammentreffen im November 1941 in der Reichskanzlei in Berlin.

Der Konflikt um Palästina und die Staatsgründung Israels (1948) nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkten in den arabischen Staaten die radikalisierte Wahrnehmung „des Juden“ als politischen Gegner und führten in den 1950er Jahren zu einer Flut antisemitischer Propaganda in den arabischen Staaten. Der Übergang von einem panarabisch-nationalistischen Antisemitismus hin zu einer islamistisch motivierten Judenfeindschaft vollzog sich mit der Zuspitzung des Palästina-Konflikts in den 1970er Jahren. Neu war hier die Rückbindung der aus dem europäischen Kontext bekannten antisemitischen Stereotype an die im Koran und in der Sunna überlieferten Vorstellungen von „Juden“.

In der wissenschaftlichen Forschung wird kontrovers über die Frage diskutiert, ob die antisemitische Agitation muslimischer Akteure auf den Import des europäischen Antisemitismus in die arabischen Staaten (insbesondere seit dem späten 19. Jahrhundert) zurückzuführen ist, oder ob es sich um ein Islam-immanentes Phänomen handelt. Aufgrund der genauen Betrachtung der Entwicklung von Antisemitismus-Formen in den arabischen Staaten vor dem Hintergrund der damals dominierenden sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhänge erscheint die These eines genuin „islamischen“ Antisemitismus nicht ohne Weiteres stichhaltig zu sein.

Bezugnahme auf religiöse Quellen und auf die Frühgeschichte des Islam | Islamistische Gruppen versuchen antisemitische Äußerungen durch den Bezug auf den Koran und das Leben des Propheten Mohammed zu legitimieren. Zur Zeit der Offenbarung des Koran im siebten Jahrhundert war das Judentum auf der arabischen Halbinsel stärker vertreten als das Christentum. Insbesondere in Medina, wohin Mohammed mit seiner Anhängerschaft im Jahr 622 von Mekka aus übergesiedelt war, lebten jüdische Stämme, gegen die er sich theologisch und politisch zu behaupten gezwungen sah. Der Koran spiegelt diese Machtkämpfe wider und enthält Suren, die Juden vorwerfen, den Bund mit Allah und den Muslimen gebrochen zu haben, das Wort Allahs zu verfälschen sowie betrügerisch und untreu zu sein. Darüber hinaus knüpfen Islamisten an die überlieferten „militärischen“ Konflikte Mohammeds mit den medinensischen Juden an.

Akteure des islamistischen Antisemitismus | Aufgrund der Vielzahl der islamistischen Akteure und entsprechender antisemitischer Propagandaformen werden im Folgenden verschiedene Beispiele angeführt. Die knappe Darstellung der Gruppierungen und ihrer antisemitischen Positionen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Nicht-gewaltorientierter Antisemitismus | Ideologischer Wegbereiter des modernen antisemitisch geprägten Islamismus (wie auch des militanten Islamismus) ist der Ägypter Sayyid Qutb (1906 bis 1966). In seiner Schrift „Unser Kampf mit den Juden“ versuchte er, das „subversive Wirken der Juden“ gegen „den Islam“ seit dem siebten Jahrhundert historisch zu rekonstruieren. Besonders aktiv verbreitete die 1924 gegründete MB antisemitische Propaganda während ihrer terroristischen Phase in den 1940er bis 1960er Jahren. Zentraler Bezugspunkt der antisemitischen Agitation ist der „Raub Palästinas“ durch „die Juden“ und die damit einhergehende Verneinung des Existenzrechts Israels. Obwohl die MB seit den späten 1970er Jahren im Hinblick auf die Durchsetzung ihrer politischen Ziele nicht mehr als gewaltorientiert gilt, rechtfertigt sie ausdrücklich die Gewalt von Palästinensern gegen Israelis.

Abgebildet sind Demonstranten, die während des al-Quds-Tags in Berlin an Holzstangen befestigte Plakate tragen. Auf einem Plakat steht: Terrorist Israel! Menschenfeind! Der wahre Menschenfeind. Auf einem anderen Plakat steht: Israelische Produkte nein danke!

In den Schriften des Ideologen und Gründers der Millî-Görüş-Bewegung, Necmettın Erbakan (1926 bis 2011), sind religiöse, politische, soziale, sekundäre und antizionistische Formen des Antisemitismus nachweisbar. Dies trifft auch auf Artikel der Tageszeitung Millî Gazete, die als Sprachrohr der IGMG gilt, zu. In Teilen unterliegt die IGMG der Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Allerdings wird nicht zur Gewalt gegen Juden oder zur Vernichtung des Staats Israel aufgerufen. In Deutschland verkaufte die IGMG in den Jahren 2005 und 2006 antisemitische Propagandalektüre auf „islamischen Buchmessen“.

Latenter und offener Antisemitismus ist auch bei Anhängern des politischen Salafismus zu beobachten. Wie bei anderen nicht-gewaltorientierten islamistischen Bestrebungen werden − abhängig von Prediger oder Veranstaltungsformat (zum Beispiel Demonstrationen für „Die Befreiung Palästinas“) – religiöse, politische und antizionistische Formen des Antisemitismus miteinander verwoben.

In der Islamischen Republik Iran ist Antisemitismus Bestandteil der Staatsideologie. Nach der „islamischen Revolution“ 1979 leitete der iranische Revolutionsführer Ruhollah Musawi Khomeini (1902 bis 1989) einen antiisraelischen Kurs des Regimes ein, indem er Israel als „Feind des Islam“ bezeichnete und zur Zerschlagung des Staats Israel aufforderte. Anlässlich des Aufrufs zur „islamischen Befreiung“ Jerusalems begründete Khomeini den al-Quds-Tag (Jerusalem-Tag), der jährlich im Oktober unter anderem in Berlin in Form von Demonstrationen begangen wird und im Jahr 2015 erstmals auch in Frankfurt am Main stattfand.

Kurz nach seiner Wahl im Jahr 2005 hatte der damalige Präsident Mahmud Ahmedinejad zur Vernichtung Israels aufgerufen und gefordert, das Regime, das Jerusalem besetzt halte, müsse aus den Geschichtsbüchern eliminiert werden. Obgleich sich aktuell antisemitische und antizionistische Äußerungen unter iranischen Religionsgelehrten fortsetzen, bemüht sich die gegenwärtige Regierung um eine Kehrtwende in der Haltung gegenüber Israel und stimmt zunehmend versöhnliche Töne an.

Gewaltorientierter Antisemitismus | Zu den Zielen der 1953 in Jordanien gegründeten panislamischen Hizb ut-Tahrir (HuT) zählt neben der Errichtung eines weltumspannenden Kalifats und dem Sturz „unislamischer“ Regierungen die Auslöschung des Staats Israel. Entsprechende Propaganda wird besonders aggressiv formuliert und religiös legitimiert: „Juden […] sind ein Volk der Lügen […]. Sie […] töten Propheten und Unschuldige und sind die größten Feinde der Gläubigen. Allah untersagte uns, sie zum Freund zu nehmen“. „Ihr sollt das hässliche Judengebilde vernichten […]. Tut ihr dies, werden eure Taten sowohl im Diesseits als auch im Jenseits in leuchtenden Buchstaben verzeichnet werden“. In Deutschland belegte das Bundesministerium des Innern die HuT 2003 wegen der Verneinung des Existenzrechts Israels sowie wegen massiver judenfeindlicher Hetze mit einem Betätigungsverbot, weil sie sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung wendete.

Auch die 1987 im Gaza-Streifen gegründete HAMAS negiert das Existenzrecht Israels und strebt die „Befreiung ganz Palästinas“ durch den bewaffneten Kampf an. In der Charta (1988) der HAMAS werden eine Vielzahl von Antisemitismus-Formen transportiert und Aussagen im Koran über Konflikte zwischen Juden und Muslimen in der Frühzeit des Islam mit der Politik des Staats Israel und der Situation der Palästinenser in der Gegenwart verknüpft. Für die eliminatorischen Züge des Antizionismus der HAMAS steht die seit 1994 von ihr verfolgte Gewaltstrategie, zu der Selbstmordattentate ebenso wie das Abfeuern von Raketen auf israelisches Staatsgebiet gehören.

Die Vernichtung Israels ist fester Bestandteil der Ideologie der schiitischen Hizb Allah (Partei Gottes), die 1982 gegründet wurde, nachdem israelische Truppen in den Libanon einmarschiert waren, um dort eine Sicherheitszone wegen der anhaltenden Angriffe palästinensischer Terroristen zu schaffen. Unterstützt durch Syrien und den Iran, orientiert sich die Hizb Allah an dem 1979 vom iranischen Revolutionsführer Khomeini propagierten antiisraelischen Kurs der Islamischen Republik Iran. Über ihren Fernsehsender al-Manar (dt. der Leuchtturm), der in Deutschland seit 2008 verboten ist, verbreitet die Hizb Allah weltweit antisemitische Propaganda, verherrlicht eigene „erfolgreiche“ Anschläge gegen Israel und popularisiert eine Ideologie des „Widerstands“, die politischen Aktivismus und eine spezifisch schiitische Leidensmythologie mit-einander verbindet. Die Hizb Allah ist seit 1992 im libanesischen Parlament vertreten und verfügt im Süden des Landes über staatsähnliche Strukturen.

Die Bekämpfung „der Juden“ ist auch ideologischer Bestandteil der Ende der 1980er von Usama Bin Laden (1957 bis 2011) gegründeten sunnitisch-jihadistischen Terrororganisation al-Qaida. So wurden 1998 in einem Aufruf der Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler Angriffe auf Juden weltweit ausdrücklich gerechtfertigt. Die Zerstörung Israels wurde unter dem Schlagwort der „Befreiung Palästinas“ erst nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 – wahrscheinlich aufgrund der Zunahme des Einflusses palästinensisch-stämmiger Jordanier in der Terrororganisation – ein wichtiges Fernziel. Al-Qaida verübte zahlreiche Anschläge auf jüdische Einrichtungen außerhalb Israels wie zum Beispiel auf eine Synagoge in Djerba (Tunesien) im Jahr 2002. In Deutschland vereitelten Sicherheitsbehörden im selben Jahr Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Berlin und Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen), die von der Gruppe al-Tauhid geplant worden sein sollen, die damals al-Qaida im Irak nahestand.

Im November 2015 rief Dr. Aiman al-Zawahiri, seit dem Tod Usama Bin Ladens dessen Nachfolger als Anführer von Kern-al-Qaida, in einer Videobotschaft die Mujahidin der unterschiedlichen Gruppierungen dazu auf, ihre Konflikte beizulegen und sich gemeinsam für die „Befreiung Jerusalems“ einzusetzen. Darüber hinaus lobte al-Zawahiri die damaligen Messer-Angriffe von Palästinensern auf Juden in Israel.

Auch der IS ruft in seiner Propaganda zur Tötung von Juden auf. In einer Serie von Videos reagierte der IS im Herbst 2015 auf die Angriffe von Palästinensern auf Juden in Israel und forderte dazu auf, diese Art von Angriffen mit Messern, Autos und Bomben fortzusetzen bis „Jerusalem von den Juden befreit“ sei. In der entsprechenden Serie von Videoveröffentlichungen verband der IS religiösen mit politischem Antisemitismus und sprach von einer religiös begründeten Feindschaft zwischen Muslimen und Juden, wobei er letztere als am Unheil auf der Welt schuldige „Mörder von Propheten“ diffamierte. Der einzige Weg, „die Juden“ zu besiegen, sei ein geeinter Jihad unter der Fahne des IS. Zuvor hatten einzelne Jihadisten, die sich zum IS bekannten, Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Europa verübt. So erschoss ein Attentäter am 9. Januar 2015, zwei Tage nach dem Terroranschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo, in einem jüdischen Supermarkt in Paris vier Menschen und nahm die Überlebenden als Geiseln. In einem Telefonat mit einem französischen Fernsehsender gab der Täter an, dass er Teil des „islamischen Staats“ sei und „Juden“ attackieren wolle. Am 15. Februar 2015 schoss ein Attentäter (nach seinem Angriff auf eine Kultureinrichtung einen Tag zuvor) auf das Sicherheitspersonal einer Synagoge in Kopenhagen (Dänemark). Dabei kamen insgesamt zwei Menschen ums Leben, zwei Polizisten wurden verletzt.

Abgebildet ist das Logo der Phänomenübergreifenden wissenschaftlichen Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Unter anderem vor dem oben beschriebenen Hintergrund wurde im LfV Hessen die Phänomenbereichsübergreifende wissenschaftliche Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (PAAF) eingerichtet. Hinzu kommt, dass sich der starke Zustrom von Flüchtlingen wie kaum eine andere gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre auf die unterschiedlichen extremistischen Phänomenbereiche aus-wirkt: Rechtsextremisten stellen das Thema Asyl ins Zentrum ihrer politischen Agitation, immer wieder kommt es zu Übergriffen auf Asylunterkünfte und ihre Bewohner. Unter den Flüchtlingen findet sich neben der Mehrheit der moderaten Muslime auch eine Minderheit gewaltbereiter Islamisten, die unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung den Kampf angesagt haben. Angesichts dessen, dass wissenschaftlichen Studien zufolge über 70 Prozent der im arabischen Raum beheimateten Muslime antisemitische Einstellungen vertreten, kommt außerdem der Frage nach einer möglichen Zunahme des Antisemitismus in Deutschland Bedeutung zu.

Die Analysestelle nimmt sich der skizzierten Fragen und Entwicklungen systematisch an. Eine besondere Stärke liegt dabei in der Verbindung sicherheitsbehördlicher Erkenntnisse und Perspektiven mit aktuellen sozialwissenschaftlichen Analyseansätzen und -methoden. Die Ergebnisse dienen nicht nur der internen Beratung, sondern sollen auch zivilgesellschaftlichen Akteuren und einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.

In einem ersten Forschungsprojekt wurden antisemitische Nutzer-Kommentare in den sozialen Medien analysiert, insbesondere im Hinblick darauf, in welchem Maße diese rechtsextremistisch und in welchem Maße diese islamistisch motiviert sind.

Unter www.verfassungsschutz.hessen.de/paaf finden Sie außerdem Informationen zu aktuellen Projekten und Fortbildungsangeboten der Analysestelle.

Sonstige Beobachtungsobjekte

Im Folgenden werden weitere relevante Beobachtungsobjekte aufgeführt. Die Auflistung ist nicht abschließend.

Al-Qaida (die Basis) | Die sunnitische Terrororganisation entstand während der sowjetischen Besatzung Afghanistans (1979 bis 1989). Nach dem Tod des Gründers und Anführers Usama Bin Laden (1957 bis 2011) übernahm Aiman al-Zawahiri die Führung al-Qaidas (Kern-al-Qaida).

Nach wie vor bestand im Berichtsjahr eine Konkurrenz zwischen al-Qaida und dem IS, da beide Terrororganisationen die Führerschaft im internationalen Jihad beanspruchten. So schloss sich die Islamische Bewegung Usbekistans (IBU) dem IS an, während die Islamische Jihad Union (IJU) weiterhin die ideologisch al-Qaida nahestehenden Taliban in Afghanistan unterstützte. Auf der Seite al-Qaidas standen weiterhin al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAH), al-Qaida im islamischen Maghreb (AQM) und die Terrororganisation al-Shabab in Ostafrika. In seinen Veröffentlichungen sprach al-Zawahiri dem IS die theologische Legitimität eines „islamischen Kalifats“ ab und bezeichnete anlässlich des 15. „Jahrestags“ der Terroranschläge des 11. September die Angriffe als Rache für das angeblich erlittene Leid der Muslime. In diesem Zusammenhang kündigte al-Zawahiri neue Anschläge gegen die USA an.

Im Internet verbreitete AQAH das englischsprachige Magazin Inspire, um für den weltweiten Jihad zu werben und bekämpfte im jemenitischen Bürgerkrieg sowohl die schiitischen Huthi-Rebellen als auch die Regierungstruppen. Nachdem AQAH im Jahr 2015 Hadramaut, die größte Provinz im Jemen, erobert hatte, vertrieben die jemenitische Armee und die Militärkoalition unter der Führung Saudi-Arabiens die Terroristen im April 2016 aus der Hafenstadt Mukalla. Bei den Kämpfen um die größte Stadt der Provinz wurden etwa 800 AQAH-Angehörige getötet. AQAH hatte sich 2015 zu dem Anschlag auf die Redaktionsräume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris (Frankreich) bekannt und bildet den gefährlichsten Zweig des al-Qaida-Terrornetzwerks.

Jabhat al-Nusra li-Ahl al-Sham (JaN, Hilfsfront für die Menschen Syriens) | Am 28. Juli gab die JaN in einer Videobotschaft bekannt, dass sie sich fortan als Jabhat Fatah al-Sham (JFS, Eroberung der syrischen Front) bezeichnet. Abu Muhammad al-Jaulani, der Anführer der Terrorgruppe, erklärte, dass man nicht mehr in Verbindung zu der Führung von al-Qaida stehe und nunmehr eine neue Front bilden und verschiedene Jihadisten-Gruppen vereinigen werde.

Die Trennung war monatelang mit al-Qaida besprochen worden und resultierte unter anderem aus einem zunehmenden Akzeptanzverlust der JaN als Dachorganisation bei säkularen und moderaten Rebellengruppen. Letztere waren mit der von al-Qaida dominierten Agenda der JaN nicht mehr einverstanden; die Meinungsverschiedenheiten über die ideologische Ausrichtung führten aber auch innerhalb der JaN-Führung zu Streit. Darüber hinaus geriet die Terrorgruppe unter Zugzwang, weil amerikanische und russische Streitkräfte die JaN – neben dem IS – als Ziel für Luftangriffe festlegten.

Hinter der Entscheidung, die Verbindung zu al-Qaida zumindest vordergründig zu kappen, standen Machtinteressen und strategische Ziele: Zum einen war nun ein Großteil der vormals kritischen syrischen Rebellengruppierungen von der ideologisch-organisatorischen Lossagung von al-Qaida überzeugt und verblieb in dem Bündnis. Zum anderen konnte JaN in Gestalt von JFS den al-Qaida-Plan weiterhin verfolgen, lokal mit dem syrischen Widerstand zu verwachsen und − als „Widerstandsgruppierung“ getarnt − die Rahmenbedingungen für die Etablierung eines Emirats nach den Vorstellungen al-Qaidas umzusetzen.

Die von Abu Muhammad al-Jaulani angeführte JaN war als syrischer al-Qaida-Ableger 2011 aus dem damaligen Islamischen Staat im Irak (ISI), der sich 2013 in Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISI) und 2014 in Islamischer Staat (IS) umbenannte, hervorgegangen. Nachdem Abu Bakr al-Baghdadi 2013 durch die Ausrufung des „islamischen Staats im Irak und Syrien“ die überregionale Vormachtstellung für den IS beanspruchte und von der JaN verlangte, sich seinem Befehl zu unterstellen, kam es zum Bruch zwischen den seitdem miteinander konkurrierenden jihadistischen Gruppierungen. Infolgedessen verkündete Abu Mohammad al-Jaulani weiterhin dem Anführer al-Qaidas, Aiman al-Zawahiri, zu folgen. Als al-QaidaAbleger verschreibt sich JFS unverändert dem Ziel, langfristig ein ewig währendes „islamisches Kalifat“ zu errichten, das sich über alle muslimischen Länder erstrecken und weltweit ausdehnen soll.

Al-Shabab (die Jugend) | Ziel des somalischen al-Qaida-Ablegers ist die Errichtung eines „Kalifats“ in Somalia unter Einbeziehung der benachbarten Republik Dschibuti an der ostafrikanischen Küste und von Gebieten, die zu Äthiopien und Kenia gehören. Aufgrund des verstärkten Militäreinsatzes der Afrikanischen Union (AU) und mithilfe des internationalen Truppenkontingents der African Union Mission in Somalia (AMISON) war es gelungen, al-Shabab im Jahr 2012 aus der Hauptstadt Mogadischu und weiteren Gebieten in Somalia zu vertreiben. Trotzdem verübte die Terrormiliz al-Shabab Anschläge in Mogadischu, die zahlreichen Menschen das Leben kosteten. Insbesondere von Regierungsbeamten und Geschäftsleuten besuchte internationale Hotels waren bevorzugte Anschlagsziele. In den von ihr beherrschten Gebieten Somalias wandte al-Shabab die Scharia an und ging dabei ähnlich grausam vor wie der IS in Syrien. Al-Shabab verfügte in Deutschland über keine organisierte Unterstützungsstruktur, Sympathisanten gab es jedoch in Nordrhein-Westfalen und Hessen.

Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main verurteilte am 7. Juli fünf deutsche Staatsangehörige wegen Beteiligung an der ausländischen terroristischen Vereinigung al-Shabab zu Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und fünf Jahren sowie einen weiteren − ebenfalls deutschen − Angeklagten wegen des Versuchs der Beteiligung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Alle Verurteilten gehörten der islamistischen Szene in Bonn (Nordrhein-Westfalen) an. Zudem eröffnete der Staatsschutzsenat am 21. Oktober das Hauptverfahren gegen ein weiteres mutmaßliches Mitglied der al-Shabab.

Hizb Allah (Partei Gottes) | Das Ziel der Anfang der 1980er Jahre mit Unterstützung des Iran gegründeten schiitisch-islamistischen Organisation ist die Vernichtung Israels. Ihr politischer Arm ist Teil der libanesischen Regierung, der militärische Flügel ist für Angriffe auf Israel verantwortlich. Die in Deutschland (950) und Hessen (50) lebenden Anhänger der Organisation unterstützten diese insbesondere durch Spendensammlungen.

Kalifatsstaat | Unter Führung Cemaleddin Kaplans (1926 bis 1995) ging der Kalifatsstaat Mitte der 1990er Jahre aus dem Islami Cemaat ve Cemiyetler Birligi (ICCB, Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V.) mit dem Ziel hervor, in Deutschland einen auf der Scharia beruhenden islamischen Staat zu errichten. Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sah der Kalifatsstaat als legitim an. Kaplan ernannte sich selbst zum „Kalifen“. Nachdem sich unter seinem Nachfolger Metin Kaplan die Ideologie weiter radikalisierte, verbot 2001 und 2002 das Bundesministerium des Innern den Kalifatsstaat nebst 35 Teilorganisationen. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte die Verbote im November 2002. Seitdem agieren die verbliebenen Anhänger in Deutschland (700) und Hessen (60) konspirativ und streben die Reorganisation der zerschlagenen Struktur an. Es zeigt sich, dass vormalige Anhänger des Kalifatsstaats zum Teil in das salafistische Spektrum überwechseln. Die Konkurrenz des ideologisch verwandten Salafismus machte es Kalifatsstaats-Aktivisten zunehmend schwerer, neue Anhänger unter der jüngeren Generation zu gewinnen.

Nordkaukasische Separatistenbewegung (NKSB) | Mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre gründete sich im Kaukasus die Tschetschenische Republik Itschkeria (CRI). Ziel der NKSB ist es, einen von der Russischen Föderation unabhängigen, islamistischen Staat zu errichten. Im Jahr 2007 proklamierte Dokku Umarov, der damalige Präsident der CRI, das Kaukasische Emirat (KE), das mit terroristischen Mitteln für einen islamistischen Staat auf dem Gebiet des gesamten Nordkaukasus kämpfte. Diese Proklamation spaltete die Unabhängigkeitsbewegung in gewaltbereite KE- und gemäßigte CRI-Anhänger, wobei letztere ihre Bestrebungen auf legalistisch-politischem Wege zu erreichen suchen. Beide Gruppierungen werden unter dem Begriff der NKSB zusammengefasst.

Ziel des KE war bislang in erster Linie die lokale Bekämpfung der russischen Staatsmacht, indem es zahlreiche Anschläge verübte, die über Jahre hinweg etliche Todesopfer forderten. Deutschland diente bislang vor allem als Rückzugsraum zur finanziellen und logistischen Unterstützung der Organisation. Teile des KE im Kaukasus sowie Anhänger des KE in Deutschland wandten sich jedoch in den letzten Jahren vermehrt überregional aktiven salafistisch-jihadistischen Organisationen wie etwa dem IS zu, mehrere KE-Kommandeure legten einen Treueeid auf den IS ab. Hieraus entwickelte sich eine gegenseitige Konkurrenz, die sich verschärfte, als der IS im Jahr 2014 in einer Videobotschaft die „Provinz Kaukasus“ ausrief. Da sich sowohl das KE als auch der IS unter starkem Druck der russischen Behörden sehen, ist ein Zusammenschluss beider Organisationen möglich. In Hessen waren keine Strukturen, jedoch vereinzelt Akteure der salafistisch geprägten nordkaukasischen Szene feststellbar.

Straf- und Gewalttaten

Im Vergleich zum Vorjahr erhöhte sich die Anzahl der Straf- und Gewalttaten im Phänomenbereich Islamismus, wobei die Delikte überwiegend im Bereich Salafismus zu verorten waren. Der Anstieg resultierte ausschließlich aus Straftaten, die im Zusammenhang mit der Benutzung sozialer Medien begangen wurden. So wurden etwa islamistische Texte und Sprachnachrichten an Einzelpersonen und Organisationen verschickt, die Drohungen enthielten. (Siehe im Glossar und Abkürzungsverzeichnis unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität zur Erfassung politisch motivierter Straf- und Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.)

Abgebildet ist die Tabelle islamistische Straf- und Gewalttaten in Hessen. In der linken Spalte steht die Deliktart. Die weiteren drei Spalten enthalten Zahlenangaben zu den Deliktarten jeweils für die Jahre 2016, 2015 und 2014 .
In den Jahren 2016, 2015 und 2014 gab es keine Tötung.
In den Jahren 2016, 2015 und 2014 gab es keine versuchte Tötung.
In den Jahren 2016 und 2015 gab es keine Körperverletzung, im Jahr 2014 gab es eine.
Im Jahr 2016 gab es kein Delikt im Bereich Brandstiftung/Sprengstoffdelikte, im Jahr 2015 gab es ein Delikt, im Jahr 2014 gab es kein Delikt.
In den Jahren 2016, 2015 und 2014 gab es kein Delikt im Bereich Landfriedensbruch.
In den Jahren 2016, 2015 und 2014 gab es kein Delikt im Bereich gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luft und Straßenverkehr.
In den Jahren 2016, 2015 und 2014 gab es kein Delikt Im Jahr 2016 im Bereich Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte.
Insgesamt gab es im Jahr 2016 im Bereich dieser Gewalttaten kein Delikt, im Jahr 2015 ein Delikt und im Jahr 2014 ein Delikt.
Darüber hinaus kam es zu weiteren, sogenannten sonstigen Straftaten.
Im Jahr 2016 gab es ein Delikt im Bereich Sachbeschädigung, im Jahr 2015 gab es 3 Delikte, im Jahr 2014 gab es ein Delikt.
Im Jahr 2016 gab es zehn Delikte im Bereich Nötigung/Bedrohung, im Jahr 2015 gab es kein Delikt, im Jahr 2014 gab es ein Delikt.
Im Jahr 2016 gab es 51 Delikte im Bereich andere Straftaten, im Jahr 2015 gab es 50 Delikte, im Jahr 2014 gab es 66 Delikte.
Insgesamt betrug die Anzahl der islamistischen Straf- und Gewalttaten in Hessen im Jahr 2016 62 . Im Jahr 2015 waren es 54 und im Jahr 2014 69 islamistische Straf- und Gewalttaten.
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