Glossar
Anhang

Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2016

Organisierte Kriminalität

Definition/Ziele

Organisierte Kriminalität (OK) ist ein komplexes Kriminalitätsphänomen. Seine wesentlichen Merkmale sind in § 2 Abs. 3 d) des Gesetzes über das Landesamt für Verfassungsschutz definiert. OK wird demnach beschrieben als die von Gewinn- und Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden

  • unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen oder
  • unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohungen oder
  • unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft.

Akteure der OK − Täter, Hintermänner und Nutznießer − missbrauchen die freiheitliche demokratische Grundordnung, um ihre auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Interessen mit dem Begehen von Straftaten, dem Einsatz von Gewalt oder der Einflussnahme auf Institutionen durchzusetzen. Illegal erwirtschaftete Gelder werden oftmals im Rahmen legaler Wirtschaftstätigkeit gewaschen und in legale und illegale Unternehmungen investiert.

OK-Gruppen passen ihre Aktionsfelder kriminellen „Markterfordernissen“ an und reagieren flexibel auf deren Veränderungen. OK ist generell darauf ausgelegt, nicht erkannt zu werden. Da sie weitgehend konspirativ agiert, ist sie nur schwer als solche zu erkennen. Die jährlich durch die OK verursachte Schadenssumme in Deutschland bewegt sich schätzungsweise zwischen 500 Millionen bis zu zwei Milliarden Euro.

Rockerkriminalität

Ganzheitliche Strukturbeobachtung | In Hessen bilden kriminelle Rockergruppierungen, das heißt sogenannte Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG), im Bereich der OK einen Beobachtungsschwerpunkt des LfV. Zu ihnen zählen der Hells Angels MC (HAMC), der Bandidos MC, der Outlaws MC und der Gremium MC sowie deren Unterstützergruppen (Supporter-Clubs). Andere Rocker- oder rockerähnliche Gruppierungen bezieht das LfV, sofern Berührungspunkte mit den genannten kriminellen Rockerclubs erkannt werden, in die ganzheitliche Strukturbeobachtung ein.

Erfolgreiche Verbote | Die vom Hessischen Ministerium des Innern und für Sport im Jahr 2011 gegen die HAMC Charter Westend und Frankfurt erlassenen und vom Bundesverwaltungsgericht rechtskräftig bestätigten Verbotsverfügungen zeigten im Berichtsjahr Wirkung. In Verbindung mit der „Null-Toleranz“-Strategie der Sicherheitsbehörden wurden Einflusssphäre und Machtstrukturen einzelner Führungspersonen bzw. Charter stark und nachhaltig geschwächt. Seitdem war zu beobachten, dass vor allem Personen mit Migrationshintergrund versuchten, das durch die Schwächung Einzelner entstandene Machtvakuum zu nutzen. Es zeichneten sich Neugründungen von rockerähnlichen Clubs ab, deren Mitglieder fast ausschließlich einen Migrationshintergrund besitzen.

Rockerähnliche Boxclubs mit Migrationshintergrund | Es war jedoch schwierig, diese Clubs eindeutig dem Phänomenbereich OK zuzuordnen. Zwar ähnelten die Osmanen Frankfurt, Osmanen Germania und Lions 21 in Bezug auf ihren hierarchischen Aufbau und ihr Erscheinungsbild (mit „Kutten“ gekleidet) den kriminellen Rockergruppierungen, sie grenzten sich aber bereits begrifflich von ihnen ab, indem sie sich nicht als Motorradclubs, sondern als Boxclubs (BC) oder nur als Streetgang bezeichneten. Ihre Mitglieder waren zum überwiegenden Teil in der Türsteher-Szene aktiv, weshalb es auch zu Auseinandersetzungen mit konkurrierenden etablierten kriminellen Rockergruppierungen kam.

Insbesondere Mitglieder dieser neu auftretenden rockerähnlichen Gruppierungen verübten schwere bis schwerste Straftaten. Dabei ging es darum, Gebiets- und finanzielle Ansprüche im Türstehergewerbe zu sichern. Bei ethnisch begründeten gewalttätigen Auseinandersetzungen gerieten hauptsächlich türkischstämmige mit kurdischstämmigen Gruppen in Konflikt. Die von großer Emotionalisierung geprägten Ereignisse und Entwicklungen in der Türkei zum Nachteil der kurdischen Minderheit befeuerten diese Konflikte. Dies galt für die nationalistisch geprägten türkischen Charter, das heißt vor allem den Osmanen Germania BC, dessen Verbindungen bis in die OK-Szene in der Türkei reichten. Dabei war davon auszugehen, dass in Deutschland agierende Personen durch im Ausland lebende angeleitet und gesteuert wurden.

Virulente alte Konflikte | Aufgrund dieser Entwicklungen rückten die mitunter gewalttätigen Auseinandersetzungen des Jahres 2015 im Rhein-Main-Gebiet zwischen „old-school“-Rockern und türkischen Chartern im Berichtsjahr 2016 eher in den Hintergrund. Die Tötung des Präsidenten des regulär vom HAMC-Weltverband genehmigten Hells Angels MC Charters Gießen im Oktober verursachte ein erneutes Machtvakuum. Auch wegen der noch fehlenden Tataufklärung ist die längerfristige Wirkung der Tat auf die Rockerszene im Rhein-Main-Gebiet nicht einzuschätzen. Generell bemühten sich die Verantwortlichen der beteiligten Rockergruppierungen, die Gesamtsituation zu deeskalieren und eine Befriedung zu erreichen. Die Konflikte um die Einflussbereiche zwischen „old-school-Rockern“ und den neuen „Migrantenchartern“ dauerten unterschwellig jedoch an, wobei beide Seiten versuchten, den Behörden keinen Anlass für staatliche Maßnahmen zu geben.

Weitere gewalttätige Konflikte möglich | Da die „Migrantencharter“ in der Lage sind, ein hohes Unterstützerpotenzial zu mobilisieren, ist mit weiteren gewalttätigen Auseinandersetzungen zu rechnen. Dabei gibt die immer wieder festzustellende illegale Bewaffnung der unterschiedlichen Lager − bis hin zu automatischen Waffen und Kriegswaffen − Anlass zur Sorge. Daher beobachtet das LfV neben dem Rauschgifthandel mögliche internationale Verbindungen der Rockerszene zum organisierten Waffenhandel. Dies geschieht auch in Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten, um OK-Strukturen weiterhin aufzuklären.

Russische und italienische OK

Verbindungen in das Rhein-Main-Gebiet | Das LfV beobachtete in der Vergangenheit Aktivitäten von Gruppen und in diesen Strukturen agierende Einzelpersonen zum Beispiel aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Von besonderem Interesse waren deren Verbindungen in das Rhein-Main-Gebiet. Die Protagonisten sowohl der russischen als auch der italienischen OK verschleierten ihre Aktivitäten und handelten äußerst konspirativ. Hierbei wurden auch Verflechtungen mit Nachrichtendiensten und/oder staatlichen Stellen in den entsprechenden Herkunftsländern festgestellt.

Klassische Deliktsbereiche und Geldwäsche | Neben den klassischen Deliktsbereichen Eigentumskriminalität, Rauschgifthandel, Schmuggel und illegaler Waffenhandel spielte die Geldwäsche eine hervorgehobene Rolle. Hohe Geldsummen, deren meist ausländische Herkunft kaum nachvollziehbar ist, dienten zum Beispiel dem Erwerb hochwertiger Immobilien oder Kunstgegenstände und werden so zu legalen Vermögenswerten. Die italienische OK reinvestierte ihre illegal erwirtschafteten Gelder häufig in Gastronomie-/Hotelbetriebe der gehobenen Klasse und in legale Immobiliengeschäfte und nutzte so Deutschland als Ruhe- und Rückzugsraum.

Besonders wachsam analysierte das LfV in der Vorfeldbeobachtung die Versuche von OK-Gruppen im Hinblick der möglichen Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien und Wirtschaft.

Maßnahmen des LfV

Beobachtung und Aufklärung im Vorfeld konkreter Straftaten | Die vom LfV überwiegend mit nachrichtendienstlichen Mitteln und im Rahmen der Zusammenarbeit mit anderen Verfassungsschutzbehörden und ausländischen Nachrichtendiensten gesammelten Erkenntnisse werden den einzelnen Bedarfsträgern gezielt und in geeigneter Form zur Verfügung gestellt. Diese Erkenntnisse eignen sich nicht für eine öffentliche Darstellung.

Seinem Auftrag entsprechend agiert der Verfassungsschutz bei der Beobachtung und Aufklärung der OK im Vorfeld konkreter Straftaten. Ziel ist die Erkenntnisgewinnung in Bezug auf personelle, logistische, organisatorische, finanzielle sowie deliktische Strukturen. Neben dem Ansatz der frühzeitigen Erkenntnisgewinnung bietet die Beobachtung durch den Verfassungsschutz den Vorteil einer langfristigen, das heißt nicht auf einzelne Strafverfahren bezogenen Beobachtung. Die Strukturaufklärung des Verfassungsschutzes ist nicht auf die Bearbeitung einzelner Delikte ausgerichtet, sondern analysiert die kriminellen Strukturen in einem ganzheitlichen Zusammenhang. Daraus können in der Folge auch Erkenntnisse für einzelne Strafverfahren resultieren.

In seiner Funktion als „Frühwarnsystem“ unterstützt der Verfassungsschutz die Maßnahmen von Politik, Polizei, weiteren staatlichen Einrichtungen und anderen öffentlichen Stellen, indem er Erkenntnisse über Gefahren, die von der OK ausgehen, zur Verfügung stellt.

Beobachtung von OK-Strukturen/-Verbindungen zu extremistischen Netzwerken | Um dieser Aufgabe weiterhin gerecht zu werden, wurde Ende des Jahres 2015 begonnen, die strategische Ausrichtung der OK-Bearbeitung im LfV Hessen zu verändern. Als Aufgabenschwerpunkte sollen die Beobachtung von OK-Strukturen/-Verbindungen zu extremistischen Netzwerken, insbesondere zu islamistischen/jihadistischen und rechtsextremistischen Netzwerken fokussiert werden. Dabei konzentriert sich die Schwerpunktsetzung unter anderem auf folgende Aspekte:

  • Die Aufklärung, das heißt die Informationsgewinnung, -zusammenführung und -verarbeitung, in Bezug auf den organisierten, illegalen Waffenhandel bzw. die Aufklärung von illegalen Waffenbeschaffungsmaßnahmen in diesen Bereichen sowie
  • die Finanzierung rechtsextremistischer und salafistischer Netzwerke.

Hier bietet die OK-Bearbeitung des LfV durch das Ausleuchten von Finanztransfers und aufgrund der Schnittmenge zur Extremismusbearbeitung die Möglichkeit, das oben beschriebene Dunkelfeld zu erhellen.

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