Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2018

Zu diesem Bericht

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

Abgebildet ist ein Foto von Peter Beuth, dem Hessischen Minister ds Innern und für Sport der Mord an Dr. Walter Lübcke war ein furchtbares, ein einschneidendes Ereignis im Jahr 2019. Wenngleich diese schreckliche Tat deutlich nach dem vorliegenden Berichtsjahr 2018 datiert, ist es mir ein besonderes Anliegen, sie hier aufzugreifen.

Dass die Biographie eines Extremisten nicht immer linear verläuft, ist eine der Lehren, die unser Nachrichtendienst aus der Befassung mit dem feigen Mord an Dr. Walter Lübcke gezogen hat. Jeder Straftäter oder Extremist ist ein Individuum, das den vielfältigsten Einflüssen und einer ganz eigenen Umwelt ausgesetzt ist und gleichzeitig auf diese einwirkt. Für den Verfassungsschutz bedeutet das, noch individueller, kleinteiliger und über einen noch größeren Zeitraum Personen unter die Lupe nehmen zu müssen. Nur weil ein extremistischer Straftäter keine Straftaten mehr begeht, muss das nicht heißen, dass er kein Extremist mehr ist. Deshalb suchen unsere hessischen Verfassungsschützer gezielt nach den vermeintlich „integriert Abgetauchten“. Sie wollen in jedem Einzelfall wissen, ob eine Distanzierung tatsächlich auch erfolgt ist. Dazu gehört vor allem auch die Frage, ob es dem einzelnen Extremisten aufgrund seines persönlichen Umfelds überhaupt realistisch möglich ist, nicht mehr Teil einer Szene zu sein.

Da insbesondere Rechtsextremisten eine hohe Affinität zu Waffen haben, setze ich mich bereits seit mehreren Jahren dafür ein, dass kein Extremist legal in den Besitz von Pistolen oder Gewehren kommt. Im Jahr 2017 wurden bereits auf eine hessische Initiative hin die Anforderungen für die Annahme der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit abgesenkt. Seither genügt ein auf Tatsachen begründeter Verdacht, um eine Regelunzuverlässigkeit zu begründen – und damit eine Waffe zu entziehen oder die waffenrechtlichen Erlaubnisse zu versagen. Die Regelunzuverlässigkeit von Extremisten wäre der einfachste Weg, aber dafür findet sich bisher auf Bundesebene keine Mehrheit. Mein Ziel ist aber klar: Wer nicht mit beiden Füßen auf unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, darf keine Waffe in die Hände bekommen. Dafür werde ich mich weiter einsetzen.

Nicht zuletzt der Mord an Dr. Walter Lübcke hat eine Entwicklung überdeutlich offenbart, die wir schon über eine längere Zeit feststellen konnten: die Verrohung von Sprache und die teils vollkommen enthemmte Hetze im Internet, vor allem in den sogenannten sozialen Medien. Alleine im Zusammenhang mit dem Mord an unserem Regierungspräsidenten registrierten die Ermittler Hasskommentare im vierstelligen Bereich. Mehr als 100 dieser Posts werden von Polizei und Staatsanwaltschaft auf Strafbarkeit geprüft. Einfache Beleidigungen, glatte Lügen, aber auch blanker Hass und handfester Extremismus in Form von Volksverhetzung stehen im Internet oftmals untereinander gelistet, für jedermann gut lesbar.

Schon vor dem Mord an Dr. Walter Lübcke hatten sich die Koalitionspartner in Hessen vorgenommen, in dieser Legislaturperiode klare Zeichen gegen Hate Speech zu setzen. Wir werden bei den hessischen Sicherheitsbehörden unseren Teil dazu beitragen, dass der einzelne Nutzer es entweder frühzeitig merkt, wenn er verbal über das Ziel hinausschießt oder aber die Härte des Rechtsstaats zu spüren bekommt. Damit die virtuellen Räume aber nicht zu herz- und gewissenlosen Foren des Hasses werden, sind wir auf die Unterstützung der großen Seitenbetreiber aus dem Silicon Valley angewiesen, die noch viel stärker ihrer Verantwortung für die Wortwahl auf ihren Plattformen nachkommen könnten.

Nicht minder wichtig ist aber die Hilfe der Bevölkerung. So, wie der Staat es sich von seinen Bürgern wünscht, dass keiner in der Realwelt Hass und Ausgrenzung schweigend akzeptiert, brauchen wir die Unterstützung im Netz: durch eine klare, couragierte Ansage im Sinne unserer gemeinsamen Werte oder eben durch Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden. Dafür haben wir eine eigene Taskforce in unserem Hessen 3C eingerichtet. Wer Hate Speech wahrnimmt, kann sich an unsere Meldestelle wenden und setzt damit zugleich ein Zeichen gegen Hass, Ausgrenzung und nicht zuletzt ein Stoppsignal gegen all jene, die von der Verrohung im Internet profitieren und sie bewusst schüren: Ebenjene Extremisten, die unser Landesamt für Verfassungsschutz im vorliegenden Jahresbericht beleuchtet.

Aus den folgenden Seiten werden Sie schlussfolgern, dass die Gefahr eines jihadistisch motivierten Anschlags nach wie vor hoch ist. Es gelang unseren Sicherheitsbehörden im vergangenen Jahr in Eschwege (Werra-Meißner-Kreis) und in Florstadt (Wetteraukreis) zwei Personen festzunehmen, die Anschläge geplant hatten. Vor wenigen Monaten nahm die Polizei in Sachsen-Anhalt eine Person fest, die verdächtig ist, an den Anschlägen in Paris im November 2015 beteiligt gewesen zu sein. Darüber hinaus beschäftigt sich der Verfassungsschutz insbesondere mit Frauen und Kindern, die – von der Anti-IS-Allianz interniert – aufgrund ihrer Kriegserlebnisse und ihrer ungebrochenen Identifikation mit der Ideologie des sogenannten Islamischen Staats (IS) bei ihrer Rückkehr nach Deutschland eine Gefahr für unsere Bevölkerung darstellen. Außerdem versuchen hier tätige islamistische Gruppierungen nach wie vor Einfluss auf die Gesellschaft im Sinne ihrer extremistischen Auffassungen und Ziele zu gewinnen. Das gilt auch für Gruppierungen im Linksextremismus und im Extremismus mit Auslandsbezug. Die meisten Akteure all dieser Phänomenbereiche sind im Internet bzw. in den sozialen Medien unterwegs, und für sie gelten die gleichen Schlussfolgerungen wie im Bereich des Rechtsextremismus: Hass nutzt nur den Extremisten.

Nimmt man die zahlreichen Gefahren, die durch Cyberangriffe auf staatliche und gesellschaftliche Institutionen sowie auf Industrie und Wirtschaft – insgesamt auf Kritische Infrastrukturen – drohen, hinzu, so stehen der Verfassungsschutz bzw. alle Sicherheitsbehörden in Hessen vor einer immensen Fülle von Herausforderungen und Aufgaben. Die Landesregierung hat diese sehr heterogenen Entwicklungen seit Jahren im Blick: Das Landesamt für Verfassungsschutz hat daher von 2015 bis 2019 einen Stellenzuwachs um 42 Prozent erfahren, das sind insgesamt 107 zusätzliche Stellen. Damit ist der Verfassungsschutz in Hessen aktuell im Jahr 2019 auf eine nie gekannte Größe von 364 (2015: 257) Planstellen angewachsen. Um den zunehmenden Herausforderungen und Aufgaben auch in Zukunft wirkungsvoll zu begegnen, sollen im Rahmen der weiteren operativeren Ausrichtung des Verfassungsschutzes und der Stärkung seiner analytischen Kompetenz auch in den kommenden Haushaltsjahren weitere hinzukommen.

Im März 2019 ist mit dem Hessischen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (HETAZ) ein weiterer wichtiger Baustein zur behördenübergreifenden Zusammenarbeit gegen Extremismus und Terrorismus geschaffen worden. Im HETAZ tauschen sich das Landesamt für Verfassungsschutz, das Hessische Landeskriminalamt, die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt sowie die Staatsanwaltschaft Frankfurt – Abteilung Staatsschutz – über extremistische Bedrohungslagen aus und erarbeiten gemeinsame Strategien zur Bekämpfung extremistischer und terroristischer Bedrohungen.

Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, bitte ich, den vorliegenden Bericht so zu nutzen, dass Sie hieraus Wissen und Argumentationsstärke im Umgang mit Extremismus gewinnen. Sei es in der realen Welt oder online: Ihre Stimme für unsere gemeinsamen Werte macht immer einen Unterschied, und seien Sie versichert, sie bleibt bestimmt nicht ungehört.

Weil sie dafür tagtäglich mit ihrer ganzen Schaffenskraft einstehen, danke ich an dieser Stelle den unermüdlich engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Landesamt für Verfassungsschutz und Präsident Robert Schäfer für ihre wichtige Arbeit.

Peter Beuth

Hessischer Minister des Innern und für Sport





Liebe Bürgerinnen und Bürger,

Abgebildet ist ein Foto von Robert Schäfer, dem Präsidenten des Landesamts für verfassungsschutz unsere oberste Maxime als Verfassungsschützer ist: Wir dienen dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und sind Dienstleister der Demokratie. Mittels unserer analytischen Kompetenz beurteilen wir jene Gefahren, die Demokratie und Menschenrechten durch extremistische Bestrebungen drohen. Etwa in diesem Wortlaut sind unsere wesentliche Funktion und Bedeutung in der Präambel des im vergangenen Jahr verabschiedeten Gesetzes zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen beschrieben. Darüber hinaus ist im Artikel 1 § 2 des neuen Gesetzes eine Aufgabe des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) festgelegt, die für das Bestehen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unerlässlich ist und die mir – neben unseren im Art. 1 § 2 (2) beschriebenen Kernaufgaben – besonders am Herzen liegt: Extremistischen „Bestrebungen und Tätigkeiten durch Information, Aufklärung und Beratung entgegenzuwirken und vorzubeugen (Prävention)“.

Unter diese Aufgabe fallen der Ihnen vorliegende Bericht zur Aufklärung der Öffentlichkeit sowie zahlreiche Präventionstätigkeiten des LfV auf verschiedenen Ebenen und in etlichen Formen. Dies sind, um nur einige beispielhaft zu nennen: die aktive Teilnahme am öffentlichen Diskurs durch Vorträge und Redebeiträge, zielgruppenorientierte Sensibilisierungsveranstaltungen (aufklärende Prävention) und Beratungsleistungen in konkreten Fällen (beratende Prävention). Bedarfsträger sind unter anderem Multiplikatoren der Jugend- und Erwachsenenbildung (vor allem in Schulen), Polizistinnen und Polizisten, Justizmitarbeiterinnen und Justizmitarbeiter sowie Landkreise, Kommunen, soziale Einrichtungen und andere Behörden und öffentliche Stellen, jedoch auch Sport- und Jugendvereine sowie Wirtschaftsunternehmen. Dabei ist das LfV mit zivilgesellschaftlichen Trägern vernetzt und arbeitet mit Präventionsräten von Städten, Kommunen und Kreisen zusammen.

Vor allem mit Blick auf den Mord an Dr. Walter Lübcke ist Extremismusprävention nötiger denn je. So schwierig es heutzutage ist, den von dem amerikanischen Soziologen Seymour Martin Lipset im Jahr 1959 geprägten Begriff „Mitte der Gesellschaft“ in Wissenschaft und Politik zu definieren: Der Rechtsextremismus hat nicht nur seinen Weg vom äußersten Rand in die politisch-soziale „Mitte“ gefunden, sondern er ist auch ein Produkt dieser „Mitte“. Als Stationen dieses Wegs sind unter anderem die Wahlerfolge der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands im vergangenen Jahrzehnt und die zunehmenden rechtsextremistischen Bestrebungen im Kontext der Flüchtlingsfrage seit etwa 2015 zu nennen. Weder ist die rechtsextremistische Szene gegenwärtig isoliert und stigmatisiert noch auf ein vor allem (neo)nationalsozialistisches Spektrum begrenzt. Mit der Neuen Rechten hat sich nunmehr ein heterogenes Gebilde entwickelt, das versucht, sich vor allem mit antidemokratischen und autoritären Positionen offensiv in den öffentlichen Diskurs einzumischen und hierbei die Oberhand zu gewinnen. Dieses Spektrum ist mitunter in der Lage, Verbindungen zwischen dem rechtsextremistischen und dem rechtspopulistischen Lager zu knüpfen. Immer wieder entstehen Schnittmengen, die sich unter Stichwörtern wie Fremden- bzw. Migrantenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, Nationalismus, Ausgrenzung von Andersdenkenden und Relativierung des Nationalsozialismus zusammenfassen lassen.

Der spätestens seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes sich stetig konstituierende, selbstverständliche antirechtsextremistische Konsens in der Bundesrepublik Deutschland hat in Teilen der „Mitte“ Risse erhalten; das Wissen und das Wissenwollen in Bezug auf das dramatische Scheitern der Weimarer Republik im Umgang mit dem Nationalsozialismus bzw. das nationalsozialistische Terrorregime selbst verblasst. Anhänger des rechtspopulistischen Lagers distanzieren sich – geschichtsvergessen und demokratische Werte ignorierend – nicht mehr von Rechtsextremisten und ihrem Geschichtsrevisionismus und kooperieren mit ihnen. Andererseits vermeidet die Neue Rechte – wie etwa die Identitäre Bewegung – die (sprachliche) Eindeutigkeit in Bezug auf rechtsextremistische Positionen. So kommt der Rechtsextremismus auf den ersten Blick in vermeintlich neuen Kleidern daher: professionell, unverfänglich, modern, angeblich harmlos in seinen politisch-gesellschaftlichen Wirkungen.

Aufgrund dieser Entwicklungen ist es schwierig geworden, rechtsextremistische Bestrebungen zu erkennen und als solche zu entlarven. Ohne fundiertes Hintergrundwissen – besonders in Bezug auf die Neue Rechte – laufen sowohl Jugendliche als auch Erwachsene Gefahr, rechtsextremistische Positionen zu übersehen und in der Folge von ihnen vereinnahmt zu werden.

Vor diesem Hintergrund ist die Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit des LfV ein zentrales Mittel, um die Öffentlichkeit und vor allem junge Menschen vor extremistischen Gruppierungen und Strömungen zu warnen und über sie aufzuklären, vor allem dann, wenn Extremisten versuchen, vorsätzlich über ihren wahren Charakter und ihre wahren Ziele zu täuschen.

Auf unserem zukünftigen Weg werden wir uns aber selbstverständlich nicht ausschließlich auf die Prävention verlassen. Das Sammeln und Auswerten von Informationen, die fachlich fundierte Analyse von extremistischen Bestrebungen, sowie die Aufklärung und Aufdeckung extremistischer Netzwerke bleibt das Kerngeschäft des Verfassungsschutzes als Nachrichtendienst und Frühwarnsystem der Demokratie.

Entsprechend bilden wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kontinuierlich – in internen und externen Veranstaltungen – fort, um deren Kompetenzen immer weiter zu verfeinern. Zudem haben wir durch die massive Einstellung von Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern (Politikwissenschaftler, Islamwissenschaftler, Historiker und andere) die analytischen Fähigkeiten des LfV in den letzten Jahren bereits deutlich ausgebaut - diesen Weg werden wir auch in Zukunft konsequent weitergehen.

Dabei gilt es sowohl die Prävention im LfV wie auch diejenigen Arbeitsgebiete, die sich in den Bereichen Rechtsextremismus sowie Islamismus mit Radikalisierungen und waffenaffinen bis hin zu gewaltorientierten Einzelpersonen und Szenen beschäftigen, weiterhin zu stärken. Aber auch im Linksextremismus können diese Themen, wie die Ereignisse um die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Rahmen des G20-Gipfels 2017 in Hamburg zeigen, virulent werden.

Die personell und organisatorisch bereits vollzogenen und weiter zu tätigenden Schritte gehören zu den laufenden Etappen in der Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im LfV danke ich für ihre ausdauernde und engagierte Arbeit, die sich angesichts dieser Aufgaben nicht in Routine erschöpft, sondern jeden Tag vor neuen Herausforderungen steht und diese meistert.

Robert Schäfer

Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen

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