Zukunft unserer Vergangenheit: Notwendigkeit von Verfassungsschutz
Vor hundert Jahren erklärte am 6. Februar 1919 der kurz darauf zum Reichspräsidenten ernannte Friedrich Ebert (1871 bis 1925) in seiner Rede zur Eröffnung der verfassungsgebenden Weimarer Nationalversammlung: „Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und regiert in aller Zukunft sich selbst“. Freilich konnte damals, wenige Monate nach dem Ende von Krieg und Monarchie, niemand ahnen, dass sich diese Worte nicht erfüllen würden. Vielmehr stand Deutschland bereits 14 Jahre später am Beginn eines Wegs, der es in den Abgrund eines verbrecherischen Terrorregimes führen sollte.
Auf einen Blick
- Fortschreitende Aushöhlung der Weimarer Demokratie
- Offene Feindschaft gegenüber dem Weimarer „System“
- Lehren aus dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie
- Institutioneller Verfassungsschutz als Bestandteil der „wehrhaften Demokratie“
- Erfordernis einer kognitiv-affektiven Informations- und Wertevermittlung
Fortschreitende Aushöhlung der Weimarer Demokratie | Gestalteten sich die innen- und außenpolitischen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Ausgangsbedingungen für die junge Weimarer Republik schwierig und überaus komplex, so war die am 14. August 1919 in Kraft getretene Reichsverfassung eine „gute Verfassung in schlechter Zeit“ (Christoph Gusy), da sie unter der Bezeichnung „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ (Artikel 109 ff.) klassische bürgerliche Freiheitsrechte festlegte.
Trotz ihrer Fortschrittlichkeit enthielt die Verfassung, wie uns seit dem Scheitern der Weimarer Republik im Jahr 1933 zunehmend bewusst geworden ist, Schwächen. Die „Grundrechte und Grundpflichten“ standen unter einem Gesetzesvorbehalt, mussten also durch entsprechende Gesetze in Kraft gesetzt bzw. konnten im Wege der einfachen Gesetzgebung verändert werden. Hauptmangel war jedoch das im Artikel 48 festgeschriebene Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten, von dem bereits Friedrich Ebert bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1925 mehr als hundert Mal Gebrauch machte, wenn auch nur, um bedrohlichen wirtschaftlichen sowie außen- und innenpolitischen Krisen entgegenzusteuern.
Nach dem Scheitern der letzten Großen Koalition im Jahr 1930 berief Eberts Nachfolger, Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847 bis 1934), insgesamt fünf – der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogene – Präsidialkabinette, zuletzt unter dem Reichskanzler und späteren Diktator Adolf Hitler (1889 bis 1945). In einer – vor allem wegen der Weltwirtschaftskrise (1929) und ihrer Folgen – prekären politisch-sozialökonomischen Situation trugen Hindenburg und seine Entourage mit ihrer antiparlamentarischen Auslegung der Weimarer Reichsverfassung („Verfassungsdurchbrechungen“) – neben vielen anderen Personen und Faktoren – entscheidend dazu bei, das demokratische Prinzip zugunsten eines zunehmend autoritären Systems auszuhöhlen.
Dabei ist zu betonen, dass die Weimarer Republik keineswegs wehrlos gegenüber den Feinden der Demokratie war. Sie verfügte über entsprechende Instrumentarien, wie etwa das Gesetz zum Schutz der Republik vom 21. Juli 1922, die Möglichkeit des Partei- und Vereinsverbots, strafrechtliche Bestimmungen sowie die Politische Polizei und den Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung. Die Entwicklung, welche die Weimarer Republik nahm, war keineswegs eine Einbahnstraße in die nationalsozialistische Barbarei. Freilich fehlten etlichen der in Politik, Justiz, Wirtschaft und Kultur verantwortlichen Personen die demokratische Überzeugung sowie die Entschlusskraft, die Instrumentarien, die der Weimarer Republik zur Verfügung standen, ausreichend und konsequent anzuwenden.
Offene Feindschaft gegenüber dem Weimarer „System“ | Vor diesem Hintergrund (hinzu kamen weitverbreitete antidemokratische Vorbehalte in vielen Bevölkerungsschichten) agierte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) unter der Führung Hitlers – neben der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) – in Wort und Tat als entschiedene und unmissverständliche Feindin der Weimarer Republik. So hieß es in der 1927 veröffentlichten Schrift des nationalsozialistischen Agitators und Demagogen Joseph Goebbels (1897 bis 1945) „,Der Nazi-Sozi‘. Fragen und Antworten für den Nationalsozialisten“:
„Haben wir einmal den [nationalsozialistischen] Staat etabliert, dann ist dieser Staat unser Staat, dann werden wir, und wir alleine, die verantwortlichen Träger dieses Staates sein. […] Dann gestalten wir den Staat auf dem Wege der diktatorischen Gewalt nach unseren Grundsätzen um. Dann wird die verantwortliche Minderheit einer schlappen, faulen, handlungsunfähigen und dummen Mehrheit, hinter der verborgen doch nur der Jude seine schwarzen Pläne verfolgt, ihren Willen aufzwingen und die Notwendigkeiten durchzusetzen wissen, die zur Erreichung des Volkes erforderlich sind“.
Selbstzufrieden stellte Goebbels als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda neun Monate nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ bzw. der „Machtübertragung“ Hindenburgs an das Präsidialkabinett Hitler (30. Januar 1933) in einer öffentlichen Rede fest, dass diese Strategie aufgegangen sei:
„Wenn wir in das Parlament einzogen, so nicht um des Parlamentarismus willen, sondern um uns in unserem Kampfe gegen den Parlamentarismus der Waffen zu bedienen, die uns der Parlamentarismus zur Verfügung stellte“.
Lehren aus dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie | Nach dem Ende des von den Nationalsozialisten herbeigeführten Kriegs standen 1948 wiederum Beratungen für eine (provisorische) Verfassung an. Dieser Krieg hatte weitaus verheerendere Auswirkungen als der vorangegangene Erste Weltkrieg, so hatte das nationalsozialistische Unrechts- und Terrorregime unter anderem den Tod von über sechs Millionen Juden, 3,3 Millionen russischen Kriegsgefangenen sowie von mehr als 250.000 Sinti und Roma verschuldet, weltweit waren 60 bis 70 Millionen Menschen ums Leben gekommen.
Vor diesem Hintergrund stellte am 8. September 1948 Dr. Carlo Schmid, der Vorsitzende des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, unter anderem die Frage, ob in dem neu zu schaffenden Grundgesetz (GG), das nur für das von den Westalliierten besetzte Gebiet gelten sollte, Gleichheit und Freiheit völlig uneingeschränkt und absolut sein sollten.
„[Sollten] sie auch denen eingeräumt werden, deren Streben ausschließlich darauf ausgeht, nach der Ergreifung der Macht die Freiheit selbst auszurotten? Also: Soll man sich auch künftig so verhalten, wie man sich zur Zeit der Weimarer Republik zum Beispiel den Nationalsozialisten gegenüber verhalten hat? […] Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. Ja, ich möchte weitergehen. Ich möchte sagen: Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie missbrauchen wollen, um sie aufzuheben“.
Diese Problematik – insgesamt die Frage, aus welchen Gründen die Weimarer Republik verfassungsrechtlich, institutionell und personell gescheitert war –, die Furcht vor einer Wiederholung vergleichbarer Krisen sowie die Entstehung kommunistischer Diktaturen in Osteuropa bildeten den Rahmen für die Erörterungen der Mütter und Väter des Grundgesetzes.
Ihre 1949, das heißt vor 70 Jahren, im Grundgesetz festgeschriebenen Schlussfolgerungen enthalten wesentliche Vorkehrungen zum Schutz der Verfassung, die – im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung – jetzt über wirksame gesetzliche Regelungen und Instrumentarien verfügt, um sich gegen ihre (eigene) Beseitigung zu wehren. Zu nennen sind etwa
- die Wesensgehalt- und Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 2 u. 4 GG),
- die Möglichkeit des Parteienverbots (Art. 21 Abs. 2 GG) und des Vereinsverbots (Art. 9 Abs. 2 GG),
- die Verwirkungsvorschrift des Art. 18 GG,
- die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze sowie die „Ewigkeitsklausel“ (Art. 79 Abs. 3).
Dabei befinden sich die von Carlo Schmid thematisierten Prinzipien „Freiheit“ und „Intoleranz“ in einem Spannungsfeld: Zu viel Freiheit gewährt Verfassungsfeinden möglicherweise zu viele Aktionsräume, zu viel „Intoleranz“ (im Sinne von staatlichen Verboten) unterminiert möglicherweise demokratische Freiheiten. Die Positionen in diesem Spannungsfeld sowie ihr Verhältnis zueinander unterlagen in der nunmehr 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik einem eingehenden Abwägungsprozess, der in Gegenwart und Zukunft stets aufs Neue vollzogen werden muss.
Institutioneller Verfassungsschutz als Bestandteil der „wehrhaften Demokratie“ | Dem Grundgesetz und der daran anknüpfenden Rechtsprechung vorausgegangen war die wissenschaftliche Konzeption einer „wehrhaften Demokratie“, die der Jurist Karl Loewenstein (1891 bis 1973) und der Soziologe Karl Mannheim (1893 bis 1947) entwickelt hatten. Loewenstein hatte bereits Ende Oktober 1931 während der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Halle gefordert:
„Der Staat hat die Pflicht der Selbsterhaltung, sich dagegen zu wehren, daß gerade den Parteien der parlamentarische Apparat zur Verfügung gestellt wird, die sich zum Programm gemacht haben, diesen Apparat zu zerschlagen. Der Staat, der […] bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen“.
In ihren wissenschaftlichen Arbeiten, die während ihres Exils in den Vereinigten Staaten von Amerika bzw. in Großbritannien in den 1930er und 1940er Jahren entstanden, beschäftigten sich Loewenstein und Mannheim mit den Ursachen (staatlichen) Machtmissbrauchs und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Loewenstein sah es als Aufgabe des Staats an, sowohl sich selbst (als Herrschaftsordnung) als auch die Grundrechte zu schützen, während Mannheim dies als Angelegenheit der Zivilgesellschaft betrachtete. Die Überlegungen von Loewenstein und Mannheim fanden – nicht direkt nachweisbar für das Grundgesetz – seit den 1950er Jahren Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und in die politischen Debatten in der Bundesrepublik.
Zu der Konzeption der „wehrhaften Demokratie“ gehört der in Artikel 73 Abs. 1 Nr. 10 GG erwähnte institutionelle Verfassungsschutz, wonach Bund und Länder unter anderem „zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ (siehe unten das Kapitel „Freiheitliche demokratische Grundordnung“) zusammenarbeiten. Folglich schuf der Bund auf entsprechender gesetzlicher Grundlage am 7. November 1950 das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). In Hessen verabschiedete – ähnlich wie in anderen Ländern – der Landtag am 19. Juli 1951 ein eigenes Gesetz für das LfV, das aktuell als Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen vom 25. Juni 2018 vorliegt. Darin wird in der Präambel des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes (HVSG) die Notwendigkeit des institutionellen Verfassungsschutzes betont: „Er [der Verfassungsschutz] ist Dienstleister der Demokratie und hält insbesondere die analytischen Kompetenzen zur Beurteilung jener Gefahren vor, die Demokratie und Menschenrechten durch extremistische Bestrebungen drohen“.
Erfordernis einer kognitiv-affektiven Informations- und Wertevermittlung | Für die heutige Demokratie, die – ebenso wie vor hundert Jahren – Krisen kennt, können sowohl aus dem Scheitern der Weimarer Republik als auch aus der Analyse aktueller extremistischer Phänomene etliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Eine der wichtigsten ist: Eine monokausale Erklärung für das Ende der ersten deutschen Demokratie gibt es nicht. Es war ein komplexes und kompliziertes Geflecht von Krisen und Ereignissen – unter anderem „Wirtschaftskrise, Regierungskrise, Krise des Parteiensystems, gesellschaftliche Krise, durchgreifende Legitimationskrise an der Spitze und an der Basis“ (Ian Kershaw) –, die in ihrer Verschränkung und Akkumulation zur „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten führten. In diesen Kontext gehören ebenso die fundamentale Feindlichkeit und die entsprechende Betätigung von Rechts- und Linksextremisten gegen die Demokratie wie das Agieren bzw. die „konkrete[n] Intrigen einiger weniger Akteure, […] die erst die Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten ermöglichten“ (Martin Grosch).
Was unser Verstehen unserer jüngsten deutschen Geschichte und das „Lernen“ aus ihr betrifft, sollte folgender Satz des Schriftstellers Kurt Tucholsky (1890 bis 1935) bedacht werden, den er unter einem Pseudonym am 10. Oktober 1930 in der liberalen Vossischen Zeitung formuliert hatte: „Erfahrungen vererben sich nicht – jeder muss sie allein machen“. In unserem kollektiven Bewusstsein vergeht die nationalsozialistische Vergangenheit als Erfahrung immer mehr. „Historische Errungenschaften wie Gewaltenteilung, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit“ werden, so Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede am 6. Februar 2019 zum Festakt „100 Jahre Weimarer Reichsverfassung“, „vielerorts auch bei uns in Europa wieder angefochten und in Zweifel gezogen“. Mit diesem beklagenswerten und zunehmenden Gedächtnisverlust muss sich auch die Extremismusprävention des Verfassungsschutzes im Rahmen ihrer entsprechenden Arbeit offensiv auseinandersetzen. Es gilt, gezielt den Menschen als persönlich verantwortliches Individuum anzusprechen, weil letzten Endes der Mensch als Triebkraft im Zentrum von politischen Ereignissen und Entwicklungen steht.
Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der Extremismusprävention des LfV, die nunmehr im § 2 Abs. 1 HVSG verankert ist, vor allem zwei Kompetenzen zu vermitteln: auf kognitiver Ebene das sachbezogene Wissen in Bezug auf Demokratie und Extremismus sowie auf affektiver (emotionaler) Ebene die „Vorbeugung persönlichkeitsbedingter Risikofaktoren für Autoritarismus, Gewalt, Radikalisierung, Rassismus und Extremismus“ (Tom Mannewitz). Mehr denn je müssen vor allem diejenigen Menschen erreicht werden, die bereits im Kindesalter und als Jugendliche keinen bzw. einen nur unzureichenden Zugang zu einer adäquaten Bildung haben und sich als Außenstehende in unserer Gesellschaft missverstanden fühlen. So mahnte Bundespräsident Dr. Steinmeier in seiner oben erwähnten Rede in Weimar: „Demokratie gelingt oder scheitert nicht auf dem Papier der Verfassung, sondern in der gesellschaftlichen Realität“.