Verfassungsschutz in Hessen

Bericht 2018

Reichsbürger und Selbstverwalter

Reichsbürger und Selbstverwalter

Unter der Bezeichnung Reichsbürger und Selbstverwalter fasst der Verfassungsschutz Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch gewählten Repräsentanten nicht anerkennen und ihnen die Legitimation absprechen. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen eines historischen Deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Insgesamt erkennen Reichsbürger und Selbstverwalter die Bundesrepublik nicht als Staat an. Sie verstehen sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, geltendes Recht nicht anzuwenden.

Darüber hinaus können sich Bestrebungen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern auch gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. Wenn solche Aktivitäten mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, steht dies nicht mit dem Gedanken der Völkerverständigung in Einklang. Insgesamt sind Reichsbürger und Selbstverwalter in hohem Maße bereit, gegen Gesetze zu verstoßen. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachten die Reichsbürger und Selbstverwalter seit dem 22. November 2016 in Gänze.

Angehörige: In Hessen etwa 1.000, bundesweit etwa 19.000
Medien: Internetpräsenzen

Auf einen Blick

  • Heterogene Szene
  • Personenpotenzial
  • Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse
  • Revisionismus
  • Widerstand gegen Staat und Verwaltung
  • „Malta-Masche“
  • Deliktfelder
  • Gefahr der Gewaltanwendung

Heterogene Szene | Das Spektrum der Reichsbürger und Selbstverwalter besteht aus einer Vielzahl verschiedener Gruppierungen und Einzelpersonen. Die Szene ist vielschichtig, unübersichtlich und umfasst Verschwörungstheoretiker und Rechtsextremisten ebenso wie Leichtgläubige und finanziell Gescheiterte.

Verschwörungstheoretiker glauben, dass die Bundesrepublik Deutschland eine fremdbestimmte Kolonie sei, die zum Beispiel von den Alliierten, Einzelpersonen oder Geheimlogen kontrolliert wird. Bei Rechtsextremisten dagegen steht der Glaube, dass eine frühere Form Deutschlands – wie etwa das Deutsche Kaiserreich oder die nationalsozialistische Regierung – fortexistieren würde, im Mittelpunkt. Damit einher geht bei Rechtsextremisten eine völkische Abstammungslehre. Demnach sei nur derjenige deutsch, der über mindestens drei Generationen einen „rein deutschen“ Stammbaum vorweise. Wer das nicht könne, sei kein Deutscher und habe keinen Platz im jeweiligen Deutschen Reich und müsse dieses verlassen. Aufgrund der unterschiedlichen Ansichten und Überzeugungen innerhalb der Szene gab es keine allgemein anerkannten Strukturen oder Organisationen. Vielmehr waren eine Zersplitterung der Szene und eine meist nur kurze Existenz von Gruppierungen typisch für das Milieu. Einzig in Bezug auf die fundamentale Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesetze und Repräsentanten bestand Einigkeit innerhalb der Szene.

Personenpotenzial | Das mit Stand zum 31. Dezember 2018 den Sicherheitsbehörden bekannte Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter unterschied sich von dem anderer extremistischer Phänomenbereiche auch durch seine Zusammensetzung. Waren andere Extremisten häufig junge Erwachsene oder befanden sie sich im Übergang zum Erwachsenenalter, lag das Durchschnittsalter bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern zwischen 45 und 60 Jahren. Zu knapp 75 Prozent war die Szene männlich und wies – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung – einen unterdurchschnittlichen Anteil von Akademikern auf.

Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse | Im Berichtsjahr lag die Anzahl der Personen, die dem Spektrum der Reichsbürger und Selbstverwalter zugerechnet wurden und über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügten, im hohen zweistelligen Bereich. Das Ziel der Sicherheitsbehörden in Hessen ist es, dass kein ihnen bekannter Reichsbürger oder Selbstverwalter waffenrechtliche Erlaubnisse oder Legalwaffen besitzt bzw. Legalwaffen im Fall des Besitzes entzogen werden.

In enger Zusammenarbeit zwischen den Sicherheits- und Waffenbehörden wurden bereits zahlreichen Reichsbürgern und Selbstverwaltern die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und ihre Schusswaffen sichergestellt.

Revisionismus | Beispielhaft für die Umdeutung der Vergangenheit steht folgende Aussage der rechtsextremistischen Exilregierung Deutsches Reich:

„Der Begriff Wiedervereinigung ist […] irreführend, da nur zwei Teile Deutschlands, die Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) und die Deutsche Demokratische Republik (Mitteldeutschland), vereinigt wurden, Ostdeutschland aber noch immer besetzt ist und deutsche Staaten wie Österreich, Luxemburg oder Li[e]chtenstein immer noch eigene Kleinstaaten sind“.

Reichsbürger und Selbstverwalter führten eine Vielzahl verschwörungstheoretischer Argumente an, in denen sie sich abwegig und pseudojuristisch auf verschiedene Gesetze und internationale Normen beriefen. Die Bundesrepublik stellte für sie lediglich ein „Besatzungskonstrukt“ dar: Deutschland sei seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein souveräner Staat, sondern ein von den alliierten Streitkräften militärisch besetztes Gebiet. Entsprechend behauptete die Szene, die Bundesrepublik Deutschland existiere nicht, sei nicht souverän, sondern lediglich eine „Firma“. So agitierten und polemisierten Reichsbürger und Selbstverwalter gegen eine angebliche „BRD-GmbH“ sowie gegen Parlament und Regierung, Justiz und Polizei. Das Grundgesetz, die Rechtsordnung, Gerichtsurteile und behördliche Bescheide erkannten Reichsbürger und Selbstverwalter nicht an, zitierten diese jedoch, wenn sie glaubten, diese für sich instrumentalisieren zu können. Stattdessen beanspruchten Reichsbürger und Selbstverwalter eine eigene Staatsgewalt auszuüben: Sie vergaben „staatstragende“ Ämter, verkauften „Reichsausweise“ und selbstgefertigte „Reichsführerscheine“, die keinerlei rechtliche Relevanz besitzen.

Widerstand gegen Staat und Verwaltung | Die Haupttätigkeit der Reichsbürger und Selbstverwalter bestand im Agieren gegen Behörden mittels absurder Eingaben, mit denen sie versuchten, Ämter an ihrem rechtmäßigen Handeln zu hindern. Hintergrund war in fast allen Fällen, dass Szeneangehörige Steuern oder Strafen – zum Beispiel für zu schnelles Fahren oder die fehlende Anmeldung von Hunden – nicht zahlen wollten. Statt die meist geringen Gelder zu entrichten, erstellten Szeneangehörige umfangreiche Schriftsätze, in denen sie sich auf die Haager Landkriegsordnung von 1907, UN-Resolutionen wie die „Erklärung der vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker“ oder auf selbst erdachte allgemeine Geschäftsbedingungen beriefen. Teils wurden Schadensersatzforderungen – mitunter auch in Silber oder Gold – aufgrund selbst gefällter „Urteile“ an die in Ämtern zuständigen Sachbearbeiter gesandt. Neben der individuellen Belastung für die Sachbearbeiter haben diese Eingaben zur Folge, dass sich die Vorgangsbearbeitung für alle Bürger verzögert, da auch abstruse Vorgänge Arbeitszeit binden. Im Englischen wird hierfür der Ausdruck paper terrorism verwendet.

Beispielhaft für das Agieren von Reichsbürgern und Selbstverwaltern sind folgende Auszüge aus Schreiben, mit denen sie sich an Behörden wenden:

„Sehr geehrte Damen und Herren,
mit dem beigefügten Schreiben informiere ich Sie und alle von ihrer Behörde zu unterrichtenden Stellen davon, dass ich, die natürliche Person […] tatsächlich lebend bin und die mir aufgezwungene, durch Erstellung einer Geburtsurkunde registrierte und von mir unter vortäuschen Falscher Tatsachen mittels Personalausweis vertretenen, juristische Person […] mit sofortiger Wirkung nicht mehr vertrete.
Da mir nicht die vollständige Treuhandschaft über die juristische Person übereignet wurde, verbiete ich dem Inhaber der Treuhandschaft mit sofortiger Wirkung, jedwede Belästigung, Nötigung, Unterstellung, Forderungen oder Zwangsmaßnahmen gegen die hier erklärende Natürliche Person“.
(Schreibweise wie im Original.)

Neben diesen „Lebenderklärungen“, mit denen sich Szeneangehörige als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren, finden sich häufig Schreiben, in denen Szeneangehörige Gründe dafür darlegten, warum aus ihrer Sicht die Bundesrepublik Deutschland nicht existent sei. Dabei bedienten sie sich meist einer pseudojuristischen und formelhaften Sprache:

„Die in Latenz fortbestehende Natürliche Person […], kann und darf wegen c.d.m. von der aktuellen Verwaltung nicht nachgewiesen werden, sondern von ihr nur ,ausgewiesen‘ – im wahrsten Sinne des Wortes: ausgewiesen aus ihren absoluten Persönlichkeitsrechten vermittels anfechtbarer Rechtsstellung. […]
Die Organe des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, hier die den ,Personal‘ausweis ausstellenden Bediensteten der Gemeinde/Stadtverwaltung selbst organlose Gebilde, juristische, artifizielle Personen/un beseelte Objekte, können und dürfen also nur die Existenz von organlosen juristischen Personen bescheinigen und deren Verwaltungssitz führen. […]
Der 1945 faktisch handlungsunfähig gewordene Staat, einschließlich dessen Rechtsordnung, als gleichwohl von diesem im Fortbestand garantiertes Rechtssubjekt, kann seither seinen als Rechtssubjekten in Latenz fortbestehenden Natürlichen Personen die verfaßten bürgerlichen Rechte weder gewähren noch durchsetzen. […]
Bei Ausstellung von ,Personendokumenten‘ bestätigt seither die (Besatzungs-)Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes somit lediglich die eingetretene und anhaltende Statusminderung, ausgeführt und bewirkt mittels unerlaubter Handlungen von Zielen der Besatzung dienenden Verrichtungsgehilfen (nicht Beamten!), die dafür jedwede Privathaftung nach BGB §823 auf sich ziehen“.
(Schreibweise wie im Original.)

Für ihre Argumentationskette bedienten sich Reichsbürger zwar zum Teil tatsächlich existierender Rechtsnormen, die ihren Schreiben eine juristische Anmutung verleihen sollten, allerdings entfalten klassische Reichsbürgerschreiben keine Rechtsgültigkeit, da die aufgeführten Rechtsnormen häufig aus dem Zusammenhang gerissen sind und in Verbindung mit fiktiven Gesetzen verwendet werden.

„Malta-Masche“ | Reichsbürger und Selbstverwalter versuchten mitunter, sich nicht nur behördlichem Zugriff zu entziehen, sondern ihrerseits Behördenmitarbeiter widerrechtlich zu belangen. Hierfür ­erfanden Reichsbürger und Selbstverwalter im Zuge der „Malta-Masche“ Schulden eines Behördenmitarbeiters und trugen diese in das amerikanische Online-Register Uniform Commercial Code (UCC) ein. Anschließend wurden die Forderungen an ein maltesisches Inkassounternehmen abgetreten, um einen vollstreckbaren Titel nach dem europäischen Mahnverfahren zu erreichen. Nach Ansicht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und des Auswärtigen Amts stellt dieses missbräuchliche Verfahren einen Betrugsversuch dar. Eine Durchsetzung ihrer erfundenen Forderungen gelang Szeneangehörigen bislang nicht.

Deliktfelder | Zu etlichen Reichsbürgern lagen der Polizei Erkennt­nisse zu Gewaltdelikten (Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) vor. Außerdem begingen Reichsbürger Betrug, Hausfriedensbruch, Nötigungen und Sachbeschädigungen. Da Reichsbürger und Selbstverwalter für sich in Anspruch nahmen, eine eigene Staatlichkeit oder ein wie auch immer geartetes Deutsches Reich zu repräsentieren, vergaben sie erfundene Titel und Amtsbezeichnungen, aus denen sie meist entsprechende hoheitliche Befugnisse ableiten. Entsprechend stellten Amtsanmaßung, Urkunden- und Kfz-Kennzeichenfälschung szenetypische Deliktfelder dar. Daneben verstießen einige Reichsbürger und Selbstverwalter gegen das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Fotografie, das Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen, das Waffengesetz sowie das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln.

Gefahr der Gewaltanwendung | Da Reichsbürger und Selbstverwalter die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland bestreiten, lehnen sie jegliche Art von staatlichem Handeln ab. Rechtsansprüche gegenüber Szeneangehörigen mussten die Behörden deshalb meist mittels Zwangsvollstreckung durchsetzen. Die Szene ist außergewöhnlich waffenaffin, sodass die Gefahr besteht, dass sich ihre Angehörigen staatlichen Maßnahmen widersetzen. Dabei richtet sich ihre teilweise erhebliche Gewalt vor allem gegen Gerichtsvollzieher und Polizeibeamte, deren Einsätze sie als „Plünderung“ und „Raub“ ansehen, gegen die „Notwehr“ geboten sei. Dass Reichsbürger und Selbstverwalter bereit sind, dieses selbstdeklarierte „Notwehrrecht“ auch durchzusetzen, zeigen die beiden Vorfälle in Reuden (Sachsen-Anhalt) und Georgensgemünd (Bayern) im August bzw. Oktober 2016. Hier eröffneten zwei Selbstverwalter das Feuer auf Polizeibeamte, als diese Maßnahmen der örtlichen Behörden durchsetzen wollten. Dabei wurden zwei Beamte schwer verletzt. Einer der Beamten erlag später seinen schweren Verletzungen. Das der Szene inhärente Gewaltpotenzial ist nach wie vor als hoch zu bewerten.

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