Rechtsextremismus
Personenpotenzial | Gegenüber dem Berichtsjahr 2017 stieg das rechtsextremistische Personenpotenzial in Hessen mit einer Zunahme von zehn Personen nur marginal an. Die temporäre Steigerung des Personenpotenzials von 2016 (1.335 Personen) bis 2017 (1.465 Personen) kam damit nahezu zum Erliegen.
Rechtsextremistische Musik | Im Berichtsjahr fand in Hessen lediglich ein rechtsextremistisches Konzert statt, das im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) ursprünglich in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) durchgeführt werden sollte. Nachdem die Stadt die Nutzung der Veranstaltungshalle untersagt hatte, verlagerten die Rechtsextremisten das Konzert in den Szenetreffpunkt Teutonicus in Leun (Lahn-Dill-Kreis). Darüber hinaus fanden in Hessen – im internen Kreis – drei weitere rechtsextremistische Musikveranstaltungen statt. Außerdem spielte beim Neujahrsempfang der NPD in Leun ein Liedermacher, der Mitglied einer rechtsextremistischen Band aus Nordrhein-Westfalen war.
Soweit rechtlich möglich, unterbinden die Sicherheitsbehörden rechtsextremistische Konzerte in Hessen. Die mit entsprechenden Inhalten verknüpfte Musik wirkt – neben der im Internet und in den sozialen Medien verbreiteten aktionsorientierten Bildersprache von Rechtsextremisten – wie ein Magnet, durch den sich Jugendliche und junge Erwachsene unter Umständen in die Szene ziehen lassen. Ist dies geschehen, haben sowohl die Bildersprache als auch die Musik eine für Rechtsextremisten identitätsstiftende Wirkung und dienen der szeneinternen Kommunikation.
Nachdem aufgrund der Geldzuwendung eines NPD-Mitglieds die Zwangsversteigerung des Szenetreffpunkts Teutonicus nicht zustande kam, verkündeten dessen Betreiber in einer rechtsextremistischen Zeitschrift, dass sie unter der Bezeichnung „Club H5“ eine Neuausrichtung des Treffs anstrebten. Damit sei künftig auch eine „Veranstaltungsreihe“ in Mittel- und Südhessen sowie im Raum Süddeutschland verknüpft.
Im November durchsuchte die Polizei den Szenetreff im Rahmen verschiedener Ermittlungsverfahren. Fünf Personen wurden festgenommen sowie Waffen, Munition, Betäubungsmittel und nationalsozialistische Devotionalien beschlagnahmt. Außerdem fand die Polizei auf dem Dachboden des Anwesens einen provisorischen Schießstand. Zum Ende des Berichtsjahrs dauerten die Ermittlungen an.
Identitäre Bewegung Deutschland e. V. (IBD)/Identitäre Bewegung Hessen (IBH) | Hessenweit gingen die Aktivitäten der Identitären Bewegung (IB) im Berichtsjahr zurück, obwohl sie sich vor allem im Internet und in den sozialen Medien unverändert „modern“ und „intellektuell“ präsentierte und versuchte, mittels ihrer Bildersprache größtmögliche mediale bzw. öffentliche Aufmerksamkeit zu erringen. Nach wie vor konzentrierte sich die IB im Rahmen ihres „Ethnopluralismus“-Konzepts auf den Protest gegen die Migrations- und Asylpolitik, das heißt sie protestierte – so ihre Diktion – gegen den „großen Austausch“. IB-Angehörige filmten zum Beispiel am Frankfurter Hauptbahnhof und an der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) Aktionen und stellten entsprechende „spektakuläre“ Videos und Bilder im Internet bzw. in den sozialen Medien ein. Nachdem Facebook zahlreiche Accounts von Aktivisten und Regional- bzw. Ortsgruppen der IB gesperrt hatte, verbreiteten die IBD und die IBH ihre Beiträge hauptsächlich über die eigene Homepage und Twitter.
Die Gefahr, die von der IB für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgeht, besteht darin, dass sie sich als elitär-intellektuelle Impulsgeberin geriert. In dieser Rolle versucht sie, Jugendliche und junge Erwachsene über die Grenzscheide, die Demokratie und Extremismus voneinander trennt, zu locken, indem sie rechtsextremistische Inhalte und Begriffe verwischte. Diese Strategie ist umso bedenklicher, als die IB ihre Anhängerschaft vor allem in einem jungen akademisch geprägten Spektrum verortet, das später einmal zu den Entscheidungsträgern in Politik, Staat, Gesellschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur gehören kann.
Neonazis | Die in Hessen mehrheitlich durch regional lose strukturierte Gruppierungen geprägte Neonazi-Szene konzentrierte sich auf öffentlichkeitswirksame propagandistische Aktionen: Das betraf vor allem die Teilnahme an Demonstrationen und das Verteilen von Aufklebern und Flugblättern. Dagegen war die Kameradschaft Aryans überregional bzw. länderübergreifend strukturiert. Zwei ihr zuzurechnende Neonazis, die aus Hessen stammten, wurden zu Freiheitsstrafen jeweils ohne und mit Bewährung verurteilt. Hintergrund waren Ausschreitungen während der rechtsextremistischen 1. Mai-Demonstration der Partei DIE RECHTE in Sachsen-Anhalt im Jahr 2017. Im Berichtsjahr beteiligte sich die Kameradschaft erneut am 1. Mai an einer rechtsextremistischen Demonstration in Thüringen. In Hessen gab es keine öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Aryans.
Die im Verhältnis zum Jahr 2017 gestiegene Anzahl der Gewalttaten verdeutlicht, dass in der Neonazi-Szene eine hohe Gewaltbereitschaft besteht. Um Radikalisierungstendenzen und Gewalttaten rechtzeitig zu erkennen und frühzeitig zu unterbinden, wird das LfV die neonazistische Szene in Hessen auch in Zukunft intensiv beobachten.
NPD | Auch mit dem im Berichtsjahr neu gewählten Landesvorstand war die Partei in Hessen ebenso wenig handlungsfähig wie in der Vergangenheit. Lediglich einige Kreisverbände waren aktiv und traten öffentlich in Erscheinung. Ihre Agitationsschwerpunkte legte die NPD bevorzugt im Internet und in sozialen Netzwerken auf die Themen „Asylmissbrauch“, „Flüchtlinge“ und „Innere Sicherheit“. Letztlich war diese Agitation nicht erfolgreich, da die NPD bei der hessischen Landtagswahl lediglich 0,2% (= 6.190 Zweitstimmen) erreichte. Darüber hinaus ist fraglich, ob es der NPD gelingen wird, den aus diesem Ergebnis resultierenden Verlust der Berechtigung zur Teilhabe an der Parteienfinanzierung und die damit einhergehende finanzielle Schwächung zu kompensieren.
Neben ihrem Wahlkampf mobilisierte die NPD für die Kampagne „Schafft Schutzzonen!“, um angeblich „Sicherheit von Deutschen vor Ausländerkriminalität“ zu schaffen. Hierzu veröffentlichte sie im Internet Anleitungen und bot Utensilien wie Westen, Mützen und Abwehrspray an. Entsprechende „Schutzzonen“-Aktionen führten die NPD und ihre Jugendorganisation in Gestalt von „Streifengängen“ in verschiedenen hessischen Städten durch.
Mit ihrer Umbenennung in Junge Nationalisten (JN) versuchte die NPD-Jugendorganisation (ehemals Junge Nationaldemokraten) einen Neustart zur Lösung ihrer langjährigen personell-strukturellen Probleme einzuleiten. Tatsächlich vermochten die JN in Hessen ihre marginale Mitgliederzahl minimal zu erhöhen. Nachdem – ebenso wie bei der IB – das Facebook-Profil der JN gesperrt worden war, wichen sie in Hessen auf das Facebook-Profil der NPD aus.
Unter dem Motto „Lieber ungezogen, statt umerzogen“ versuchten die JN den Landtagswahlkampf der NPD zu unterstützen und richteten die Homepage schuelersprecher.info ein. An Schulen verteilten JN-Aktivisten Flyer und brachten Plakate an. Außerdem wurde eine neue Version der früheren „Schulhof-CD“ als im Internet herunterladbare Datei angeboten. Sie enthielt Musik rechtsextremistischer bzw. rechtsextremistisch beeinflusster Bands und Liedermacher sowie verschiedene Imagevideos der JN.
Der Dritte Weg/Der III. Weg | Vergleichbar zu der NPD und den JN bildete die vor allem gegen Flüchtlinge gerichtete Fremdenfeindlichkeit einen maßgeblichen Agitationspunkt bei der Partei Der Dritte Weg. Mittels Flugblattverteilungen thematisierte Der Dritte Weg – in seiner Wortwahl wesentlich prononcierter als die IB („großer Austausch“) – den angeblich „drohenden Volkstod durch Überfremdung“. Die Tötung einer 14-jährigen Schülerin in Wiesbaden (ein Asylbewerber wurde als Täter ermittelt) versuchte Der Dritte Weg für seine Zwecke zu instrumentalisieren und die Bevölkerung in fremdenfeindlicher Weise zu emotionalisieren. Außerdem agitierte Der Dritte Weg gegen den „Kapitalismus“ und veranstaltete am 1. Mai in Sachsen einen „Arbeiterkampftag“, dem in verschiedenen hessischen Gemeinden eine „antikapitalistische“ Kampagne vorausgegangen war.
Darüber hinaus wies der stellvertretende Vorsitzende des Dritten Wegs im Internet auf die Notwendigkeit hin, sich mit Kampfsport zu beschäftigen: Noch sei man nicht in der Lage, die „Kultur der Verweichlichung und des Pazifismus gesamtgesellschaftlich abzulösen, aber wir können bereits heute uns selber wehrhaft machen und damit dazu beitragen, einmal das ganze Volk wieder wehrhaft zu machen“. Mit seiner Betonung der Relevanz von Kampfsport griff Der Dritte Weg offensichtlich auf den im Jahr 2013 etablierten rechtsextremistischen „Kampf der Nibelungen“ zurück. Mit dem Kampfsport-„Event“ wollten die damaligen Veranstalter dem „faulenden politischen System […] der Versager, der Heuchler und der Schwächlinge“ eine wehrhafte „Alternative zum vorherrschenden ehr- und wertelosen Zeitgeist“ entgegensetzen, was – ebenso wie beim Dritten Weg – auf die Vermittlung von „Gewaltkompetenz“ hinausläuft.
Ähnlich offensiv erklärte Der Dritte Weg im Internet im Kontext der in Politik und Öffentlichkeit vielfach erörterten Demonstration am 27. August in Chemnitz (Sachsen) anlässlich der Tötung eines 35-Jährigen: „Der Kampf wird sich auf absehbare Zeit noch verschärfen, und zwar in dem Maße, je mehr die Politisierung der Massen zunimmt und sich immer mehr von der bürgerlichen Mitte in die radikalen Richtungen entwickeln“. Dabei betonte die Partei, als antidemokratische avantgardistische „Kampfgemeinschaft“ wirken zu wollen: „Stets haben entschlossene Minderheiten über den Verlauf von großen Ereignissen entschieden, die Masse folgt“. Die nächsten Jahre gelte es zu nutzen: „Schaffung von Infrastrukturen, Kaderbildung, Vernetzung“. Bereits der nationalsozialistische Agitator Joseph Goebbels hatte 1927 von der „verantwortlichen Minderheit“ gesprochen, deren Aufgabe es sei, den Staat umzugestalten (s. oben das Kapitel Verfassungsschutz in Hessen).
Virulente Gefahr eines Rechtsterrorismus | Dass sowohl vor als auch nach der Urteilsverkündung des Oberlandesgerichts (OLG) München im Juli im sogenannten NSU-Prozess die Verbrechen der Terrorgruppe in der rechtsextremistischen Szene mehrheitlich keine „positive“ Resonanz erfuhren, schließt eine eventuelle „Vorbildfunktion“ des NSU für andere Rechtsextremisten nicht aus. Rechtsextremistische Gewaltpotenziale stellen – wie oben dargelegt – weiterhin eine hohe Gefahr für Leib und Leben dar.
Daher setzen die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder die intensive Beobachtung der neonazistischen und grundsätzlich gewaltbereiten sowie waffenaffinen Szene fort, um mögliche Radikalisierungstendenzen bis hin zum Rechtsterrorismus frühzeitig zu erkennen und die hierfür zuständigen Behörden rechtzeitig zum Zweck der Strafverfolgung zu informieren.
Flüchtlinge im Visier von Rechtsextremisten | Insgesamt nahm in Hessen die Zahl der Straftaten (38) im Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik gegenüber dem Vorjahr (2017: 54) deutlich ab. Im Unterschied zu den Vorjahren waren sämtliche Straftaten dem Bereich Politisch motivierte Kriminalität (PMK) – rechts – zuzuordnen. Damit bestätigt sich die Einschätzung, dass Fremdenfeindlichkeit ein unabdingbarer Bestandteil des Rechtsextremismus ist, aber auch – wie vor 2018 – in Teilen der nichtextremistischen Bevölkerung grassieren kann, wenn (etwa in der Wahrnehmung der Täter) die sozialökonomischen und politischen Verhältnisse massiven Änderungen unterworfen sind.